1. April 2001 Redaktion Sozialismus
Rot-Grün vor dem ökonomisch-politischen Sturm?
Auf den internationalen Finanzmärkten hat sich in den letzten Wochen der »Crash in Raten« beschleunigt. Die Börsen und Wertpapiermärkte haben seit dem Höhepunkt des Booms im Februar/März 2000 infolge der Konjunkturabschwächung in den USA und Japan Kursverluste zwischen 20-30% zu verzeichnen. Für die Titel der »New Economy« wird eine Entwertung von ca. 80% ausgewiesen. Im Unterschied zu früher hat der Crash bislang keine Panik ausgelöst. Andrew Crocket, Generaldirektor der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und Vorsitzender des 1999 nach den letzten Finanzkrisen geschaffenen Financial Stability Forum, fasst die derzeitige Stimmung so zusammen: »Die Schwäche an den Finanzmärkten ist ein ernster Hinweis auf das sinkende Vertrauen der Anleger in die wirtschaftliche Entwicklung. Es bestehen Risiken, dass dieses sinkende Vertrauen negative Folgen für die Wirtschaft hat.«
Binnen weniger Wochen hat sich das Klima in der Weltwirtschaft spürbar abgekühlt. Die meisten Konjunkturforschungsinstitute haben ihre Wachstumsprognosen deutlich zurückgenommen. Für die Bundesrepublik Deutschland ist im laufenden Jahr nur noch mit einem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts von ca. 2% zu rechnen – ein Wert, der vermutlich weiter zurückgenommen werden muss.
Die rot-grüne Bundesregierung wendet sich gegen »übertriebene Schwarzmalerei« und macht auf »Optimismus«: Das Wirtschaftswachstum sei robust und die Stimmung aufwärts gerichtet. Die Regierung rechne bei einem Wirtschaftswachstum von 2,75% mit einem weiteren Rückgang der Arbeitslosen auf jahresdurchschnittlich 3,5 Millionen. Wer, wie die Opposition, pessimistische Zukunftsprognosen erstelle, provoziere Kaufzurückhaltung bei Bürgern und Unternehmen und sei letztlich dafür verantwortlich, wenn die Ziele nicht erreicht würden.
Die Fakten sehen anders aus:
Der Lokomotive der Weltkonjunktur ist der Dampf ausgegangen. Die US-Wirtschaft ist nach einer langen Prosperitätsphase auf dem Weg zur Talsohle; ob diese bei einem Wachstumsniveau von Null liegt, ist völlig offen. Die meisten Unternehmen korrigieren ihre Gewinnerwartungen und in Teilbereichen zeichnen sich nach einem Rückgang der Kapazitätsauslastung und des Lageraufbaus eine Stilllegung von Kapazitäten und Massenentlassungen ab.
Der japanische Finanzminister spricht angesichts einer anhaltend deflationär-depressiven Konjunktur davon, dass sich die öffentlichen Finanzen »nahe dem Kollaps« befinden. Seit dem Platzen der spekulativen Finanzblase 1990/91 ist trotz einer gigantischen Kapitalvernichtung der Unternehmens- und Bankensektor immer noch mit einem Berg von Wertberichtigungen belastet und ein Dutzend Konjunkturprogramme in den letzten Jahren konnten das Land nicht aus der deflationären Krisenspirale herausholen.
