1. Oktober 2004 Redaktion Sozialismus

Ruhe im Land?

Bei den Urnengängen im September – Landtagswahlen im Saarland, in Sachsen und Brandenburg, Oberbürgermeisterwahl in Saarbrücken und Kommunalwahlen in NRW – sei eine Trendwende für die Sozialdemokratie sichtbar geworden, so die zentrale These der SPD-Parteiführung. Wenn die Partei kämpft, sich der Kritik großer Teile des eigenen Wählerklientels aussetzt, zu den beschlossenen Einschnitten in das soziale Netz steht, dann ließen sich die Wahlverluste in Grenzen halten, Vertrauen in der Bevölkerung und Zuversicht im Parteivolk zurückgewinnen.

Bundeskanzler Schröder: "Das eigentlich Entscheidende ist, dass die SPD gut abschneiden kann, wenn sie den Reformkurs der Bundesregierung entschieden verteidigt ... Es ist Ruhe in die Partei eingekehrt, was auch mit wachsender Akzeptanz des Kurses der Bundesregierung zusammenhängt. Auch der gesellschaftliche Widerstand gegen die Reformen ist zurückgegangen."

Der Triumph ist unüberhörbar, den Widerstand gegen die Politik der Agenda 2010 in der Sozialdemokratie, in den Gewerkschaften und in der Zivilgesellschaft zurückgedrängt zu haben. Die Etappe ist noch nicht zu Ende, kündigt Schröder an: "Es hilft nichts: Der Kurs muss weitergehen." Deutlicher als je zuvor wird jetzt auch ausgesprochen, der Sozialstaat werde bis in die Mittelschichten hinein missbraucht. Im Gestus vermeintlicher Selbstkritik fügt der Kanzler hinzu: "Vielleicht hätte ich hinzufügen müssen, auch die Oberschichten ... Diese Mentalitäten müssen wir brechen, wenn wir das soziale System in Deutschland soweit wie möglich aufrecht erhalten wollen."

Ist die These von der Trendwende und der Überwindung größeren gesellschaftlichen Protests eine zutreffende Einschätzung?

Richtig ist, die Regierung überzieht die Republik mit einer beispiellosen Propaganda-Kampagne. Die bürgerlichen Parteien CDU/CSU und FDP protestieren einhellig: Diese Öffentlichkeitsarbeit sei ein verfassungspolitischer Skandal und eine Veruntreuung von Steuergeldern. Die Regierungskoalition setzt große Summen ein, um bei der Gesundheits"reform" und den "Reformen" des Arbeitsmarktes nachzuweisen, dass sie sozial ausgewogen sind und wirken. In der Tat sind die roten Bilanzzahlen bei den gesetzlichen Krankenkassen zwischenzeitlich schwarz eingefärbt worden. In den Betrieben ist der Krankenstand auf ein historisch niedriges Niveau gedrückt worden, die Ärzte verzeichnen deutlich weniger Praxisbesuche, es werden weniger Arzneimittel verschrieben etc. Aber ist die Tatsache, dass Kranke mehr zuzahlen müssen und weniger ärztliche Dienstleistungen in Anspruch nehmen, ein akzeptabler Maßstab für eine "Reform" der "Krankenversicherung"?

Regierung und SPD-Führung polemisieren gegen vermeintliche Falschaussagen der Kritiker von Hartz IV: "Mehr als 1 Million Menschen – nämlich alle erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger – stellen sich besser als zuvor." Das Problem, dass Einmalzahlungen (Beihilfen) für Sozialhilfeempfänger bei der Pauschalierung wegfallen, wird vom Tisch gefegt. Vier Fünftel der 3,4 Millionen Menschen, die ab Januar 2005 auf den Status einer Unterstützung nach Bedürftigkeitsprüfung (ALG II) gesetzt werden, werden sich finanziell verschlechtern – und weit über eine halbe Million Langzeitarbeitslose werden ganz aus dem Leistungsbezug herausgekickt.

