1. März 2003 Joachim Bischoff

Sozialdemokratie: Erneuerung oder Niedergang?

Die neue Sozialdemokratie versteht sich als Partei der Mitte. Mit diesem Selbstverständnis hat sie kein Glück. In der Mitte befinden sich nämlich Gewinner und Verlierer des Strukturwandels. Der Wandel ist aber nicht auf die Mitte beschränkt. So verprellt die Sozialdemokratie, wie Joachim Bischoff zeigt, alle Seiten. Auf das Versprechen dynamischen Wachstums hin werden Arbeitsmärkte und Sozialstaat blind angepasst. Die Folge: eine weitere Erosion der Wählerbasis.

Die Wahlen in Hessen und Niedersachsen haben für die Sozialdemokratie das vorher gesagte desaströse Ergebnis gebracht. Der "Denkzettel" veranlasste die Vertreter des "linken Parteiflügels", sich mit Aufrufen zu einem Kurswechsel zu Wort zu melden. Der frühere Parteivorsitzende Lafontaine höhnte in der Bild-Zeitung, die Partei habe die Quittung für eine arbeitnehmerfeindliche Politik erhalten. Neoliberalismus in rote Watte zu verpacken, bringe bei den unteren sozialen Schichten keine WählerInnenstimmen. Hinter diesen Aktionen des politischen Karnevals steht die Frage: Hat die Sozialdemokratie eine Zukunft?

SPD-Superminister Clement räumt ein, dass über 4,6 Millionen Arbeitslose zu Beginn des Jahres 2003 nicht für eine erfolgreiche Politik sprechen. Ein Nachdenken darüber, ob die Konsolidierungspolitik der Koalitionsregierung selbst einen gehörigen Anteil an der Verunsicherung der Wählerbasis hat, ist nicht im Ansatz zu erkennen. Ganz auf der Linie der Politik bürgerlicher Parteien wird der Ausweg aus den ökonomisch-sozialen Strukturproblemen in einer "Reform" der sozialen Sicherungssysteme gesucht. In immer kürzeren Zeiträumen muss die Regierung auf die durch das unzureichende Wirtschaftswachstum entstandenen neuerlichen Defizite in den öffentlichen und Sozialkassen mit einer radikaler "Reform" – d.h. weiterer Privatisierung von Kosten und Risiken – reagieren. Die im Sinne der Hartz-Kommission verwirklichte Politik der Aktivierung der Arbeitslosen wird mit erheblichen Kürzungen der Lohnersatzleistungen verbunden.[1] Die Effekte dieser Operation: Die Arbeitslosigkeit wird für die Gesellschaft billiger. Gleichzeitig führen die Kürzungen beim Lebensnotwendigen zu einer weiteren Beschneidung der gesamtgesellschaftlichen Nachfrage und damit zu einer politisch riskierten Erhöhung der Arbeitslosigkeit, womit – wenn eine weitere Erhöhung der Sozialabgaben vermieden werden soll – neue Kürzungen bei den sozialen Sicherungssystemen programmiert sind.

Offenkundig sehen größere Teile der Mitglieder und WählerInnen der Sozialdemokratie in dieser inhaltlichen Ausgestaltung von gesellschaftlichen "Reformen" keine Umsetzung ihrer Interessen. Und die weiteren Programme versprechen keine Entwarnung: Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe bringt für die "Krisenopfer" eine fortgesetzte Absenkung der Lohnersatzzahlungen, ohne dass die verantwortlichen Kommunen, die einen Teil der Aufwendungen zu tragen haben, bislang finanziell deutlich entlastet würden. Bei der Gesundheits-"reform" zeichnet sich eine höhere Eigenbeteiligung der BürgerInnen ab, die gleichzeitig mit einer Beschränkung des Leistungsangebotes der gesetzlichen Krankenversicherung einhergeht. Schließlich hat eine weitere Verschlankung des öffentlichen Dienstes hohe Priorität in der sozialdemokratischen Strategie.

