1. Mai 2006 Axel Gerntke

Solidarische Bürgerversicherung statt "Kauder"-Welsch der Großen Koalition!

"Zwei Züge rasen in der Gesundheitspolitik der Großen Koalition aufeinander zu: Bürgerversicherung versus Kopfpauschale" – dies ist das bestimmende Bild in der aktuellen Debatte um die nächste Gesundheits"reform". Die Konzepte von Union und SPD gelten dabei als antagonistisch.

Große Koalition: für "fairen Wettbewerb"

Untersucht man die einzelnen Konzepte und folgt man den Ankündigungen im Koalitionsvertrag, dann wird aber klar, dass die Parteien der Großen Koalition keineswegs soweit auseinander liegen, wie dies in der öffentlichen Debatte suggeriert wird. Die Große Koalition will einen "fairen Wettbewerb zwischen privaten Krankenversicherungen und gesetzlichen Krankenkassen und den Erhalt eines pluralen Systems und der Kassenvielfalt", heißt es im Koalitionsvertrag. Der Weg des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes soll weiter gegangen werden. Genannt werden im Koalitionsvertrag unter anderem die Erweiterung der Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten der Versicherten und die Intensivierung des Wettbewerbs um Qualität und Wirtschaftlichkeit.

Als "zwingende Voraussetzung einer stärker wettbewerblichen Orientierung der gesetzlichen Krankenversicherung" wird die "Vereinfachung und Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleiches" genannt, sodass die "Zielgenauigkeit erhöht und die Morbiditätsrisiken besser abgebildet" werden.

Das Problem der kommenden Gesundheitsreform liegt – wie noch im Einzelnen gezeigt werden wird – also nicht im angeblichen Antagonismus der unterschiedlichen Konzepte von Union und SPD, sondern in ihrer wettbewerbsorientierten Weichenstellung. Dies wird auch deutlich, wenn man sich die ursprünglichen Konzepte von Union und SPD noch einmal vergegenwärtigt.

Kopfpauschale der Union: Entlastung der Arbeitgeber und bessere Wettbewerbsposition für die PKV

Nach langem Gezerre wurde die Position der Union durch den gemeinsamen Beschluss der Präsidien von CDU und CSU im November 2004 fixiert.[1] Die Union plädiert gemäß diesem Beschluss dafür, den Arbeitgeberanteil auf maximal 6,5% einzufrieren und eine individuelle Gesundheitsprämie von 109 Euro als maximalen Arbeitnehmeranteil (höchstens 7% des Bruttomonatseinkommens) vorzusehen. Die Versicherung (auch der privatversicherten) Kinder soll aus einem Topf, der aus Steuermitteln und dem Arbeitgeberanteil gespeist wird, bezahlt werden. Das hierfür notwendige Steueraufkommen belief sich, je nach Berechnungsweise, auf jährliche Beträge im zweistelligen Milliardenbereich. Das Modell ist ein bürokratisches Monster und bereits deshalb schwer vermittelbar. Das darf aber nicht über seinen politischen Kern hinwegtäuschen. Politisch geht es um die massive Entlastung der Arbeitgeber von Solidaraufgaben und die Verschärfung der Konkurrenz zwischen den Kassen. Es geht um die "Entkoppelung von Lohn- und Gesundheitskosten". Die Parität soll auch formal aufgegeben werden. Durch das Einfrieren des Arbeitgeberanteils würde die Arbeitgeberseite nicht mehr zur Finanzierung künftiger Kostensteigerungen im Gesundheitswesen herangezogen werden. Die Position der privaten Krankenversicherungen in der Konkurrenz zu den gesetzlichen Kassen würde durch die Steuerfinanzierung der Kinder noch verbessert werden. Überdies ist die Übertragung der Solidaraufgaben auf den Steuerzahler ein sehr vages Versprechen an die Versicherten. Spätestens in den aktuellen Debatten um die Kürzung der Steuerzuschüsse zu den Sozialsystemen ist deutlich geworden, dass so eine "steuerfinanzierte Solidarität" nicht nachhaltig ist. Sie ist jedes Jahr wieder den Begehrlichkeiten des Finanzministers ausgeliefert. Hinzu kommt, dass angesichts der verteilungspolitischen Schieflage des Steuersystems eine solche Organisierung der Solidarität deutlich ungerechter ist, als das bisherige, grundsätzlich paritätische, beitragsfinanzierte System.