Bundesregierung und SPD-Führung triumphieren, sie hätten den Gewerkschaften und ihren Verbündeten den politischen Schneid abgerungen. Bsirske und Peters müssen sich von den Basta-Propagandisten anhören: "Sie dürfen nicht punktuell agieren und sollten sich ihre Bündnispartner sehr sorgfältig aussuchen ... Auch haben die Gewerkschaften erkannt, dass in weiten Teilen der Bevölkerung die Reformbereitschaft wächst."

Richtig ist, dass das anvisierte breite gesellschaftliche Bündnis aus diversen sozialen und politischen Kräften in der Organisation des Widerstandes gegen die Praxisgebühr, gegen die Verschleppung der Ausbildungsplatzabgabe, gegen die Verlängerungen der Arbeitszeiten, gegen die Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und gegen die Verarmung weiterer Teile der Bevölkerung deutliche Schwächen sowohl inhaltlicher wie organisationspolitischer Art zeigt. Und wie so oft, wenn man ins Stocken gerät, sorgen politische Sektierer dafür, dass man strauchelt. Die Gewerkschaft ver.di hat erklärt, nicht mehr an den wöchentlichen Kundgebungen gegen die Arbeitsmarktreform teilnehmen zu wollen: Zwar seien die Proteste grundsätzlich sinnvoll, doch der Streit unter den veranstaltenden Gruppen – z.B. der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands – sei nicht mehr zu verantworten. Einigen linksradikalen Gruppierungen geht es nicht um ein breites gesellschaftliches Bündnis, sondern um die Befriedigung ihrer chronischen Profilneurosen.

Gewerkschaftern, die grundsätzlich oder angesichts neuer Erfahrungen zivilgesellschaftlichen Bündnissen mit Skepsis gegenübertreten, werden mit Bürgerversicherung und gesetzlichem Mindestlohn Kooperationsangebote unterbreitet. Sie werden aufgefordert, sich dem TINA-Zug anzuschließen, um ihrer gesellschaftlichen Isolation zu entgehen. Die These, dass "die Reformbereitschaft wächst", kommt in einem Dreischritt der Selbstsuggestion daher: 1. Zur Agenda 2010 gibt es keine Alternative, das sei auch Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung. 2. Ablehnung sei ein verständlicher erster Impuls, wenn man selbst negativ betroffen sei – geduldige "Kommunikation" und "Aufklärung" sorgen nach einer gewissen Zeit aber wieder für Einsicht in die unabänderlichen Notwendigkeiten. 3. Wer dann immer noch beiseite steht, sei ein Sozialschmarotzer, Mitnehmer, im wahrsten Sinne des Wortes "Asozialer". Mit diesem Dreischritt redet sich die SPD "Neue Stärke" ein und lässt ihre Propagandamaschinerie – nicht zuletzt in Richtung der gewerkschaftlichen Basis in den Betrieben – auf Volldampf laufen. Doch was als Argumentationsbausteine daherkommt, lässt eine abgehobene Sicht auf die soziale Wirklichkeit deutlich werden. Die wichtigsten Argumente:

  Die Hartz-Gesetze waren nie als Arbeitsplatzschaffungs-Programm angelegt. Die Erwartung der Hartz-Kommission war, verstärkten Druck auf Arbeitslose und beschleunigte Vermittlung in einer Situation des Aufschwungs auf dem Arbeitsmarkt vornehmen zu können. Wenn es aber weiterhin keine neuen Arbeitsplätze gibt, bleibt vom Fördern nichts übrig und Fordern gerät zu einer repressiven Veranstaltung. In den Worten des DGB-Chefs Sommer: "Es wird zu einem dauerhaften Mentalitätswandel führen, der dem sozialen Zusammenhalt in diesem Land nicht gut tun wird."

