1. Juni 2007 Bernhard Sander

Sarkozy und die Hegemonie des französischen Neoliberalismus

"Ich werde die V. Republik verteidigen, aber die Verfassungspraxis, das politische Verhalten und die Mentalitäten verändern." (Nicolas Sarkozy, FAZ, 16.5.2007) Mit dieser Position hat sich der neue französische Präsident eindeutig gegen seine Konkurrentin Ségolène Royal gestellt, die im zurückliegenden Wahlkampf sehr deutlich gesagt hat, dass sie die politischen Institutionen der fünften Republik für ausgehöhlt und erschöpft hält und über ein Referendum des Volkes den Übergang in eine sechste Republik vollziehen wollte.

Sarkozy hat im Präsidentschaftswahlkampf klargestellt, dass es um zwei Konzeptionen des Staates, um zwei Wertsysteme gehe: die Erneuerung der V. Republik und der dieser politischen Konstruktion unterliegenden ökonomisch-sozialen Basis, oder aber eine neue politische Verfassung, in der alle sozialen Gruppierungen sich mit ihren Interessen und Wünschen in die politische Willensbildung einbringen können. Sarkozy betonte die große Aufgabe der Rückkehr zu ökonomischer Prosperität und einer grundlegenden Erneuerung der Welt der Arbeit. Er werde der Präsident sein, der die Franzosen gegen Gewalt, gegen Unternehmensverlagerung und soziale Ausgrenzung schütze. Am Abend des ersten Wahlgangs sagte er: "Ich will zu den Arbeitern sprechen, zu den Bauern, zu jenem Frankreich, das soviel gibt und niemals etwas dafür bekommt. Ich will reden von der Identität, der Autorität, der Arbeit, der Leistung. Ich will allen Franzosen, die Angst haben, sagen, dass ich sie beschützen will." Die Arbeit müsse wieder Sicherheit garantieren und ihren ursprünglichen ideell-kulturellen Wert erhalten. Die Kaufkraft werde gestärkt, wenn sie von Sozialabgaben befreit, die Unternehmen von der Umklammerung durch den Kündigungsschutz und gesetzlicher Arbeitszeitverkürzung entlastet und die Menschen neben der Rente, dem Studium usw. hinzuverdienen. Weiter plädiert er für die Absenkung der direkten Steuern auf 50% des Einkommens und eine Absenkung der Körperschaftssteuer um fünf Punkte.

Der neue Präsident will nicht nur, wie sein Vorgänger Chirac es fälschlicherweise versprochen hatte, die soziale Spaltung (fracture sociale) überwinden, sondern mit jener politischen Konzeption aufräumen, die für den Verfall der Welt der Arbeit verantwortlich sei. Vor dem zweiten Präsidentschaftswahlgang hatte er angekündigt, sich offensiv mit dem Erbe von 1968 auseinanderzusetzen. "Mai 68 hat uns einen moralischen und geistigen Relativismus aufgenötigt (…) und die Idee, alles sei gleichwertig, als gäbe es keinen Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen, dem Schönen und dem Hässlichen. Der Kult des Geldes, des kurzfristigen Gewinns, der Spekulation wie die Abwege des Finanzkapitalismus sind durch die Werte von Mai 68 vorangebracht worden. Diese Linke ist auf den Geschmack gekommen, der Macht, der Privilegien. (…) Sie liebt die Idee der Nation nicht, weil sie keine Lust hat, zu teilen. Die, die damals schrieen 'CRS-SS', ergreifen heute systematisch die Partei von Strolchen, Plünderern und gegen die Polizei." (Sarkozy, zitiert in Humanité, 2.5.2007)