SPD: Bürgerversicherung für "mehr regulierten Wettbewerb"

Dem gegenüber hat die SPD ein Konzept für eine spezielle Form der Bürgerversicherung vorgelegt, dass in der öffentlichen Debatte oftmals als Alternative zum Kopfpauschalenkonzept diskutiert wird. Die SPD zielt auf eine Verstärkung und gleichzeitige stärkere Regulierung des Wettbewerbs im Gesundheitssystem. Dies gilt nicht nur für den Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern, sondern auch für den zwischen den Krankenkassen (auch zwischen GKV und PKV).

Die SPD will die vollständige Kassenwahlfreiheit, auch zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung, realisieren. Das heißt, auch die bisher in der GKV-Pflichtversicherten sollen die Möglichkeit haben, zur privaten Krankenversicherung zu wechseln. Dies soll aber im Rahmen eines "regulierten Wettbewerbs" stattfinden. Das heißt, diese Kassenwahlfreiheit hat zur Voraussetzung, dass die privaten Krankenversicherungen künftig einen Bürgerversicherungstarif anbieten müssen. Zu diesem Zweck soll ein Kontrahierungszwang eingeführt werden. Auch die privaten Krankenversicherungen werden danach – unabhängig vom Gesundheitszustand und der Höhe des Einkommens des Einzelnen – verpflichtet, mit allen, die eine Mitgliedschaft in der Versicherung wünschen, einen entsprechenden Vertrag abzuschließen. Dabei soll die Höhe des Beitrages – wie heute in der GKV – von der Höhe des Einkommens abhängen. Eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze ist allerdings nicht vorgesehen. Es soll ein Leistungskatalog angeboten werden, der dem der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht – also im Grundsatz auf Vollversicherung zielt.

Zudem schlägt die SPD vor, weitere Einkommen zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung mit heranzuziehen (wobei die Art und Weise, wie dies geschehen soll, innerhalb der Partei noch kontrovers diskutiert wird). Desweiteren soll der bisherige Risikostrukturausgleich, der heute nur innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung gilt, auch auf die private Krankenversicherung ausgedehnt werden.

Diese SPD-Vorschläge wurden von der privaten Versicherungswirtschaft mit dem Argument kritisiert, sie gefährdeten die Existenz der privaten Krankenversicherung. Wahrscheinlicher ist das genaue Gegenteil: Durch die Verschärfung der Konkurrenz mittels vollständiger Kassenwahlfreiheit zwischen GKV und PKV wird mittelfristig das Weiterbestehen der gesetzlichen Krankenversicherung in Frage gestellt. Die Privatversicherten weisen eine höhere Finanzkraft auf. Es handelt sich in der Tendenz um die "besseren Versicherungsrisiken". Bei einer vollständigen Wahlfreiheit zwischen PKV und GKV besteht mittelfristig die Gefahr, dass die private Krankenversicherung diesen Konkurrenzvorteil nutzt, um die GKV zu eliminieren. Zumindest droht die gesetzliche Krankenversicherung soweit unter Druck zu kommen, dass in immer stärkerem Maße privatwirtschaftliche und nicht sozialstaatliche Kriterien zum Maßstab der Politik der GKV gemacht werden.