"Die Haushaltskonsolidierung geht jetzt erst richtig los", verkündet Finanzminister Eichel. Größere Eigenvorsorge und Entsolidarisierung sollen helfen, die Ökonomie – sprich die Kapitalakkumulation – wieder ins Lot zu bringen. Die bürgerlichen Parteien fordern mehr Konsequenz in dieser Politik der Deregulierung und Privatisierung, weil ansonsten das Wirtschaftswachstum nicht durchgreifend verbessert werden könne. Die europäische Sozialdemokratie hat sich diese "Reform"logik – höheres Wirtschaftswachstum durch Sozialabbau und Flexibilisierung – als politische Philosophie zu Eigen gemacht. Eingewoben ist diese Konzeption in die früher von Neokonservativen und Neoliberalen propagierte TINA-Formel: Diese Politik sei alternativlos, weil sie "Spielräume für Zinssenkungen eröffnet", weil sie neue Möglichkeiten "für eine schnelle und erfolgreiche Eingliederung von Arbeitslosen" schaffe und weil nur die Sozialdemokratie für die unverzichtbare Balance von Modernisierung und sozialer Gerechtigkeit sorgen könne.

Die zaghaften Stimmen am linken Rand der Volkspartei warnen vor der Fortsetzung dieser Politik, aber eine realistische Chance, auch nur eine parteiinterne Debatte zu erzwingen, ist nicht gegeben. Mehr noch: Auch in den Nachbarländern befindet sich die politische Formation Sozialdemokratie / Sozialisten in einem ähnlichen Krisenzustand. Die Aussichten der europäischen Sozialdemokratie als politische Organisation und Wahlformation zur Gestaltung der Politik sind gleichermaßen perspektivlos.

Bei den Landtagswahlen handelt es sich daher nicht um einen einmaligen politischen Erdrutsch zu Lasten der Sozialdemokratie. Erneut sichtbar geworden ist vielmehr eine chronische Krise der europäischen Sozialdemokratie, die sich zwar nicht in jeder einzelnen Wahl niedergeschlagen hat, wohl aber als tendenzieller Niedergang im letzten Jahrzehnt. Der Parteienforscher Peter Lösche verweist auf drei Gründe: "Erstens die Krise der traditionellen Industriegesellschaft (...), des Facharbeitermilieus. Die Einheit von Wirtschaftswachstum und sozialem Fortschritt, der Keynesianismus kamen an ihr Ende. Zweitens, die Globalisierung, also die Rückkehr eines extremen Kapitalismus (...) Im Zeichen des neuen Manchesterkapitalismus machen Armut und Elend sich breit, sozialdemokratische Stammwähler, qualifizierter Arbeiter und kleinere Angestellte geraten in Bedrängnis. Drittens der Rückzug des Staates auf sich selbst".[2] Gehen wir diesen Hinweisen nach.

Von den sozialdemokratischen Modernisierern wie Schröder, Clement, Müntefering etc. wird die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie neu beleuchtet: "Politisch gesehen, war die SPD immer eine Partei der Mitte". Wer das sagt, weiß, wovon er redet: Aus "kleinen, manchmal auch ärmlichen Verhältnissen" habe sich der Kanzler hochgearbeitet. Nicht mehr die Herkunft, also Stand und Klasse, sondern Leistung, Bildung und Aufstieg bestimmen den Platz in der Gesellschaft. "Da sind wir angekommen", lautet Schröders Bilanz. Diese Mitte habe eine wichtige Funktion: Durch die Reformkräfte der Mitte werde der Zusammenhalt der Gesellschaft organisiert, indem sie Ausschluss und Ausgrenzung verhindern: zum einen den selbst gewollten Ausschluss der besitzenden Klassen, die sich durch Steuerflucht der Verantwortung für das Gemeinwesen entziehen; zum anderen die Ausgrenzung der mittellosen Klassen, indem die Reintegration in den Arbeitsmarkt gefördert – und gefordert – wird. Die Botschaft lautet: Die Rechte grenzt aus, die Mitte integriert.

Der SPD-Vorsitzende unterstreicht: "Moderne Sozialdemokraten haben die Globalisierung angenommen. Und das zu einem Zeitpunkt, als die einen noch in Untätigkeit verharrten oder nationale Alleingänge propagierten und die anderen Modernisierung für ›Gerede‹ hielten."[3] Die modernisierte Sozialdemokratie will die enormen Chancen, die in dem neuen Entwicklungsabschnitt der Weltwirtschaft stecken, nutzen, zugleich aber auch eine politische Gestaltung der Globalisierung durchsetzen. Das wichtigste Projekt und zugleich größter Regierungserfolg – so Schröder – sei dabei die Europäische Einigung: "Gerade uns Europäern bieten sich mit der Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union großartige Möglichkeiten für eine Politik des sozialen Ausgleichs, der Chancengerechtigkeit und der wirtschaftlichen Entwicklung."[4] Die modernen Sozialdemokraten bestreiten nicht die Schwierigkeiten der noch zu lösenden Aufgaben: vor allem den europäischen Kontinent zu einem Ort des dauerhaften Friedens und des Wohlergehens zu machen, das Prinzip der Nachhaltigkeit in der Ökologie, der Produktion überhaupt und in der Finanz- und Haushaltspolitik durchzusetzen und dabei nicht nur die Angebotseite (das Kapital), sondern auch die Nachfrageseite (Private Haushalte, Familien) zu bedienen. Es geht künftig um Reform in Permanenz. "Und das heißt für uns Sozialdemokraten: die beständige Modernisierung und Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft, Innovation und Gerechtigkeit. Oder wenn Sie so wollen: Chancen-Management durch permanente Reform, gerade in Zeiten rasant beschleunigter Entwicklung."[5]

