30. Juni 2011 Jörg Deml: Anmerkungen zu den Überlegungen der prager frühling-Redaktion

Schöne neue öko-kreative Welt?

Es gehört zu den zentralen Verdiensten der Zeitschrift prager frühling (PF), gegen bornierte etatistische und kollektivistische Gewissheiten den Stachel zu löcken und den Blick – auch – auf lebensweltliche Fragen zu richten. Mit dem Versuch, einen »Red-Green-Deal als linke Antwort auf die ›grüne‹ Herausforderung« (so der Untertitel des Artikels der PF-Redaktion in der Mai-Ausgabe von Sozialismus) zu begründen, betreibt sie allerdings ein Schattenboxen mit Gegnern, die gar nicht im Ring stehen, und verzichtet darauf, die amtierenden Champions herauszufordern.

Anlässlich der enormen Zustimmung, die die Partei Bündnis 90/Die GRÜNEN mittlerweile erfährt, ist es ihr zentrales Anliegen, »sich in eine im Entstehen begriffene neue Hegemonie – die wir vorläufig als öko-kreative bezeichnen – einzuschreiben und sie sozial zu interpretieren« (S. 11). Die machtpolitische Option besteht also nach Ansicht der AutorInnen darin, zu verhindern, dass die GRÜNEN – die durchaus zu Recht als parlamentarische Vertretung der kreativen Mittelschichten interpretiert werden – ein Bündnis mit »Oben« eingehen und schwarz-grüne Koalitionen bilden, sondern sie stattdessen auf eine Orientierung nach »Unten« zu bewegen und sie für Kooperationen mit der Partei Die LINKE zu öffnen. Bereits diese knappe politisch-normative Orientierung macht deutlich, dass die AutorInnen sich bei ihrem Bemühen, den Anschluss an das kreative Elektorat der GRÜNEN nicht zu verlieren, vergessen haben, einen vorurteilsfreien Blick auf die anderen gesellschaftlichen Kräfte zu richten:

  • Kann man im Jahr 2011 die CDU/CSU noch ernsthaft als die Partei des »Oben« bezeichnen? Eine derart plumpe Zuschreibung kennt man eigentlich nur noch aus Stamokap-Lehrbüchern zum politischen System der alten Bundesrepublik. Gerade weil die AutorInnen sich ansonsten zu Recht gegen objektivistische Begründungszusammenhänge für politische Schnittmengen wehren (S. 14f.), hätte es sich gelohnt, auch einmal die führende Partei des konservativen Lagers einer näheren Betrachtung zu unterziehen: Warum ist z.B. die CDU bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg bei den ArbeiterInnen mit 40% die stärkste Partei geworden? Aus welcher Interessenlage heraus und aufgrund welcher politischer Mentalitäten stützen große Teile der abhängig Beschäftigten, die nicht im Prenzlauer Berg oder Schanzenviertel wohnen, weiterhin eine Partei, die ihnen materiell einiges abverlangt?
  • Noch drolliger wird die politische Leerstelle aber im Falle einer anderen Partei, die gemeinhin auch mit dem Label Rot-Grün assoziiert wird: Wem zur SPD nur einfällt, dass die­se »kümmerlicher Sachverwalter traditioneller Interessen des alten Industriekapitalismus ist« (S. 15), muss sich die Frage gefallen lassen, ob man deren Regierungspolitik von 1998 bis 2005, in der von der Sozialpolitik bis zu den Bilanzierungsvorschriften für Unternehmen den Prämissen eines finanzmarktgetriebenen Kapitalismus gehuldigt worden ist, überhaupt wahrgenommen hat? Und wie passt dies damit zusammen, dass – wie auf S. 13 formuliert – die SPD »verdammt war, Vollstreckerin der neo-liberalen Prämissen zu werden«? Wer hat sie warum und mit welchen Mitteln dazu zwingen können? Dann wird es aber eindeutig: »In der LINKEN sammelten sich jene (also: alle, J.D.) enttäuschten SozialdemokratInnen, die weiter an der sozialpartnerschaftlichen Idee festhalten wollen.« (Mit anderen Worten: Jener perfiden politischen Verschwörung, mit der es in der Vergangenheit gelungen ist, im Rahmen des bösen, ressourcenverschwendenden Industriekapitalismus den materiellen Lebensstandard der männlichen Facharbeiter zu erhöhen.) Voilà, so werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Einerseits muss man den – durchaus widerspruchsvollen – Erneuerungsprozess der SPD in der Opposition nicht weiter beachten, weil ja dort eh nur noch die AnhängerInnen des Neoliberalismus anzufinden seien; und andererseits belegt man die Kolleginnen und Kollegen aus den Gewerkschaften, die sich in der eigenen Partei organisieren, noch dezent mit dem Stigma des Dinosauriers.