Dagegen wird eingewandt, dass ein solches "Kaputtkonkurrieren" nicht möglich sei, weil der Risikostrukturausgleich die unterschiedliche Risikostruktur zwischen Versicherungen innerhalb der GKV und der PKV einebnen würde. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass der heutige Risikostrukturausgleich die unterschiedliche Risikostruktur zwar abmildert, aber nicht ausgleicht. Er hat im Wesentlichen die Kriterien Einnahmehöhe (Finanzkraft), Geschlecht, Bezug einer Erwerbsminderungsrente bzw. einer EU-Rente sowie das Lebensalter zur Grundlage. Damit werden aber nicht alle Risiken gleichmäßig abgedeckt. Aus diesem Grund besteht bereits heute ein gesonderter Hochrisikopool, der Krankheitsfälle, die mit überdimensionalen Kosten verbunden sind, gesondert abrechnet. Die Existenz des Pools zeigt, dass in der Gesundheitspolitik der Tatsache Rechnung getragen werden musste, dass der aktuelle Risikostrukturausgleich nicht ausreicht, die unterschiedliche Risikostruktur in den jeweiligen Kassen zu kompensieren und Risikoselektion zu unterbinden. Daher ist es unverantwortlich, eine Kassenwahlfreiheit zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung für alle einzuführen.

Die dargestellte Kritik gilt auch hinsichtlich eines künftigen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleiches (Morbi-RSA). Erstens ist festzustellen, dass die SPD einen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich nicht zur Voraussetzung ihres Bürgerversicherungskonzeptes erklärt. Zweitens scheint es erhebliche politische Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung des Morbi-RSA zu geben. Seine Einführung war ursprünglich für 2007 geplant, der Termin kann aber offensichtlich nicht gehalten werden. Inhaltlich bestehen zu dem erhebliche Kontroversen darüber, welche Kriterien der Morbidität für die Ausgestaltung eines Risikostrukturausgleiches heranzuziehen sind. Als weiteres Problem kommt hinzu, dass die privaten Krankenversicherungen Gewinne machen wollen. Es kann nicht verhindert werden, dass Krankenkassen und Anbieter von Gesundheitsleistungen im Rahmen eines Konzerns zusammengeschlossen werden. Diese Anbieter haben dann die Möglichkeit, ihre private Krankenversicherung intern durch künstliche Preise zu subventionieren und sich so Konkurrenzvorteile zu verschaffen.

Fazit: Das SPD-Konzept zur Bürgerversicherung enthält zwar einige sinnvolle Anknüpfungspunkte, wie beispielsweise die Verbeitragung nach finanzieller Leistungsfähigkeit und die Einbeziehung weiterer Einkommen in die Beitragspflicht. Im Kern zielt das Konzept aber auf mehr Wettbewerb, auch zwischen privaten und gesetzlichen Kassen. Der immanenten Logik dieser Konzeption folgend, ist es deshalb auch konsequent, eine vollständige Wahlfreiheit zwischen gesetzlicher und privater Kasse für alle zuzulassen. Damit wird aber auf längere Sicht der Bestand der gesetzlichen Krankenversicherung zur Disposition gestellt. Dies steht im diametralen Gegensatz zum eigentlichen Grundgedanken der Bürgerversicherung, ein solidarisches System für alle zu gewährleisten.

Kauder: Melange aus Wettbewerbsorientierung und Arbeitgeberentlastung

Die Konzepte von Union und SPD und die Programmatik des Koalitionsvertrages belegen, dass erhebliche Schnittmengen zwischen den Koalitionspartnern bestehen. Wettbewerb als Steuerungsinstrument des Gesundheitswesens ist unumstritten und soll ausgebaut werden. Auch die Entlastung der Arbeitgeber scheint konsensfähig, lediglich die Wege werden diskutiert. So lehnt die SPD dankenswerter Weise nach wie vor das Einfrieren des Arbeitgeberbeitrages ab. Sie problematisiert aber nicht, dass die von ihr geforderte Verbeitragung aller sonstigen Einkommen die paritätische Finanzierung unterminiert, wenn keine kompensierenden Maßnahmen erfolgen (da beispielsweise den Beiträgen aus Zins-Einnahmen kein entsprechender Arbeitgeberanteil gegenübersteht).