Die Auseinandersetzung mit der Bewegung von 1968 ordnet sich ein in eine Beschäftigung mit der Programmatik der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts. Sarkozy verblüfft die Linke, indem er in Wahlkampfreden auf Gramsci zurückgreift und dieser Bezug ist keineswegs nur politische Effekthascherei. "Die bürgerliche Klasse setzt sich selbst als einen in beständiger Bewegung befindlichen Organismus, der in der Lage ist, die gesamte Gesellschaft aufzusaugen, indem er sie seinem kulturellen und ökonomischen Niveau angleicht: die gesamte Staatsfunktion wird transformiert: der Staat wird ›Erzieher‹." (Gramsci, Gefängnisheft 8 §2) An diese progressive Funktion der Bourgeoisie versucht Sarkozy zu erinnern. Angesichts des verbrauchten Personals, der "Bussi-Gesellschaft" seiner Entourage und der sich abzeichnenden Selbstbedienungsmentalität beim Ausverkauf des staatlichen, also gesellschaftlichen Eigentums sind allerdings Zweifel angebracht. Es könnte schnell zu einem Stopp dieser pädagogischen Funktion und zu einer Hinwendung zu Zwangsmitteln kommen. Gramsci deutete diese Entwicklung an: "Die bürgerliche Klasse ›saturiert‹: (…) Sie assimiliert nicht nur keine neuen Elemente, sondern desassimiliert einen Teil ihrer selbst." (a.a.O.) Überall in Europa hatte der Neoliberalismus zur Folge, dass der so genannte Mittelstand und nicht nur die Unterklassen immer weiter von der Teilhabe an der Reichtumsentwicklung abgekoppelt werden. Sarkozy hat mit der tabulosen Plünderung der Le Pen-Rhetorik und dem skrupellosen Einsatz der Repressionsapparate bewiesen, dass er dem Marsch in den autoritären Staat nicht im Wege stehen wird.

Bei den Arbeitern des privaten Sektors erzielte Sarkozy mit 30% das beste Ergebnis aller Kandidaten. Und im zweiten Wahlgang erhielt er bei den einfachen Arbeitern 51% und bei den Menschen mit Berufsschulabschluss 55% der Stimmen. Sarkozy punktet in allen Qualifikationsstufen gleichermaßen. Er erreicht die besten Quoten unter den Freiberuflern (37%), Rentnern (39%) und in den Haushalten mit hohen Einkommen (34%). Interessant sind die Motive beim ersten Wahlgang: Sarkozys Wähler setzten die Prioritäten da, wo auch die Wähler Le Pens und Bayrou es taten: Unsicherheit (54%), Kaufkraft (36%), Arbeitslosigkeit (38%) mit Ausnahme der Einwanderungsfrage. Auf der Linken traten krasse Unterschiede zu Tage: Bei Bové stehen die Umwelt (88%) und Armut/Ausschluss (52%) oben an, bei den Trotzkisten und Kommunisten die Arbeitslosigkeit. Unter den Arbeitslosen haben 31% Royal gewählt, 9% Besancenot (LCR) und 5% Buffet (KPF).

Das Kabinett und die Projekte

Der neue Ministerpräsident François Fillon hat sich 2003 als Meister des sozialen Dialogs dadurch bleibende Verdienste erworben, dass er sich das Zugeständnis einer Vorruhestandsregelung abhandeln ließ und damit den gewerkschaftlichen Widerstand gegen die so genannte Rentenreform durch Separatvereinbarungen mit der CFDT spaltete. Fillon hat angekündigt, das Haushaltsdefizit und die Staatsverschuldung zu reduzieren, und will schon vor den Parlamentswahlen am 17. und 24. Juni drei Projekte im Kabinett konkretisieren: das Erwachsenen-Strafrecht für Rückfall-Täter von 16 Jahren, die "Rehabilitation der Arbeit" durch die Steuerbefreiung von Überstunden und die Steuerabzugsfähigkeit für Hypothekenzinsen.

Ein Arbeits- und Sozialministerium wird es nicht mehr geben. Die Verteidigungsministerin Alliot-Marie hat jetzt genug Erfahrungen für das Innenministerium gesammelt und der Schatzmeister der Partei, Jean-Louis Borloo, erhält die Aufsicht über die Staatsfinanzen. Der wegen Korruption vorbestrafte frühere Ministerpräsident Juppé kehrt als Staatsminister für nachhaltige Entwicklung an den Kabinettstisch zurück und die Landwirtschaftsministerin, Christine Lagarde, hat als Wirtschaftsanwältin in den USA Erfahrungen im Umgang mit der Welthandelsorganisation. Eine Frau mit Eltern aus dem Maghreb, Rachida Dati, darf als Justizministerin die Vorstadtrevolte und die Jugendkriminalität bändigen. Sarkozy will "alle Reformen zur selben Zeit" angehen, um eine "allgemeine Bewegung für die Transformation Frankreichs zu schaffen". Schon am Abend des ersten Wahlgangs stellte die Vorsitzende der Kommunisten, Marie-George Buffet, heraus, dass mit Sarkozy "während der kommenden fünf Jahre die neoliberale Politik einer entschlossenen Rechten ein für alle Mal mit unserem sozialen System aufräumen" werde.