Damit ist aber genau der Kern – und damit das Problem – der (politischen) Orientierung der PF-Redaktion berührt: Die theoretische Negierung der (fortbestehenden) Relevanz fordistischer Strukturen geht einher mit einer Distanzierung gegenüber denjenigen, die – mehr oder weniger bewusst – dessen Errungenschaften zu verteidigen suchen bzw. in dieser Epoche politisch sozialisiert worden sind. Die Kritik muss daher sowohl auf der strukturellen Ebene der Analyse des Kapitalismus (1.) als auch auf der Ebene der daraus folgenden Orientierung auf politische Subjekte (2.) erfolgen.

Zur ersten Ebene: Die Frage, worin nun das spezifisch Neue am Kapitalismus westlicher Prägung seit Mitte der 1970er Jahre besteht, füllt mittlerweile halbe Bibliotheken. So sehr in der kritischen Sozialwissenschaft und Ökonomie ein Konsens darüber besteht, dass das stabile Akkumulationsregime des Fordismus, das – verkürzt formuliert – mit Massenproduktion, keynesianischer Nachfragesteuerung und Wohlfahrtsstaat umschrieben werden kann, aufgrund nachlassender Akkumulationsbedingungen an seine Grenzen gestoßen ist, so umstritten ist, was denn nun genau danach kam.[1] Genau dies macht aber deutlich, dass eben kein neues stabiles und hegemoniales Akkumulationsregime entstanden ist: Der Begriff des Postfordismus arbeitet sich an der Folie des Fordismus ab, und bei dem Theorem des Finanzmarktkapitalismus wird kritisch angemerkt, inwiefern eine Besonderung von der Realwirtschaft möglich ist. Etwas bodenständiger formuliert: Macht nicht gerade auch das bundesdeutsche Produktionsmodell mit seiner Dominanz aus weltmarktorientiertem Werkzeug- und Maschinenbau, chemischer und Automobilindustrie deutlich, dass fordistische Strukturen noch ein erstaunliches Beharrungsvermögen aufweisen?[2] Mit diesen Fragen setzt sich die PF-Redaktion nur insoweit auseinander, als sie konstatieren, dass sich eine »neue öko-effizienzbasierte marktwirtschaftliche Betriebsweise des Kapitalismus« herausbilde, der »einen riesigen Innovations- und Investitionsschub auslösen« soll (S. 13). Dieser »neuen post-neoliberalen Betriebsweise« (!) gelingt es, eine »öko-kreative Hegemonie« zu erringen, da »die Forderungen nach einer ökologischen Modernisierung und der Vision eines Green-New-Deal oder green capitalism« eine »Zustimmung bis weit in das konservativ-liberale Bürgertum« erfährt (alle Zitate S. 13).