Nun hat der Generalsekretär der CDU, Volker Kauder, einen "Dritten Weg" präsentiert,[2] der aus dem Vorrat der genannten Gemeinsamkeiten schöpft und diese interessengeleitet zusammenfasst. Aus der Reaktion in den Reihen der Großen Koalition und in der Öffentlichkeit auf diesen Versuchsballon werden dann die entsprechenden Schlussfolgerungen gezogen.

Kauders Eckpunkte lauten:

  Alle Kinder, also auch die privat versicherten, sollen künftig aus Steuermitteln versichert werden. Die Finanzierung der hierfür erforderlichen 14 bis 16 Milliarden Euro im Jahr soll entweder über einen Zuschlag auf die Einkommenssteuerschuld in Höhe von acht Prozent oder über drei Prozent mehr Steuern aufs Einkommen erfolgen.

  Sollten die Kosten in der Krankenversicherung steigen, müsse darüber nachgedacht werden, sie über eine Prämie, die allein vom Versicherten zu entrichten wäre, abzudecken. Die Höhe der Beitragsbemessungsgrenze (z.Z. 3.563 Euro) wird nicht in Frage gestellt. Die Zuzahlungen hätten sich bewährt, hier müsse allerdings "durchkontrolliert" werden, was unter den Begriff "chronisch krank" falle.

  Zudem will Kauder die Kassenwahlfreiheit für alle, das heißt die Aufhebung der Versicherungspflicht in der GKV.

  Ein weiterer Bestandteil des Konzeptes ist die Überweisung der Beiträge an einen Fonds, der dann zwischen 150 und 170 Euro pro Versicherten an die jeweilige Krankenkasse weiterreicht. Laut Kauder sei dann der bürokratische Finanzausgleich zwischen armen und reichen Kassen nicht mehr erforderlich. Es bedürfe dann nur noch einer Ausgleichszahlung für die unterschiedliche Altersstruktur der Kassen. Im Klartext heißt dies, dass der Risikostrukturausgleich nach Kauders Vorstellungen nicht morbiditätsorientiert erfolgen soll. Er würde vielmehr beschnitten, weil er nur noch am Kriterium "Alter" ausgerichtet wäre. Damit würde "Risikoselektion" (Ausgrenzung von Menschen mit überdurchschnittlichem Behandlungsaufwand) für die Kassen noch stärker als bisher zum Handlungsfeld im Wettbewerb.

Damit hat sich Volker Kauder nahezu alle Bösartigkeiten aus den Konzepten von Union und SPD zusammengesucht und hieraus eine Melange aus Wettbewerbsorientierung und Arbeitgeberentlastung gerührt.

Auf Kauders Vorpreschen folgten prompt zahlreiche Dementis aus den Reihen von Union und SPD. Fast kein Elemente des Kauder-Vorschlags steht zur Zeit bereits fest. Gleichwohl verdeutlicht der Vorgang, wohin die Reise gehen kann, wenn sich kein Widerstand regt. Um aber dem Widerstand eine Richtung zu geben, müssen die eigenen gewerkschaftlichen Konzepte konkretisiert und in der Öffentlichkeit noch stärker verankert werden.

Die Alternative: Solidarische Bürgerversicherung

Die Alternative zu den bisher diskutierten Konzepten ist eine solidarische Bürgerversicherung, die auf die Ausweitung der gesetzlichen Krankenversicherung zielt.

Dabei ist es notwendig, an den ursprünglichen Prinzipien[3] der gesetzlichen Krankenversicherung anzuknüpfen und sie weiter auszubauen anstatt sie der Wettbewerbsorientierung zu opfern. Es geht darum, die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung ergiebiger und gerechter zu gestalten, den versicherten Personenkreis auszuweiten und Solidarität als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Die solidarische Bürgerversicherung kann zudem dazu beitragen, die Anbieterdominanz zurückzudrängen und so Unter-, Fehl- und Überversorgung zu minimieren. Die Krankenkassen sollten als Interessenvertreter der Patientinnen und Patienten gegenüber den aktuell dominierenden Anbietern gestärkt und nicht durch Konkurrenz weiter geschwächt werden.

