1. Juli 2001 Karl Georg Zinn

Schlafmützigkeit im Wirtschaftsabschwung

Eine schwache Opposition mag gut für die Regierung sein, aber sie ist schlecht für die Beschäftigung. CDU und FDP haben wirtschafts- und gesellschaftspolitisch keine Alternative zur Regierungspolitik zu bieten oder allenfalls noch mehr Einsparung, weitere Steuersenkungen, einige Streicheleinheiten für die ohnehin gut bis sehr gut gestellten Schichten zusätzlich, also insgesamt noch weniger Staat.

Es fehlt somit eine markante Herausforderung für die Schröder-Regierung, so dass sie wahrscheinlich nicht mehr rechtzeitig vor den Bundestagswahlen zu einer realistischen Analyse der auf eine Rezession zulaufenden Konjunkturentwicklung gelangt, geschweige denn, dass situationsgerechte Beschäftigungspolitik formuliert, der Öffentlichkeit vermittelt und dann auch verwirklicht würde. Es mag sein, dass die rot-grüne Koalition dennoch die Wahlen gewinnt, weil die Opposition auch im nächsten Jahr noch ein erbärmliches Erscheinungsbild abgeben dürfte. Aber auch bei Rot-Grün wird es etliche Verlierer geben, d.h. die komfortable Mehrheit wird nicht erhalten bleiben, somit werden etliche Fraktionsmitglieder von Rot und Grün nicht wieder in den Bundestag kommen.

Die Schröder-Regierung fährt beschäftigungspolitisch immer noch auf dem nach dem Ausscheiden von Lafontaine forcierten neoliberalistischen Kurs weiter. In den beiden ersten Regierungsjahren konnte man sich um eine klare beschäftigungspolitische Konzeption herummogeln, weil die US-Wirtschaft boomte und ihre internationale Rolle als »consumer of last resort« noch wohlgefällig für alle exportabhängigen Handelspartner weiterspielte. Bekanntlich stieg die Konsumquote der amerikanischen Privathaushalte zeitweilig über 100%. Diese Haushalte sind jedoch stark verschuldet, und die Party muss irgendwann bezahlt werden. Schröder setzte die von der Kohl-Regierung bereits vorgeführte Politik des staatlichen Rückzugs aus der beschäftigungspolitischen Verantwortung fort und verlagerte die Sache in eine Art »konzertierte Aktion« mit dem hochtrabenden Namen »Bündnis für Arbeit«. Dieses Gremium, dem in einem von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen Umfang auch wissenschaftlich zugearbeitet wird (nicht ganz billig) hat bei der zentralen Zielsetzung, nämlich die Massenarbeitslosigkeit zu überwinden, nichts gebracht. Bisher ist auch nicht bekannt geworden, dass vom »Bündnis für Arbeit« eine Eventualplanung, sozusagen ein Notstandsprogramm für den nunmehr äußerst wahrscheinlichen Fall vorgelegt worden wäre, dass die Konjunktur - getreu dem seit 200 Jahren bekannten kapitalistischen Krisenzyklus - in eine fortschreitende Rezession mündet. Ich wage die Prognose, dass - bei anhaltendem wirtschaftspolitischen Attentismus - vom Herbst/Winter 2001/02 an, die Arbeitslosigkeit erheblich zunehmen wird. Doch auch aus den Bundestagsfraktionen von Rot und Grün ist nichts zu vernehmen im Sinn von (»eventuell«) notwendig werdenden Gegenmaßnahmen zur Talfahrt der Konjunktur und erneuten Bergfahrt der Arbeitslosenzahlen. Auch wenn die Fraktionen nicht von Wirtschaftsexperten dominiert werden, so gibt es dort doch genügend Kompetenz, um wenigs-tens in diplomatischer Weise auf die anstehende Krisenverschärfung aufmerksam zu machen.

Die Bundesregierung hat bisher Illusionen über die Konjunkturlage verbreitet. Es ist nicht bekannt, ob sie selbst an ihre Propaganda überhöhter Wachstumseinschätzungen geglaubt hat, aber es hätte mehr Kompetenz offenbart, wenn sich die Regierung nicht mehrmals - unter dem Eindruck der nach unten revidierten Wachstums-prog-nosen der Konjunkturforschungsinstitute - kleinlauter werdend hätte verbessern müssen. Kompetenz verriete auch, wenn unter dem Eindruck der Konjunkturabschwächung eine temporäre Unterbrechung des inzwischen an Brüning erinnernden Einsparungsfetischismus erwogen würde. Es sei daran erinnert, dass am Ende der Weimarer Republik die von den wirtschaftspolitischen Reformern vorgeschlagenen Maßnahmen zur Beschäftigungspolitik aus hysterisch überzogener Inflationsfurcht - auch von der damaligen SPD - verworfen wurden.