Zur zweiten Ebene: Die behauptete »öko-kreative Hegemonie« wird sozialstrukturell begründet mit der zunehmenden Bedeutung der »hochgebildeten urbanen, finanziell abgesicherten, durchaus mittlerweile staatsnah angesiedelten, politisch an vor allem formaler (Mitreden) und informationeller (Informiertheit/Transparenz) Teilhabe ausgerichteten bürgerlichen Mittelschichten«, da diese das stärkste Interesse an der ökologischen Modernisierung hätten. Nun soll hier weder auf das funktionalistische Argumentationsmuster noch die mutige These einer neuen Hegemonie[3] eingegangen werden, sondern auf die frappierende Leerstelle: Wo sind all die BundesbürgerInnen, die weder unter die oben genannte Gruppe der »kritischen Bildungseliten« noch die »Exkludierten und Enttäuschten« (S. 14) fallen? Welche (politische) Rolle spielen also z.B. die FacharbeiterInnen und mittleren Angestellten, deren Wohlstand nur ein bescheidener ist, die Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg haben, und die seit jeher sowohl organisatorisch als auch kulturell im Zentrum der bundesrepublikanischen Politik standen? Offensichtlich nur die, ein passives Objekt des ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft zu sein, den die »kritischen Bildungseliten« mit freundlicher Unterstützung der Exkludierten organisieren. Die Vermutung liegt nahe, dass den AutorInnen keine neuen industrie- und wahlsoziologischen Studien zur Verfügung standen, die ein derart antagonistisches Bündnis nahelegten – sie können mit der sozialstrukturellen Mitte der Gesellschaft einfach nichts anfangen! Damit liegen sie (nur kulturell?) in gefährlicher Nähe zu jenen blutleeren Apologeten einer »neuen Mitte«, die der SPD-Führung ins Stammbuch schreiben, dass diese sich am besten zu einer links-liberalen Partei des aufgeklärten Bürgertums entwickeln solle, und für die klassische Basis der SPD nur Verachtung übrig haben.[4]

Die Umwälzungen, die sich auch – oder besser: gerade! – bei denjenigen vollziehen, die nicht mehr darauf vertrauen können, nach abgeschlossener Ausbildung weitgehend reibungslos eine Erwerbstätigkeit ausüben zu können, die das Einkommen sichert und den Lebensabend absichert, werden entweder nicht zur Kenntnis genommen oder – schlimmer – als unwichtig erachtet, da sich die Auflösung fordistischer Sicherheitsversprechen nun einmal »natürwüchsig« ergebe.[5] Und tatsächlich wäre ein weiteres Vordringen all jener Tendenzen des Kapitalismus, deren Auswirkungen für die Lebensführung gerade auch von Angehörigen mittlerer Einkommensgruppen, die Richard Sennett so treffend in »Der flexible Mensch« beschrieben hat, in dem von der PF-Redaktion skizzierten »Red-Green-Deal« weiterhin möglich: Nicht, weil es keine Alternativen gäbe, sondern weil die »kritischen Bildungseliten« nun einmal maßgeblich beteiligt waren am Abbau sozialstaatlicher Sicherungen – nicht nur resignativ, weil es keine Alternative gab, sondern sehr wohl aus materiellem Eigeninteresse. Wer glaubt, dass die GRÜNEN als ausschließliche Kernkompetenz die »nachhaltige Umweltpolitik« in den Deal einbringen werden, ist bestenfalls naiv und sollte sich besser die Rolle dieser Partei bei der (Teil-)Privatisierung der Alterssicherung ins Gedächtnis rufen und die gesammelten Reden Christine Scheels zur Finanzmarkt- und Steuerpolitik studieren. Gleichermaßen widersprüchlich ist auch die Orientierung auf die »Exkludierten und Enttäuschten«: Jenseits einer miesen ökonomischen Einkommenssituation bestehen hier soziale und kulturelle Differenzierungen, die es kaum wahrscheinlich machen, dass diese Gruppe von einer »Schicht an sich« zu einer »Schicht für sich« wird.[6]