Eckpunkte einer solidarischen Bürgerversicherung

Erster Eckpunkt einer solchen Bürgerversicherung ist die Einbeziehung aller Neufälle (aller Selbstständigen, Beamten, Freiberuflern sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oberhalb der bisherigen Versicherungspflichtgrenze) in die GKV.

Als zweiter Eckpunkt wäre die Finanzierung nach Leistungsfähigkeit zu nennen. Die Höhe der Beiträge müssten entsprechend dem Einkommen steigen. Unter Einkommen wäre nicht nur das Arbeitseinkommen, sondern auch alle anderen Einkommensarten zu verstehen. Negative Einkommen dürften dabei lediglich das Kapitaleinkommen, nicht aber das Arbeitseinkommen rechnerisch mindern. Verlustvor- und -nachträge sollten nicht zulässig sein.

Dem Grundsatz der Verbeitragung nach finanzieller Leistungsfähigkeit würde konsequent dann Rechnung getragen werden, wenn die Beitragsbemessungsgrenze nicht nur angehoben, sondern aufgehoben werden würde. Eine solche Lösung wäre auch aus ordnungspolitischer Sicht sinnvoll. Schwierigkeiten wie sie sich bei einer unterschiedlichen Heranziehung von Arbeits- und Kapitaleinkommen ergeben würden, bestünden nicht. Die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze hätte zur Folge, dass das gesamte monatliche Erwerbseinkommen der Beitragsbemessung unterzogen würde.

Sollte dies nicht gewünscht oder nicht durchsetzbar erscheinen, könnte man auch an eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze, beispielsweise auf das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung (derzeit 5.250 Euro), denken. Hier existieren Überlegungen, Kapital- und Arbeitseinkommen in zwei getrennten Säulen jeweils bis zur neuen Beitragsbemessungsgrenze zu verbeitragen. Dies soll das Problem abmildern, dass ansonsten Bezieherinnen und Bezieher von Arbeits- und Kapitaleinkommen, die insgesamt unter der Beitragsbemessungsgrenze liegen, schlechter gestellt werden als diejenigen, die ein Arbeitseinkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze haben und darüber hinaus noch zusätzliche Einkünfte aus Kapital erzielen. Aber auch das Zwei-Säulen-Modell führt zu nicht nachvollziehbaren Ungleichbehandlungen. Wer 4.250 Euro Arbeitseinkommen und 6.250 Euro Kapitaleinkommen hat, wäre besser gestellt, als derjenige mit jeweils 5.250 Euro Kapital- und Arbeitseinkommen. Insoweit wäre die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze die bessere Lösung.

Bei Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der GRV belaufen sich die zusätzlichen Einnahmen nach INIFES-Angaben[4] auf rund 0,4 Beitragspunkte. Die Ausweitung des versicherten Personenkreises führt zu Mehreinnahmen von etwa 0,9 Beitragspunkten und die Verbeitragung sonstiger Einkommen von ca. 0,2 bis 0,3 Beitragspunkten. Da die Effekte sich gegenseitig kumulieren, liegt der Gesamteffekt bei über 2 Prozentpunkten. Die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze und die Aufhebung von Mini- und Midi-Jobs ist in den Berechnungen noch nicht enthalten. Auch eine mögliche positive Wirkung von Lohnerhöhungen oder dem Abbau der Arbeitslosigkeit sind nicht berücksichtigt. Die zusätzlichen Einnahmen sollten nicht nur für Beitragssatzstabilität, sondern auch für Leistungsverbesserungen genutzt werden.

Mit der Verbeitragung aller Einkommen geht einher, dass die paritätische Finanzierung nicht gewährleistet ist, weil der Verbeitragung der sonstigen Einnahmen der Versicherten kein entsprechender Arbeitgeberanteil gegenübersteht. Zur Lösung dieses Problems ist es erforderlich, die Beitragsüberwälzung für das Krankengeld auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zurückzunehmen. Um die Parität wieder herzustellen, ist zudem an die Erhebung einer zusätzlichen Arbeitgeberabgabe zu denken.