Vor allem die Gewerkschaften fürchten eine Einschränkung der Betätigungsrechte im Betrieb, die infolge der Massenstreiks festgeschrieben worden war. Daher mobilisierten sie zwischen den Wahlgängen zum 1. Mai die Rekordzahl von 200.000 Demonstranten (in den beiden Vorjahren waren kaum über 100.000 zu den Kundegebungen gekommen). Doch die Spaltung zwischen den Gewerkschaften besteht fort und Sarkozys Ankündigung, vor jeder Gesetzesänderung die Sozialpartner in die Beratungen einzubeziehen, leitet das Wasser eher auf die Mühlen der CFDT. Sicherlich wird die Einschränkung des Streikrechts durch die gesetzliche Einführung eines Notdienstes ("service minimum") auf die Tagesordnung gesetzt werden.

Zu den verhaltensändernden Projekten gehört wahrscheinlich auch die angekündigte Justizreform, deren nicht erklärtes Ziel es sein wird, – unter dem Vorwand des Skandals um die lange Untersuchungshaft von zu Unrecht wegen des Vorwurfs der Pädophilie Angeklagter – die Kontrolle über die Ermittlungsrichter auszuweiten. Schließlich sind gegen eine Reihe von UMP-Politikern einschließlich des bisherigen Staatspräsidenten noch Korruptionsverfahren anhängig.

Eines der großen Projekte in den kommenden fünf Jahren wird die Privatisierung der großen Staatskonzerne bzw. privater Beteiligungen an den industriepolitischen Flagschiffen sein. Dazu zählen der nationale Strom- und der Gasversorger, die Staatsbahn SNCF, Kraftwerksbau, EADS/Airbus usw. Als Käufer stehen die zu großen Anlagefonds mutierten Unternehmerclans und Dienstleistungsmilliardäre bereit, mit denen Sarkozy persönliche Beziehungen unterhält. Der Telefon-, Bau- und Medienmogul Bouyges war Trauzeuge Sarkozys. Der EADS-Mitbesitzer Dassault stammt aus einer Rüstungsdynastie und sitzt für Sarkozys UMP im Senat. Vincent Bolloré, Der Besitzer der Yacht, auf der sich der Staatspräsident nach seiner Wahl entspannte, gehört gleichfalls zur kleinen Schicht der modernen Wirtschaftselite.

Umgruppierungen in der Parteienlandschaft

Es scheint dem neuen Präsidenten zunächst zu gelingen, zumindest einen passiven Konsens für seine Transformation Frankreichs zu organisieren, denn sowohl die Sozialistische Partei als auch die UDF seines Mitbewerbers Bayrou zerlegen sich im Vorfeld der Parlamentswahlen im Juni. Während in der UDF 22 von 29 Abgeordneten, um ihre Pfründe fürchtend, sich von Bayrou lossagen, geht die Auseinandersetzung um die Modernisierung der PS in eine neue Runde.

Die UMP hat für die Unterstützung von UDF-KandidatInnen die Bedingung formuliert, dass sie die Haushaltsentwürfe mittragen und auf Misstrauensanträge verzichten. Bayrou hat mit der Umgründung der UDF in die "Demokratische Bewegung" ein neues Wahlbündnis aufgelegt, um aus dem eher traditionell-konservativen Milieu der UDF auszubrechen und die Mitte zu besetzen. Das Potenzial von sieben Millionen WählerInnen soll die tiefe Spaltung in zwei politische Lager überbrücken. Jeder fünfte Grünen-Wähler und jeder fünfte Jospin-Wähler von 2002 lief zu Bayrou über. Zu Beginn des Parlamentswahlkampfes haben die Parteien eine ähnliche Unterstützung wie im Jahr 2002. Ein Unsicherheitsfaktor ist die "Demokratische Bewegung" Bayrous, der zwischen 10 und 15% im ersten Wahlgang zugesprochen werden. Seine Wählerschaft hatte sich bei der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl fast fifty-fifty zwischen Royal und Sarkozy zerlegt.

Aber auch die Sozialisten drängen mit dem Projekt einer "großen Partei der Linken bis ins Zentrum" in die Mitte. Dabei treibt vor allem der frühere Wirtschaftsminister Strauss-Kahn die SP zu einem "sozialdemokratischen Wandel" hin zu einer Partei vom Schlage Blair/Schröder (FAZ 15.5.07) Da die Grünen ihre politische Existenz weitgehend verloren haben, drängt auch der Alt-68er Cohn-Bendit mit dem Vorschlag eines Nicht-Aggressions-Pakts (unter Einschluss der LCR-Trotzkisten) zu einem Bündnis mit den Sozialisten, denn fast jeder zweite Grün-Wähler und jeder dritte Besancenot-Wähler vom letzten Mal ging zu Royal über.