In einer Reihe von »Schwellenländern« des kapitalistischen Weltsystems – Türkei, Argentinien, Brasilien – ziehen erneut massive Konjunktur- und Finanzprobleme herauf. Noch ist unklar, wie das erforderliche »fresh money« aufgebracht werden kann. Der neoliberale Hardliner Meltzer verweist bereits auf die Notbremse: »Wenn die Türkei für die NATO, insbesondere für die Vereinigten Staaten, eine entscheidende strategische Rolle spielt, dann sollen die NATO-Staaten auch der Türkei bei ihrer Krise helfen.«
Schenkt man den EU-Regierungschefs Glauben, dann sollen alle diese Faktoren keinen Einfluss auf die Wirtschaft in Euroland haben. Die deutsche Bundesregierung ist sogar davon überzeugt, die privaten Haushalte durch ihre Steuer»reform« derart großzügig entlastet zu haben, dass ein temporärer Rückgang der Exporte ohne weiteres kompensiert werden kann. Die Realität sieht anders aus. »Die Eintrübung der Konsumkonjunktur in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres war im Ausmaß überraschend«, stellt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung fest. »Noch zu Jahresbeginn 2001 war für das zweite Halbjahr 2000 eine reale Ausweitung des privaten Konsums um 1,8% geschätzt worden... Offensichtlich hatten sich die Rahmenbedingungen für den Konsum stärker verschlechtert als seinerzeit angenommen.« D.h.: Die Steuerentlastung hat keine Verbrauchsgüterkonjunktur losgetreten; stattdessen schlagen im ersten Quartal 2001 die dämpfenden Effekte der schwindenden Exportkonjunktur negativ zu Buche.
Die Passivität der Politik in den Metropolen steht in scharfem Kontrast zur Verschlechterung der weltwirtschaftlichen Konstellation. Für sich genommen ist eine drastische Bereinigung der spekulativ verzerrten Börsennotierungen von Eigentumstiteln und Immobilienpreisen unvermeidlich; dies wäre die Grundlage für eine neuerliche Entfaltung der Akkumulationsdynamik. Wenn aber mit Japan eines der kapitalistischen Hauptländer seit einem Jahrzehnt aus den Trümmern einer geplatzten Finanzblase nicht herausfindet und sich jetzt in Nordamerika eine ähnliche Zuspitzung bei der Entwertung von fiktivem Kapital anbahnt, dann schlägt die Passivität der Regierungen in krisenverschärfendes Verhalten um. Es geht nicht um einen wie auch immer gearteten Zusammenbruch des kapitalistischen Weltsystems, sondern darum, welche politischen Konstellationen sich im Prozess einer schweren ökonomisch-sozialen Krise herausbilden.
In den USA gehört die Gefahr der Rezession mittlerweile zum taktischen Spiel. Während die oppositionellen Demokraten der neuen Administration vorwerfen, eine Wirtschaftsrezession herbeizureden, hebt Präsident Bush die negativen Daten hervor, um sich später umso wirkungsvoller als Aufklärer und Sanierer präsentieren zu können. Die Bush-Administration setzt zum einen auf die Zinssenkungspolitik der Notenbank und auf ihr Steuersenkungsprogramm; davon sind mittlerweile 5,6 Mrd. $ verabschiedet; insgesamt soll – rückwirkend in Kraft gesetzt – bereits in 2001 eine Entlastung in Höhe von 60 Mrd. $ erfolgen, gleichsam als erste Tranche des Gesamtpakets von 1,5 Billionen. Doch dieses Programm ist stark auf die höheren Einkommen ausgerichtet, was die konsumtiven Effekte schmälert. »Die Bevölkerung der USA besteht zu 80% aus Menschen, die weniger als 50.000 Dollar Jahreseinkommen haben, aber bei den Präsidentschaftswahlen im November 2000 kamen von dieser ›realen‹ Mehrheit erstmals weniger als die Hälfte der Stimmen.« (B. Ehrenreich, Die kleinen Leute als Komparsen, in: Le Monde diplomatique, März 2001, S. 2.) Statt antizyklisch zu wirken, könnte die Politik der Bush-Administration auf eine Verschärfung der Rezession hinauslaufen, wenn öffentliche Ausgaben aufgrund der Steuerausfälle eingeschränkt werden und gleichzeitig die Steuergeschenke an die Besserverdienenden nur deren Sparquote bzw. deren Vermögensanlage verbessern.
Die ungebrochene Dominanz des Dollars macht sich gerade im aktuellen Periodenwechsel des Konjunkturzyklus geltend. Angesichts hoher Inflationsraten in vielen Weichwährungsländern und wachsender Befürchtungen, Wertverluste zu erleiden, wird verstärkt nationales Geld durch den amerikanischen Dollar ersetzt.
