1. September 2009 Christian Gotthardt

Solarzeitalter, Elektromobilität, Wüstenstrom

In der deutschen Energiewirtschaft geht es derzeit hoch her. Die Wut über monopolistische Abzocke bei Strom- und Gasrechnungen wird größer und macht sich erfolgreich in Prozessen Luft. Bürgerinitiativen gegen neue Kohlekraftwerke wachsen.

Versuche der Kohleverstromer, unterirdische Lagerstätten für CO2 zu erkunden, werden durch starken regionalen Widerstand unterbunden. Die Front der Atomwirtschaft, über Jahre mühsam aufgebaut für den Entscheidungskampf um die Rücknahme des Atomausstiegs, strauchelt im "friendly fire" der Krümmel-Chaoten von Vattenfall. Die Konsumenten beginnen, den Lieferantenwechsel als politisches Instrument zu nutzen. Und die Politik? Sie ist – mit Ausnahme der Linken und des wackeren Sigmar Gabriel – ganz offenkundig nicht auf Ballhöhe. Das Thema Energie bleibt im Wahlkampf blass. Von energiepolitischen Mindestforderungen an mögliche künftige Koalitionspartner mag kaum jemand sprechen. Die Broschüren der Grünen und der SPD belehren uns vor allem über herrliche Aussichten der Solartechnologien, über das Elektroauto und Strom aus der Sahara. Kohle und Atom? "Hier werden Rückzugsgefechte ausgetragen, mit denen sich die Politik nicht allzu lange beschäftigen sollte" meint Holger Krawinkel, Leiter Energie der Verbraucherzentrale Bundesverband und Protagonist der rot/grünen Berliner Energie-Avantgarde.[1] Hat die Bevölkerung da etwas verpasst? Sind die Konzerne etwa schon bezwungen?

Am Vorabend tiefgreifender energiepolitischer Konflikte

Die Energiebilanz der rot-grünen und schwarz-roten Regierungsjahre ist ernüchternd. Die vier großen deutschen Stromerzeuger Eon, Rwe, Enbw und Vattenfall haben sich nach zehn Jahren sogenannter Marktliberalisierung als Oligopol rekonstruiert. Diese großen Vier ergänzen sich derzeit durch Zukäufe zu integrierten Strom- und Gasversorgern und nehmen so ihre Kunden noch fester in den Griff. Wettbewerbern aus dem In- und Ausland bleibt der Zugang zum Kunden aufgrund des monopolistischen Netzregimes noch immer verwehrt. Den Stadtwerken geht es schlecht. Überwiegend Weiterverteiler bereits veredelter Energieträger, sind sie weiter vom Preisdiktat ihrer Vorlieferanten abhängig. Viele sind bereits von Eon und Co. übernommen. Die ökonomischen und ordnungspolitischen Spielräume für eine gemeinwohlorientierte Energieversorgung wurden mit der Liberalisierung weitgehend aufgezehrt.[2]

Und es geht weiter. In der nächsten Legislatur werden die deutschen Energiekonzerne auf Entscheidungen dringen, die jedes Bemühen um eine Energiewende 30 Jahre und länger strangulieren würden:

Beim Strom werden sie den hohen Anteil von Kohle und Atom am Strommix verteidigen wollen – durch längere Laufzeiten für Atomkraftwerke, Neubau von Kohlekraftwerken und Schutz dieser ineffizienten Verstromungstechnologien vor Verschmutzungskosten durch CO2-Steuern oder -Zertifikate. In der Konsequenz käme es dann zu einer langfristigen Ausrichtung der Technologie-Entwicklung, Rohstoffwirtschaft und Transportlogistik an endlichen und "schmutzigen" fossilen Energieträgern. Es fände kein Know-how-Aufbau für nachhaltigere und effizientere Brücken- und Zukunftstechnologien (Gasturbine, Biogas-Verstromung) statt. Die Klimawirkungen und Entsorgungsprobleme (atomare Endlagerung, CO2-Lagerung) würden sich weiter zuspitzen.

Beim Gas wird es ihnen um die monopolistische Rekonstruktion des Gasmarktes als Schwestermarkt des Strommarktes gehen, einschließlich diskriminierendem Netzregime und Beschränkung auf Heizgasdistribution. Sie werden Spielräume für die Gasverstromung nur für sich selbst öffnen bzw. generell den Einsatz alternativer Energieträger außerhalb der Verfügungsgewalt der großen Vier verhindern. Die Summenwirkung dieser beiden Strategien:

  Kein Markteintritt alternativer Anbieter, kein Anbieterwettbewerb, keine Ansatzpunkte für die Entwicklung von Nachfragemacht auf der Verbraucherseite;

  Minimale Spielräume für den Einsatz und den Ausbau klimaneutraler Energieumwandlung;

  Belastung der Endkonsumenten durch Monopolpreise.