Mit Blick auf das Leistungsniveau ist es außerdem erforderlich, die Zuzahlungen zu reduzieren, weil sie die Versichertenseite einseitig belasten, und den Leistungskatalog auszuweiten, um dem Grundsatz der Vollversicherung tatsächlich Rechnung zu tragen (Beispiel Zahnersatz).

Mangelnde Akzeptanz beim Großteil der Lobbygruppen

Die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung würde das Wirkungsfeld der privaten Krankenversicherungen drastisch beschneiden, weil die Gesundheitsvorsorge der Menschen damit nicht mehr in erster Linie Bestanteil einer Kapitalanlage wäre, sondern sozialstaatlich reguliert wird.

Die Beamtenverbände verteidigen die privilegierte medizinische Versorgung der Beamten auf dem Niveau privater Versicherungen für die sie staatliche Zuschüsse von bis zu 70% erhalten. Auch Ärzteverbände lehnen ein solches Konzept ab, da ihrer Klientel erhebliche Einbußen bei der Vergütung drohen. Die Pharmalobby muss befürchten, dass ihrer Anbieter-Dominanz durch eine solidarische Bürgerversicherung eine stärker gebündelte Nachfrage gegenübersteht und sie hinsichtlich ihrer Preisgestaltung nicht mehr so frei ist wie bisher.

Diese Bedenken sind aus Sicht der jeweiligen Lobby nachvollziehbar. Maßstab einer Gesundheitsversorgung für alle können aber nicht die Sonderinteressen von Lobbygruppen sein. Deren Motive liegen auf der Hand. Da diese in der öffentlichen Debatte schlecht zu verkaufen sind, werden mehr oder weniger nachvollziehbare Argumente gegen die solidarische Bürgerversicherung konstruiert.

Das eine lautet, dass die Gewerbefreiheit der privaten Krankenversicherung unzumutbar eingeschränkt werde, wenn die GKV mit vollem Leistungskatalog Pflichtversicherung für alle wird. In der Tat würde die Gewerbefreiheit der PKV erheblich eingeschränkt. Schon jetzt ist die Gewerbefreiheit der PKV durch die Existenz einer GKV-Pflichtversicherung, die weit über 80% der Versicherten umfasst, erheblich eingeschränkt. Durch die Umsetzung einer solidarischen Bürgerversicherung als Pflichtversicherung würden diese Grenzen noch enger gezogen. Eine solche Einschränkung ist sozialpolitisch und verfassungsrechtlich aber angemessen, weil das Interesse an einem funktionierenden solidarischem Gesundheitssystem schwerer wiegt als das Interesse an der Gewerbefreiheit für die PKV.

Ein weiteres Argument wird mit Blick auf die Beamten formuliert. Das verfassungsrechtlich geschützte Berufsbeamtentum werde unterlaufen, wenn neue Beamte in die GKV gezwungen würden. Unabhängig von der Frage, ob das Berufsbeamtentum überhaupt noch zeitgemäß ist und für welche staatlichen Aufgabenbereiche es zwingend erforderlich ist, bleibt demgegenüber festzuhalten, dass der öffentliche Arbeitgeber zwar verpflichtet ist, die Gesundheitsversorgung seiner Beamten sicherzustellen, dass aber die Art der Leistungserbringung keineswegs Kernbestandteil des Berufsbeamtentums ist.

Wenn vorgebracht wird, dass die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze das Äquivalenzprinzip aushebele, ist dem entgegenzuhalten, dass das Äquivalenzprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung außer beim Krankengeld sowieso keine wesentliche Rolle spielt. Auch ein Versicherter, der heute bis zur Beitragsbemessungsgrenze Beiträge zu entrichten hat, kann keineswegs sicher sein, dass er in seinem Leben jemals Gesundheitsleistungen beansprucht, die in einem angemessenen Verhältnis zu seinen Einzahlungen stehen. Zum Wesen einer Risikoversicherung gehört es eben, dass der Risikofall nicht unbedingt eintritt. Insoweit scheint eine Begrenzung der Beitragsbemessung auf das heutige Niveau oder auch auf das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung willkürlich, zumindest aber nicht aus verfassungsrechtlicher Sicht zwingend.