Vordergründig sind die Bemühungen durch das Mehrheitswahlrecht motiviert, das im zweiten Wahlgang nur noch die Kandidaten zulässt, die mehr als 12,75% der Stimmen bekommen haben. Sowohl auf der Linken ("Republikanische Disziplin") als auch auf der Rechten (unter Ausschluss der Nationalen Front) gab es in der Vergangenheit entsprechende Absprachen über Verzicht und Unterstützung. Dieses Mal wird es keinerlei solche Bündnisse geben. Damit besteht dann allerdings die Gefahr, dass die neue Nationalversammlung nur aus noch einem gestärkten Block der politischen Rechten und einer geschwächten sozialistischen Fraktion besteht. Die Linke steht vor der Aufgabe, den frei gelassenen Raum zu besetzen, wenn die Mehrheit der Sozialisten sich endgültig aus der Interessenvertretung der kleinen Leute verabschiedet. Dies setzt die kritische Revision der Alleingänge voraus. Doch man hat schon die Zeit seit 2002 nicht zu nutzen gewusst. Gleichwohl gibt es Indizien, die eine "Neugründung" begünstigen könnten: Die Trotzkisten der Lutte Ouvrière sind auf dem absteigenden Ast, ihre Protagonistin Arlette Laguiller steht aus Altersgründen nicht mehr zur Verfügung. Bei den LCR-Trotzkisten dominiert weniger die "Klasse gegen Klasse"-Rhetorik, sondern der Appell gegen den Neoliberalismus. Mit dem Bauernführer Bové kommt nach dem Niedergang der Grünen das ökologische und Menschenrechtsthema in den radikalen gesellschaftskritischen Diskurs. Aber auch bei einem starken Engagement in den "sozialen Bewegungen der ohne" (ohne Papiere, ohne Arbeit, ohne Wohnung usw.) haben alle linken Gruppierungen die Zersetzung der Zivilgesellschaft durch den Neoliberalismus weder in seinen materiellen Auswirkungen noch in seinen mentalen Folgen wirklich geistig durchdrungen. Keiner der Bestandteile der radikalen Linken hat eine große Mitgliedschaft und eine stabile Wählerschaft. Außer der KP verfügt keine Partei über nennenswerte Bastionen im institutionellen System der politischen Apparate (EU-Abgeordnete, Regionalräte, Bürgermeister etc.). Wenn man gleichzeitig berücksichtigt, dass die Mehrheit der "Arbeiterklasse" selbst heute ihre Interessen nicht mehr bei den Kommunisten oder Linksradikalen aufgehoben sieht, kann eine neue Formation der Linken in der Zukunft nicht mehr vom Hegemonie-Anspruch eines einzelnen Konzepts aus begründet werden. Dennoch steht die Linke vor der Aufgabe, ausgehend von der Produktivität der Gesellschaft eine als gerecht empfundene Reorganisation der Verteilung und damit der gesellschaftlichen Betriebsweise durchzusetzen. Dabei kann man sich, wie bei der Präsidentenwahl geschehen, natürlich schon an der völlig unaktuellen Frage aufhängen, ob Regierungsbeteiligungen als Mittel der Politik prinzipiell von Übel seien. Der permanente Alarmismus, "zu warnen und zu entlarven, stellt aber keine glaubwürdige Kraft dar, die Gegebenheiten zu ändern", stellt der Pressesprecher der KP zu Recht fest.

Tatsache ist, dass es schwer möglich sein wird, in den kommenden fünf Jahren der zu erwartenden Wucht des politisch-institutionell legitimierten Klassenkampfes von oben allein mit den gewerkschaftlichen Mitteln und auf der Straße erfolgreich etwas entgegenzusetzen. Denn die Gewerkschaftsbewegung ist tief gespalten. Daraus muss man aber nicht umgekehrt den Schluss ziehen, dass die Logik der Arbeiterbewegung aus dem 20. Jahrhundert nicht mehr funktioniert (Humanité 9.5.07). Ein Airbus-Betriebsrat ergänzt: "Es sammelt sich eine neue Generation, die sich nicht an die politische Kombinatorik gebunden fühlt. Die anti-neoliberale Sammlungsbewegung hat mit diesem Partei-Archaismus gebrochen." Gleichwohl: Die Linke muss sich in Frankreich zügig neu aufstellen, will sie eine politische Alternative zur Rechten präsentieren.

Bernhard Sander ist Redakteur von Sozialismus.

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