Wir wissen, dass CDU und FDP alle die­se Vorhaben mittragen und umsetzen wollen. Was bieten uns Grüne und SPD, dies zu verhindern?

Politmarketing der Grünen

Die Geschichte der grünen Energiepolitik weist lange und heroische Phasen auf. Ihr Beitrag zur kritischen Aufarbeitung energiewirtschaftlicher Problemstellungen ist kaum zu überschätzen. Mit den schmerzhaften Niederlagen der Grünen in der rot-grünen Regierungskoalition vermehrten sich allerdings Ausflüge ins regenerative Utopia. In welchem Ausmaß der damalige Wirtschaftsminister Müller die Grünen vorführte, beim Atomausstieg und bei der konzernfreundlichen Umsetzung der Liberalisierungsvorgaben, wurde öffentlich nicht mehr thematisiert. Stattdessen häufte sich recht simple Werbung für Energiesparen und erneuerbare Energieträger. Ihr Motto: Jedes Windrad, jede Sparbirne und jedes Solardach sind ein Fortschritt. Das Schlüsselerlebnis Moorburg in der frischgebackenen schwarz-grünen Koalition in Hamburg scheint diesen Eskapismus noch weiter beschleunigt zu haben. Ein relevanter Programmpunkt der Hamburger Grünen, die Verhinderung eines gigantischen Kohlekraftwerks mitten in der Stadt, erwies sich als nicht einlösbar (aus welchen Gründen auch immer). Die Lehre daraus in der Sprache des Politmarketing: Nicht auf Verlierer-, auf Gewinnerthemen muss man setzen! Am besten auf solche, die sich im Selbstlauf verwirklichen, indem sie nämlich dem Eigeninteresse der marktbeherrschenden Akteure entspringen.

Jedenfalls sind die Energieprogramme der Grünen seit Moorburg durch Visionen dominiert, die – um es vorsichtig auszudrücken – Vorstellungen der deutschen Energiekonzerne ziemlich nahe kommen. Paradebeispiel: die Vision "Elektromobilität".[3]

Elektromobilität meint die Substitution von Verbrennungsmotoren im Straßenverkehr durch Batterieantriebe. Im Kern handelt es sich dabei um eine der Zukunftsoptionen, auf die sich die Autoindustrie weltweit einstellt. In Deutschland wird sie verstärkt zum Thema, seitdem RWE sich massiv für diese Option einsetzt.[4] Offenbar ist hier an ein neues Zusatzgeschäft gedacht, analog der Einführung von Nachtspeicherheizungen in den 1960er Jahren. Ob aber die Verstromer über das Instrument Elektroauto zu Lasten der Ölkonzerne in den Markt der Mobilität eindringen dürfen, erscheint mehr als zweifelhaft. Schließlich beruhen die Marktstellung und der Unternehmenswert des "Big Oil" auf der Produktion flüssiger Kraftstoffe und ihrer Distribution an die Endverbraucher.

Viel spricht dafür, dass die Systementscheidung über künftige Mobilitätsformen von der Ölindustrie getroffen und in Richtung synthetisches Biofuel ausfallen wird. Was im Übrigen auch ökologische und volkswirtschaftliche Vorzüge hat, denn Verbrennungsmotoren können den Wechsel vom schmutzigen fossilen Öl zum weniger schmutzigen fossilen Energieträger Erdgas und schließlich zum regenerativen Energieträger Biogas bzw. Biofuel komplett begleiten. Sie erreichen immer bessere Wirkungsgrade, lassen sich beliebig skalieren und sind einsetzbar als Grundlastkraftwerk ebenso wie als Hausblockheiz­kraftwerk oder Automotor. Und sie sind am besten an die heute vorhandenen Energienutzungssysteme adaptierbar, so dass der gesellschaftliche Wechsel zur erneuerbaren Energie ohne gravierende Systembrüche und ohne die Entwertung bestehender Infrastrukturen möglich wird.