  Es bleibt bei der Grundthese, dass der Sozialstaat keineswegs wegen seiner "Ausnutzung" durch die unteren und mittleren sozialen Schichten in der Krise ist und um- bzw. abgebaut werden müsse. Diese "Reformlüge" wird durch stete Wiederholung nicht überzeugender. Die sozialen Sicherungssysteme geraten in Turbulenzen, weil die Verteilungsverhältnisse seit Jahrzehnten zugunsten der Vermögens- und Kapitaleinkommen verschoben werden, weil dadurch der Binnenmarkt massiv beschädigt wird, die Massenarbeitslosigkeit hoch bleibt und die prekären Beschäftigungsverhältnisse ausgeweitet werden. Bei den lohnbasierten Sicherungssystemen geraten so die finanziellen Fundamente ins Wanken – keineswegs wegen überzogener Ansprüche.

  In der Tat hätte der Kanzler die Oberschichten und ihre Mitnahmementalität ansprechen müssen. Die steuerlich verstärkte Umverteilungspolitik zu den Unternehmen und den Vermögenseinkommen ist die Grundlage einer falschen und sozial ungerechten Wirtschaftspolitik.

  Es ist keineswegs Ruhe eingetreten in der Berliner Republik. Die Wahlen haben den rassistisch-rechtsextremen Bodensatz der Gesellschaft (ca. 15%) auf die politische Bühne geschwemmt. Kurzzeitig stimmen die wirtschaftliche Elite und die erdrückende Mehrheit der politischen Klasse Klagelieder an. Was ist die Erfahrung des Politologen Stöss? "Erst herrsche Überraschung, dann werde gefragt, was dagegen getan werden könne, dann entstehe eine Debatte über die einzuschlagenden Wege und sobald sich die Parteien in der Parlamentsarbeit zerfleischten und sich nicht einigen können, tritt Ruhe ein."

Wahlergebnisse geben Aufschluss über die politischen Willens- und Kräfteverhältnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt. Momentan ist die SPD-Führung bestrebt, die Stimmung in den eigenen Reihen zu heben, Zuversicht zu vermitteln, um so wieder positiv in die Gesellschaft ausstrahlen zu können. Sie agiert dabei mit dem Versprechen, dass sich die dunklen Wolken auf dem Arbeitsmarkt verziehen werden, dass der Beitragsanstieg in der Gesetzlichen Krankenversicherung gestoppt und die Rente wieder sicher sei. Kurzum: Die Republik sei auf den Weg gebracht, den Mega-Herausforderungen Globalisierung und Demographie zu begegnen. Zwar wird immer wieder betont, dass die Politik der Agenda kein Kurzfrist-, sondern ein Langfristprogramm ist, aber im Vorwahljahr 2005 soll das "Reformtempo" zunächst einmal gedrosselt werden. Verbessert sich dann die Lage, bekommt die Stimmung neuen Schub – und eine konzeptionell ausgezehrte und sich in Widersprüchen verheddernde politische Opposition weiteren Gegenwind. – So versucht man sich gegenwärtig aus dem Tal der Tränen herauszureden.

Dagegen steht: Die sich abzeichnende Konjunkturentwicklung wird für keine Entspannung auf dem Arbeitsmarkt sorgen. Bei hoher Arbeitslosigkeit und stagnierender Reallohnentwicklung bleibt die Finanzsituation der Sozialkassen angespannt bis kritisch. Die Bevölkerung wird nicht mit der Agenda versöhnt, allerdings auch nicht zur politischen Rebellion motiviert. Die Stimmung wird von politischer Abstinenz und weiter wachsender Parteienverdrossenheit bestimmt. Das sich massiv ausbreitende Misstrauen in die gesellschaftlichen Institutionen stellt eine ungeheure Herausforderung dar, weil damit gerade jene kollektiven Strukturen zerstört werden, die das Terrain, die Ansätze und Hebel bieten, mit denen die Problemlagen bewältigt werden könnten. Diese Entwicklung verheißt nichts Gutes, wenn diejenigen, die den Rassismus und Rechtsextremismus kritisieren, nicht mit der gleichen Schärfe die Bedingungen verurteilen, die eben diesen Rassismus fördern, also all das, was Unsicherheit erzeugt und Angst hervorruft.

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