Noch glauben die Europäer, sich außerhalb der nordamerikanischen und ostasiatischen Gewitterzonen zu befinden. Tatsächlich ist die europäische Wirtschaft mit einem Exportanteil von 17% jedoch weitaus stärker von den sich abzeichnenden rezessiven Entwicklungen abhängig. Europa hätte durchaus Chancen, sich gegenüber den mächtigen Turbulenzen von Wertpapierverlusten, rezessiven Trends und Währungsspekulationen am Rande des Geschehens zu halten – doch nur unter der Bedingung, dass eine kohärent auf die Binnenwirtschaft zielende Expansionspolitik eingeleitet wird.
Doch die EU-Finanzminister bleiben bislang bei ihren Statements, an der Sparpolitik festhalten zu wollen. So will Bundesfinanzminister Eichel bis 2006 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt zur Verabschiedung vorlegen. Auch seine Steuersenkungspolitik begünstigt die Konzerne, Aktionäre, Topverdiener (und eingeschränkt Familien), während die Klein- und Mittelunternehmen sowie die unteren und mittleren Einkommen das Nachsehen haben. Angesichts des düsteren Konjunkturhimmels wird Liquiditätshaltung und Sparen sicher verstärkt werden. In dieser Konstellation könnte es schnell zur wechselseitigen Verstärkung negativer Effekte kommen: geringeres Wirtschaftswachstums lässt die Steuereinnahmen sinken (schon jetzt ist die Rede von einem Ausfall von 5 Mrd. DM); bei weiterhin hoher Produktivität entschwindet das Ziel von 3,5 Millionen Arbeitslosen in der Ferne; stattdessen geraten die Sozialetats erneut unter Druck, weil die Erträge aus Lohnnebenkosten und Ökosteuer sinken, während die krisenbedingten Ausgaben steigen. Der Finanzminister und die rot-grünen Haushaltsexperten räumen ein: Es gibt Risiken für die öffentlichen Finanzen. Setzt sich die Stimmungsverschlechterung in der Wirtschaft fort, muss auch der Finanzminister seine Haushaltspolitik überdenken.
Zum Elend von Kapitalvernichtung auf den Finanzmärkten, Dämpfung des Wirtschaftswachstums und Löcherstopfen bei den öffentlichen Finanzen kommen Ausgaben für die Landwirtschaft infolge von BSE-Krise und MKS-Seuche in Milliardenhöhe. Kanzler Schröder proklamiert den Kurswechsel in der Landwirtschaftspolitik, wozu allerdings das Geld fehlt – ganz abgesehen davon, dass auch die konzeptionelle Kehrtwende problematisch ist.
Die neue Ministerin für Verbraucherschutz packt die neue Philosophie in die Formel: »Qualität kaufen, grün wählen«. Doch hatte sie damit beim Wahlvolk in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz keinen durchschlagenden Erfolg. Die Grünen sind immer noch dabei, sich politisch »neu zu erfinden«. Sie werden bei dieser Umhäutung aber von deutlich weniger WählerInnen, vor allem aus den jüngeren Generationen, unterstützt.
Hatten die Grünen in den zurückliegenden Jahren sich eine Ahnung davon erhalten, dass die Option »Qualität kaufen« zum einen etwas mit gesellschaftlichem Wissen und Bildung, zum anderen aber auch viel mit den Einkommens- und Verteilungsverhältnissen zu tun hat, so haben sie diese Erkenntnis endgültig an die CDU/CSU abgetreten. Schon die später kassierte Formel für die Erhöhung der Benzinpreise enthielt die Absage an die überlieferte fordistische Massenkonsumtion. Jetzt hat sich das Credo von einer naturnahen Lebensmittelproduktion als programmatische Generallinie durchgesetzt. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit wird die Ökologisierung der Landwirtschaft freilich noch etwas auf sich warten lassen, weil – vom Verbraucher her gedacht – die Preisstruktur der zu konsumierenden Waren ein wichtiges Kriterium für die schließliche Kaufhandlung ist. Gesunde Ernährung und artgerechte Tierhaltung sind populäre Themen, aber in der kapitalistischen Ökonomie entscheidet vor allem die Produktivitätsentwicklung über das Preisangebot. Es ist wie bei Gesundheit, Bildung oder Kultur: selbstverständlich weist die überkommene Massenproduktion und -konsumtion erhebliche Defizite, Fehlentwicklungen und destruktive Wohlstandseffekte auf. Aber die seit den 80er Jahren sukzessiv eingeschlagene politische Richtung setzt nicht auf öffentliche oder gesellschaftliche Lösungen, sondern auf eine engere Verknüpfung von Einkommen und Konsum. Optimale Versorgung im Krankheitsfall, kostenlose Ausbildung und Bildung sowie ein breites Angebot an sozial-kulturellen Dienstleistungen gehören der Vergangenheit an – medizinische Versorgung, Bildung und Kultur werden verstärkt wieder zu sog. Messer- und Gabelentscheidungen. Der Kampf um eine ökologische Neuausrichtung der Landwirtschaft soll nicht mehr als gesellschaftliches Problem, sondern vom Verbraucher und seinen Einkommensverhältnissen her aufgezogen werden.