Konzernkomplize SPD

Die SPD hat seit jeher eine gespaltene energiepolitische Praxis. Zum einen ist sie – da die Energiewirtschaft vorwiegend in den urbanen Verbrauchsschwerpunkten siedelt und die SPD hier bis vor kurzem die Hegemonie besaß – Lobby und damit Teil des monopolistischen Energiekartells. Dieses Kartell umfasst Eon und Co., aber auch die kommunalen Weiterverteiler (in der Regel Stadtwerke). Andererseits gibt es unter den Stadtwerken auch solche, die auf die effiziente und umweltfreundliche Eigenproduktion von Strom und Heizwerke in Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen setzen und allein schon aus dieser Position heraus zu antimonopolistischen Kämpfern wurden. Außerdem wirken die SPD-Mitglieder an der Basis der Ortsvereine seit über 30 Jahren als wichtiges Ferment der atomkritischen Einstellung der Bevölkerung insgesamt. Allerdings hat sich die SPD in ihrer lobbyistischen Verstrickung so sehr gefesselt, dass sie in keinem der großen energiepolitischen Konflikte als Gesamtpartei wirkliches Profil entwickeln konnte. Seit langem wird die energiepolitische Positionierung der SPD de facto als Dissonanz lautstarker Einzelstimmen realisiert. Es gibt den Atomfan und RWE-Berater Minister a.D. Wolfgang Clement, den Chef des monatlichen "Energiepolitischen Frühstücks" der Bundestagsfraktion und Vattenfallberater MdB Reinhard Schultz, den Solarpapst MdB Hermann Scheer und den Atomgegner (und Kohleretter) Umweltminister Sigmar Gabriel. Und so fort.

Der SPD-Spitze scheint das zu genügen. Die von der Parteibasis geforderte Verpflichtung auf Kohle-kritische Positionen konnte sie auf dem letzten Parteitag gerade noch verhindern. Was führenden Grünen die Angst vor Niederlagen, ist führenden Sozialdemokraten die Angst vor der Festlegung. Warum dann nicht auch den gleichen eskapistischen Ausweg wählen? Steinmeier kupfert die industriekompatiblen Teile der grünen Zukunftsmusik einfach ab. "Zwei Millionen neue Arbeitsplätze sind machbar, denn wir werden das Zukunftsbündnis 'Elektromobilität' schmieden: Damit wollen wir es schaffen, dass Deutschland bei der Technik für Elektroautos Weltspitze wird", so Steinmeier Anfang August bei der Vorstellung seines kuriosen Deutschland-Plans.[5] Die Grünen erregten sich postwendend über Produkt-Piraterie. RWE konnte sich gleich dreimal über gelungene PR freuen. Die SPD-Orts- und Kreisvereinigungen, besser mit den Stimmungen der Bevölkerung vertraut, werden solche peinlichen Manöver kaum nachvollziehen. Sie versuchen seit längerem, populäre Positionen neoliberalismuskritischer Bewegungen gegen Privatisierung und für Rekommunalisierung in die Ursuppe der sozialdemokratischen Daseinsvorsorge einzurühren. Und dies, obwohl die SPD – von ganz oben bis herunter zu ihren kommunalen Führungseliten – vor zwei bis drei Jahren noch zu den Einpeitschern der Privatisierung öffentlichen Eigentums gehörte. Die SPD-Restbasis ist allerdings zumeist gegen Privatisierungen gewesen. Sie votiert heute engagiert gegen Kohle- und Atomkraftwerke und meint die Forderung nach Rekommunalisierung ohne Zweifel ernst. Auch bei der Linken spielt Rekommunalisierung als Schlüsselforderung für den Energiesektor eine wichtige Rolle. Ihre Unterstützer versprechen sich dadurch weniger Profitgier, mehr Gemeinwohl, mehr Ökologie und niedrigere Preise. Liegen sie damit richtig?

Rekommunalisierung – eine linke Zauberformel?

Leider nicht. Stadtwerke haben in der Vergangenheit vielen Unsinn der Großen mitgemacht. Hamburgs drei Atomkraftwerke entstanden, als Vattenfall noch HEW hieß und dem Stadtstaat gehörte. Auch heute stehen viele Stadtwerke Schlange, um bei großen Kohlekraftwerken dabei zu sein. Bei der Verteidigung des monopolistischen Netzregimes sind sie Bündnispartner gegen Verbraucherinteressen. Öffentliche Energieunternehmen zu besitzen, macht von allein weder bereit noch fähig, soziale und ökologische Energieprodukte anzubieten.