Joseph Alois Schumpeter hatte mit Rückgriff auf den französischen Pionier der Konjunkturtheorie, Clément Juglar, konstatiert, dass die einzige Ursache des Abschwungs der Aufschwung ist und somit auch die Stärke des Abschwungs vom Ausmaß des Aufschwungs beeinflusst wird. Der über etwa zehn Jahre anhaltende Aufschwung der US-Wirtschaft zwischen 1991 und 2000 musste also irgendwann in einen Abschwung übergehen. Seit vergangenem Jahr ist er sichtbar geworden. Das war/ist ganz »normal« im Kapitalismus, und das geschwätzige Fabulieren über eine völlig neue, quasi ewige Prosperitätskonstellation, die von einer »New Economy« eingeleitet worden wäre, ist auch eine normale ideologische Selbsttäuschung der Schönredner der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Während des Rationalisierungsaufschwungs der 1920er Jahre und während der Phase des Vollbeschäftigungswachstums nach dem Zweiten Weltkrieg, genauer: während der 1960er Jahre, gab es nicht wenige - und wirtschaftstheoretisch auch keineswegs völlig unkundige - Heilspropheten, die das Ende des Krisenzyklus und ewiges Wachstum glaubten verkünden zu können. Lächerlich. Und lächerlich, aber auch gefährlich ist gegenwärtig wieder die einfältige Verdrängung der absehbaren Krisenverschärfung.

Der Wirtschaftsboom der USA in den 1990er Jahren wurde vor allem durch ein historisch ganz seltenes Wachstum der industriellen Ausrüstungsinvestitionen getragen. [1] Sie wuchsen im Mehrjahresdurchschnitt (1992-98) um 11,8% pro Jahr, eine nur relativ kurzfristig durchzuhaltende Größenordnung. Auch die Bruttoanlageinvestitionen zeigten historisch herausragende Wachstumsraten von 8,9% pro Jahr (1992-98). Abgesehen davon, dass angesichts so starker Akkumulation das gesamtwirtschaftliche Wachstum mit Jahresraten von unter 4% (Mehrjahresdurchschnitt 1992-99) erstaunlich niedrig ausfiel und unter den Wachstumsraten früherer Aufschwungsperioden der US-Wirtschaft blieb, waren die USA - wie vielen bekannt sein dürfte - nicht in der Lage, die Investitionen voll aus eigener Kraft zu finanzieren, sondern es musste auf Nettokapitalimporte zurückgegriffen werden. Vielleicht sind wegen der so bereitwilligen Anlagebereitschaft ausländischer Kapitalgeber und selbstverständlich auch bedingt durch die krankhafte Überspekulation [2] am Aktienmarkt viele der Investitionen von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen, tragen also gar nichts zur Leistungsfähigkeit der US-Wirtschaft bei. Jedenfalls ist die Party nun zu Ende, und Katerstimmung sucht alle Gäste heim, auch die ausländischen.

Wenn sich der US-Boom nicht ununterbrochen fortsetzen lässt, so gilt dies auch für die Konsumeuphorie der US-Verbraucher, somit auch für die Importe. Der US-Markt verliert an Aufnahmefähigkeit für die ausländischen Überschussproduktionen. Der Abschwung wird zu »Korrekturen« führen, und sie sollten in Richtung »außenwirtschaftliches Gleichgewicht« weisen. Dagegen werden die Marktgläubigen doch wohl nichts einwenden wollen? Schwache US-Konjunktur, abflachende Konsum- und Investitionsdynamik, nachlassende Importe, (vermutlich) auch verhaltenerer Kapitalzufluss in die USA werden den Dollar von seinem Überbewertungsniveau absteigen lassen. Die korrespondierende Aufwertung des Euro kommt also zur Unzeit, nämlich gerade dann, wenn sich die Rezession so richtig breit macht - im Jahr der Bundestagswahl.

Was sich momentan an wirtschaftspolitischer Schlafmützigkeit in Berlin abzeichnet, ist nicht ganz so überraschend, wie es der breiteren Öffentlichkeit in einigen Monaten erscheinen wird. Es sei erlaubt, ein wenig unbescheiden aus einem Text zu zitieren, den der Verfasser Ende 1998, also noch vor dem spektakulären Personalwechsel an der Spitze des Bundesfinanzministeriums, formulierte hatte und wo eine Einschätzung der von der neuen rot-grünen Regierung zu erwartenden Beschäftigungspolitik gegeben wurde:

»... die ›bürgerliche‹ Sozialdemokratie wird vorsichtig operieren und nach einigen Jahren feststellen müssen, dass auch mit einer sozialpolitisch rücksichtsvolleren und nicht ganz so rigorose Sparmaßnahmen zumutenden Politik, wie sie die konservativen Vorgängerregierungen praktiziert hatten, keine Sanierung der von der Massenarbeitslosigkeit bedrohten Wirtschaft und Gesellschaft Europas möglich sein wird. Vollbeschäftigungspolitik ist eine makroökonomische Aufgabe, und sie lässt sich nicht auf ›konzertierte Aktionen‹ oder ›Bündnisse für Arbeit‹ abschieben ...
Die Rückkehr zum alten Wachstumstrend ist weder möglich noch aus umweltpolitischen Gründen zu verantworten. Damit stellt sich zwingend die Aufgabe, die Volkswirtschaften auch bei dauerhaft niedrigem, gar völlig versiegendem Wirtschaftswachstum zu stabilisieren. Das heißt, Vollbeschäftigung ohne Wachstum zu erreichen und den Sozialstaat auch ohne Wachstumsdividende zu finanzieren. Das ist möglich, aber es verlangt eine Transformation der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen und der sozialethischen Einstellungen. Es steht nicht in Frage, ob sich dieser geschichtliche Wandel vollzieht, sondern in welchen Formen er abläuft - über weitere Krisenverschärfung und quasi-revolutionäre Brüche oder auf dem Weg vorausschauender, kontinuierlicher Reformen.« [3]

Karl Georg Zinn ist Professor für Volkswirtschaft / Außenwirtschaft an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen.

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