Solidarische Bürgerversicherung ist der Kern einer neuen Ordnung des Gesundheitssystems

Die solidarische Bürgerversicherung ist die Alternative zu Wettbewerbslogik und Sozialabbau. Gleichwohl stellen sich mit diesem Konzept weitergehende Fragen. Die gesetzliche Krankenversicherung, wie sie gegenwärtig ausgestaltet ist, mit ihren diversen Kassenarten und weit über 200 Kassen ist ineffizient und der Wettbewerbslogik verhaftet. Zwar hat der bisherige Wettbewerb zwischen den Kassen auch zu Effizienzerhöhungen und Einsparungen der Versicherten geführt. Zum Teil hat sich auch die Betreuung der Versicherten verbessert. Gleichwohl dominieren unterm Strich die negativen Elemente des Wettbewerbs (Ausgrenzung von Versicherten, Kostenüberwälzung auf Versicherte, Reduzierung des Leistungskatalogs, Schwächung der Nachfragemacht "Krankenkasse").

Aus diesem Grunde ist es unabdingbar, die Struktur in der gesetzlichen Krankenversicherung zu überdenken. Die Notwendigkeit unterschiedlicher Kassenarten ist äußerst fraglich. Über dies bedarf es eines Dachverbandes, der es ermöglicht, dass die Kassen als einheitliche Nachfrager gegenüber den Anbieter-Kartellen auftreten können. Zudem bedarf es – trotz aller dargestellten Probleme – eines morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleiches. Dieser ist auch in einem System, das ausschließlich auf gesetzlichen Krankenkassen beruhen würde, erforderlich, um Selektionseffekte im Rahmen dieses GKV-Systems zu minimieren.

Die solidarische Bürgerversicherung muss ein Gegengewicht zur bisherigen Anbieterdominanz darstellen. Wie ein solches System gesteuert werden kann und welche demokratischen Elemente ausgebaut werden müssen, bedarf der weiteren Debatte.

Solidarische Bürgerversicherung gegen Wettbewerbsorientierung und Sozialabbau

Die Vorstellungen zur solidarischen Bürgerversicherung sind angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse kurzfristig nicht durchsetzbar. Sie zeigen aber, dass es Alternativen zu Wettbewerbslogik und Sozialabbau gibt, die als zentrale Bausteine der anstehenden Gesundheits"reform der Großen Koalition zu erwarten sind. Nun gilt es, in der Bevölkerung und in interessierten Kreisen der Öffentlichkeit für das Konzept der solidarischen Bürgerversicherung zu werben und mittelfristig die gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen für seine Umsetzung zu realisieren. Damit bekommen auch die Abwehrkämpfe gegen weiteren Sozialabbau im Gesundheitswesen eine Perspektive.

Axel Gerntke ist Gewerkschaftssekretär im Funktionsbereich Gesellschaftspolitik/Grundsatzfragen des IG Metall-Vorstands.

[1] Das später beschlossene Wahlprogramm der Union ist demgegenüber wesentlich unkonkreter. Um den Kern des Konzeptes erfassen zu können, ist der hier zitierte Beschluss der Präsidien von CDU und CSU aber aufschlussreicher.
[2] Stern 16/2006, S. 42ff.
[3] Zu nennen sind insbesondere: Solidarprinzip (Gesunde für Kranke, Höherverdienende für Niedrigverdienende, Jüngere für Ältere sowie Einzel-Versicherte für Familien-Versicherte), paritätische Finanzierung, Vollversorgung, Sachleistungsprinzip, Umlagefinanzierung.
[4] A. Pfaff u.a., Finanzierungsalternativen der Gesetzlichen Krankenversicherung: Einflussfaktoren und Optionen zur Weiterentwicklung, Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung, Februar 2006, www.inifes.de

Zurück