Man muss es schon wollen. Aber auch dann gibt es Hindernisse. Mit der Liberalisierung haben sich Technik, Verkaufsprozesse, die Märkte insgesamt verändert. Es sind neue Kompetenzen und erhebliche Investitionen gefragt. Wer dem Wettbewerb folgt und dabei sicher Geld verdienen will, muss sich in der Organisation und bei den Produkten weitgehend den marktbeherrschenden Konzernen angleichen und wird am Ende in ihr Lager überwechseln. Man kann diesen Prozess schon heute an den glatten, bemüht trendigen Websites der ganz großen Stadtwerke ablesen. Die Alternative besteht darin, über eine hohe, auf starker lokaler Identität beruhende Kundenbindung handlungsfähig für eine gemeinwohlorientierte Daseinsvorsorge zu bleiben (oder wieder zu werden). Gegenwärtig sieht es so aus, als würde dieser Weg nur selten und nur klein- und mittelstädtischen Stadtwerken möglich sein.

Allerdings: Der absehbare Bedeutungsverlust der öffentlichen Energieversorger ist kein großes Drama. Deren historische Legitimation bestand in der Herstellung gleicher und akzeptabler Lebensbedingungen in einer Zeit, in der kapitalistische Unternehmen dazu nicht bereit waren. Heute wird Energie überall angeboten. Die wesentliche Frage lautet jetzt, zu welchem Preis und auf Basis welcher Energieträger und Technologien. Um hierauf zu antworten, muss der Staat das Angebot entschlossen regulieren und wettbewerblich strukturieren, aber muss nicht selbst Konkurrent werden. Und dadurch Kapital binden, das sinnvoller dahin gehörte, wo es heute immer noch oder schon wieder so ungleich zugeht wie früher bei der Energie: in der Bildung, dem Gesundheitswesen, der Mediennutzung, der Mobilität.

Schlüsselprojekte für die nächsten Jahre

Sollten Kohle und Atom ihre gegenwärtige Rolle behalten, dann blockieren sie die Energiewende auf Dauer. Dann werden Mensch und Natur weiter unakzeptabel belastet und gefährdet. Dann verhindern ineffiziente Großkraftwerke und Grundlastdenken weiterhin die Kraft-Wärme-Kopplung und eine bedarfsgerecht steuerbare Energieproduktion in dezentralen Einheiten. Zur linken Energiepolitik gehört daher in jedem Fall und an erster Stelle der Kampf gegen die Atomenergie und die Durchsetzung höherer Verschmutzungskosten für die Kohleverstromung.

Dem müssen sich Schlüsselprojekte zur alternativen Weiterentwicklung des konventionellen Sektors zugesellen:

  die Übernahme der Strom-, Gas- und Wärmenetze in öffentliche Regie zur Sicherstellung einer diskriminierungsfreien allgemeinen Netznutzung und zur Entwicklung von Wettbewerb und Nachfragemacht im Massenmarkt;

  die Befreiung des Erdgases von monopolistischen Fesseln bei der Preisbildung durch Überwindung der Ölpreisbindung und Schaffung eines liquiden Marktes für Kraftwerksgas;

  die Ausweitung der Biogasproduktion durch gesetzliche Vorgaben zur fortschreitenden Substitution von Erdgas;

  die Ausweitung der Kraftstoffsynthese durch gesetzliche Vorgaben zur fortschreitenden Substitution von Mineralölprodukten in Verbrennungsmotoren[6]

Dies ist die realistische Antwort auf den eskapistischen Traum: Nur wer den konventionellen Sektor der Energiewirtschaft entschlossen und zielgerichtet transformiert, schafft den erforderlichen Spielraum für die erweiterte Nutzung der erneuerbaren Energieträger.

Dr. Christian Gotthardt ist Historiker und Unternehmensberater in Hamburg.

[1] Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung v. 25.7.2009.
[2] Monopolkommission: Strom und Gas 2009, Sondergutachten gemäß § 62 Abs. 1 EnWG, Bonn 2009.
[3] Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen: Elektromobilität umfassend fördern, Berlin 2009.
[4] www.rwe-mobility.com (10.8.2009).
[5] www.frankwaltersteinmeier.de (3.8.2009). Vgl. Ex-SPD-Wahlkampfmanager und Ministeraspirant Matthias Machnig: Wie der Durchbruch zum Elektroauto gelingen kann, Handelsblatt v. 5.8.2009.
[6] Vgl. hierzu: Gotthardt, Christian: Oligopol und Fortschritt, in: Pfeiffer, Hermannus (Hrsg.): Land in Sicht, Köln 2009 (erscheint im Herbst).

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