Einen echten »Red-Green-Deal« kann es daher nur geben, wenn man keine Addition von »oben« und »unten« vornimmt, sondern für den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft in erster Linie auf diejenigen orientiert, die im Mittelpunkt des stofflichen Wertschöpfungsprozesses stehen, und ihre Interessen und Erfahrungen zum Ausgangspunkt der strategischen Überlegungen macht. Substanzielle Veränderungen in der Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums können nun einmal nur erfolgen, wenn man zumindest den Großteil derjenigen, die früh morgens regelmäßig aufstehen, die keinen interessanten Job haben, und dies trotzdem für selbstverständlich erachten, auf seiner Seite hat. Man kann die Nase rümpfen und dies als »produktivistisch« verachten; wer aber die gut ausgebildeten, urbanen Mittelschichten als Bündnispartner gewinnen möchte, sollte sich die Tatsache zu nutzen machen, dass deren liberaler Begriff der Leistungsgerechtigkeit durchaus Anknüpfungspunkte zu den arbeitsethischen Orientierungen der (reformistischen) ArbeiterInnenbewegung aufweist.[7]

Um nach der eingangs bemühten Box-Metapher nun ein ziviles maritimes Bild zu verwenden: Die kritischen Bildungseliten sind selbstverständlich als Lotsen an Bord der »MS Umbau« willkommen – Steuer und Befehlsgewalt müssen aber die FacharbeiterInnen und mittleren Angestellten innehaben. Wer ihnen dies aus einer kulturellen Aversion heraus nicht zutraut, braucht sich nicht zu wundern, wenn es keine gesellschaftlichen Mehrheiten für die ökologisch-soziale Modernisierung der Industriegesellschaft geben wird.


Jörg Deml lebt und arbeitet als Sozialwissenschaftler in Berlin.

[1] Eine Übersicht zu der Debatte stellt z.B. der Band »Soziologie – Kapitalismus – Kritik« von Klaus Dörre/Stephan Lessenich/Hartmut Rosa (Frankfurt/M. 2009: Suhrkamp) dar, der auch in der Form der Darstellung den offenen Charakter der Kontroverse angemessen wiedergibt.
[2] Dass die dort erzielten Außenhandelsüberschüsse auf Reallohnverlusten und einer Politik des beggar my neighbour in der Euro-Zone beruhen, muss hier nicht weiter erwähnt werden.
[3] Hegemonie bedeutet – gerade auch mit Bezug auf Gramsci – eine gesellschaftliche Durchdringung, weitestgehend also die Zustimmung auch der Beherrschten zur Herrschaft. Für die Phase des Postfordismus ist dies gerade nicht gegeben. So formuliert Klaus Dörre im Rahmen seiner Analyse der individuellen Verarbeitung von Shareholder-Value-Konzepten, dass »die Nichtübereinstimmung von Leitbildern, institutionellen Praktiken und Subjektivität ... das eigentlich Erklärungsbedürftige (ist)« (in: Dörre/Lessenich/Rosa 2009, S. 253).
[4] So z.B. Daniel Friedrich Sturm, der in seinem Artikel »SPD ohne Strategie« die Kritik an einer Öffnung der Partei derart glaubt, desavouieren zu können, dass es sich dabei um »die Funktionäre der SPD (handelt), die zumindest in Nordrhein-Westfalen gern Lederwesten tragen, schon vormittags Erbsensuppe essen und Pils trinken« (Die Welt, 1. Juni 2011).
[5] Noch einmal Klaus Dörre, der die Lebensentwürfe von Lohnabhängigen mit dem Ziel der Absicherung wie folgt verteidigt: »Dies zu respektieren hat mit Konservatismus nicht das Geringste zu tun. Eher mit wissenschaftlicher Skepsis gegenüber Entwürfen, die hochflexible Künstlerarbeitsmärkte zur künftigen Realität der gesamten Gesellschaft überhöhen, um im gleichen Atemzug all jene, die auf Schutz und kollektiven Sicherungen beharren, mit dem Stempel des Traditionalismus zu versehen.« (in: Dörre/Lessenich/Rosa 2009, S. 254)
[6] Und aus welcher Motivation die saturierten, linksliberalen BildungsbürgerInnen die politische Nähe zu den Exkludierten suchen sollten, während ansonsten viel Mühe aufgewendet wird, sich von ihnen zu distinguieren, bleibt völlig fraglich.
[7] Sehr prägnant herausgearbeitet von Thomas Ebert, »Soziale Gerechtigkeit. Ideen – Geschichte – Kontroversen«, Bonn 2010: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 172ff.

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