24. August 2021 Alban Werner: Was bleibt von der Ära Merkel?

Sie kennt uns

Zeichnung: Klaus Stuttmann

Spricht man von Vermächtnissen von Politiker:innen, geht es um mindestens zweierlei. Es geht erstens darum, Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart aufzuzeigen und auch in der Zukunft, weil von politischen Vermächtnissen und Hinterlassenschaften meistens dann die Rede ist, wenn sie über eine mehr als nur vorübergehende Haltbarkeit und Prägekraft verfügen.

Zweitens geht es um eine Zurechnung: »Harte« Hinterlassenschaften wie politische Beschlüsse sowie »weiche« Nachlässe wie politische Einstellungsmuster werden einer bestimmten Akteurin als Verursacherin zugeschrieben.[1]

Die jetzt endende Ära Merkel, d.h. die Jahre 2005-2021, wird keine bestimmten inhaltlichen Politiken als wichtigstes politisches Vermächtnis auszeichnen. So unhintergehbar die politischen Krisenzyklen von Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008ff., Eurokrise ab 2010ff., Flüchtlingskrise ab 2015f. und Corona-Pandemie ab 2020 auch sind, um politische Entwicklungen unserer Gegenwart zu verstehen, bleibt ihnen als Leitartikel noch das eigentümliche Phänomen Merkel in Deutschland voranzustellen. Bereits jetzt ist die wichtigste Signatur der Ära Merkel der Eindruck ihrer Unvermeidlichkeit. Beinahe ungläubig werden viele, nicht nur jüngere Leser:innen reagieren, wenn sie in Ralph Bollmanns beeindruckender Biografie Episoden lesen, wie die vom »Herbst des Missvergnügens« der damaligen CDU-Vorsitzenden Angela Merkel, der die Rolle der Kanzlerkandidatin noch nicht über alle Zweifel hinweg zugefallen war, oder über den absoluten Umfragen-Tiefpunkt Angela Merkels in den Beliebtheitsumfragen zwei Jahre später, als die Kanzlerin noch tiefer absinken sollte als neun Jahre später während der Flüchtlingskrise.[2]

Die Aura des Unvermeidlichen der Kanzlerin hatte weniger den Charakter eines überprüfbaren Faktums als eines Gerüchts, das jeder kennt und sich im Maße, wie es immer mehr politische Akteur:innen glaubten, zu einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung auswuchs.

Alban Werner ist Mitarbeiter der Sozialistischen Studiengruppen, lebt in Aachen. In Sozialismus.de 9/2020 erschien von ihm der Beitrag: »Wohin will die CDU nach Merkel?« und in der Ausgabe von Juli/August 2021 besprach er den Film »Der Rausch« von Thomas Vinterberg.

[1] Stephen Farrall/Colin Hay/Emily Gray, Exploring Political Legacies, London 2020, S. 2ff.
[2] Ralph Bollmann, Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Zeit, München 2021, S. 256, 314.

Die komplette Leseprobe als pdf-Datei!

Zurück