In einer Gesellschaft mit voll entwickeltem Geldsystem regiert die bürgerliche Gleichheit der Individuen. Soweit sie über genügend Geld verfügen – was auch immer ihre Einkommensquelle sei –, können sie es in stofflichen Reichtum umsetzen. In welcher Weise das bürgerliche Individuum mit Kaufkraft oder Geld ausgestattet ist, hängt von seiner »Leistung« – sprich: von seinen Arbeitsverhältnissen – ab, sofern er nicht Shareholder, ist, der sein Geld »arbeiten« lassen kann. Im Akt des Kaufens fällt der spezifische Hintergrund der Einkommensquelle weg, alle Klassenkostüme lösen sich auf und verschwinden in der Kategorie des Verbrauchers. Wenn jemand Schwierigkeiten hat, angesichts geringen Haushaltseinkommens vom Massenwohnen, Massenkonsum oder Massentourismus weg zu kommen, dann ist das sein Problem. Wer gesundheitlich unbedenkliches Fleisch essen will, muss mehr bezahlen. Da Energierohstoffe in ihrem Vorkommen begrenzt sind und zudem die Umwelt schädigen, muss eben über die Erhöhung des Preises der Konsum gesteuert werden. Ökologische Modernisierung des Kapitalismus, diese früher noch umstrittene Formel, ist in der grünen Partei mittlerweile der flügelübergreifende programmatische Grundsatz. Zu Recht bringt der Parteivorsitzende Kuhn die vermeintliche Lust an der Erneuerung des Programms von 1980 in die Formel: »Ökologie war früher ein Thema des Warnens, heute ist es ein Winner-Thema.« Der früheren Rhetorik von der Ressourcen-Knappheit und dem anstehenden Weltuntergang wird man keine Träne hinterher weinen, aber der Verzicht auf gesellschaftlich-politische Auseinandersetzungen um neue Regulierungs- und Steuerungskonzeptionen zugunsten der bürgerlichen Gleichheit im Tauschakt ist in der Tat eine Rückkehr in das Zentrum der kapitalistischen Gesellschaft. Allerdings bemühen sich auch die anderen Parteien um das »Winner-Thema«. Wie bei der NATO-Mitgliedschaft, dem geplanten Raketenabwehrsystem und Rüstungsexport, der Neuausrichtung der Energiewirtschaft oder der Senkung der Lohnnebenkosten sind jetzt die »Winner« wieder unter sich. Sobald aber die Energie- und Agrarwende keine Schlagzeilen mehr hergeben, wird es wahlpolitisch weiterhin eng werden.
Die Grünen haben seit ihrer programmatischen Neuausrichtung deutlich an Wählerzustimmung verloren. Wenn Rot-Grün die sich abzeichnenden ökonomisch-finanziellen Turbulenzen einigermaßen bewältigt, kann es im Wahljahr 2002 durchaus zu einem knappen Sieg und damit zu einer Fortsetzung der Koalition reichen. Fallen die ökonomischen Verwerfungen heftiger aus, bestimmen höhere Arbeitslosenzahlen und Haushaltsnotpläne die zweite Hälfte der Legislaturperiode, ist die Verteidigung der Hegemonie durch die modernisierte Sozialdemokratie und einen grünen Wurmfortsatz keineswegs gesichert.