Das qualitativ Neue in der sozialdemokratischen Strategie werde – so die SPD-Führung – durch die Globalisierung und den verengten Spielraum der politischen Gestaltung von Wirtschafts- und Akkumulationsprozessen erzwungen. Der Parteienforscher Joachim Raschke fasst den Paradigmenwechsel der Sozialdemokratie gegenüber den fünfziger und sechziger Jahren, also der Hochzeit des Fordismus, folgendermaßen zusammen: "Die Maßstäbe der Gerechtigkeit selbst müssen dynamisiert werden. Soziale Gewinn- und Verlustrechnungen können nicht mehr allein auf den Status quo bezogen werden, sie müssen auch mögliche positive Veränderungen nach einer Besitzstandsminderung in die Gerechtigkeitsbilanz mit einbeziehen."[6] Soziale Gerechtigkeit heiße im Zeitalter des globalisierten Kapitalismus nicht mehr Steuerung der Kapitalakkumulation, Sicherung der Arbeitseinkommen und Schaffung von sozialem Ausgleich durch Transfers und öffentliche Leistungen, sondern Hinnahme von mehr sozialer Ungleichheit durch die eigentumslosen Schichten, um zu einer höheren Dynamik der Kapitalakkumulation und des Wirtschaftswachstums zu kommen. Raschke schreibt konkret: "Wenn ein begrenzter Umbau des Kündigungsschutzes mehr Beschäftigung und mehr Unternehmensdynamik verspricht, gibt es gute Gründe für einen solchen Tabubruch – auch in den Augen der Betroffenen. Ähnliches gilt für einen breiten Ausbau des Niedriglohnsektors, wo die Gewerkschaften jahrelang als Bremser auf getreten sind."[7]

Tabubrüche

Auf die Erwartung hin, es könne eine höhere wirtschaftliche Dynamik erreicht werden, sollen die Lohnabhängigen nicht nur substanzielle Abstriche an ihren sozialen Rechten hinnehmen, sondern dies – anders als unter dem Vorzeichen einer bürgerlichen "Reformpolitik" – als sozialdemokratische Regierungspolitik auch gutheißen. Mit dieser Grundkonzeption ist ein chronischer Krisen- und Niedergangsprozess programmiert. Dessen wichtigsten Faktoren sind:

  Es kommt zu einer wachsenden Entfremdung von Gewerkschaften und Sozialdemokratie.

  Der beschleunigte und politisch gewollte Strukturwandel erhöht die Verunsicherung und gesellschaftlichen Ängste von sozialen Schichten, deren Vertretung die Sozialdemokratie beansprucht.

  Der Verlust eines Großteils der sozialen Basis verstärkt den Wandel der Organisationsstrukturen. Die Ortsvereine sind immer weniger die Basis der Willensbildung; das Delegationsprinzip wird ausgehöhlt und die Partei gleicht mehr und mehr einer Veranstaltung der Funktionsträger ("party in public office").

  Die Wahlwerbung wird auf professionelle Agenturen verlagert. Deren Effizienz kann aber die mangelnde Motivation der eigenen Mitgliedschaft und die wachsenden Wahlabstinenz bestenfalls eindämmen.

Gemeinsame Perspektive mit den Gewerkschaften?

Die überlieferte fordistische Arbeitsorganisation löst sich auf. Mit dem Verschwinden der Facharbeiter-Milieus wird auch das ehrenamtliche Element rar, das sowohl für die Gewerkschaften, die nahestehenden Sozial- und Freizeitorganisationen als auch für die Sozialdemokratie das Gerüst für die politische Willensbildung darstellte. "Die Geschichte des 20. Jahrhunderts war seit 1973 die Geschichte einer Welt, die ihre Orientierung verloren hat und in Instabilität und Krise geschlittert ist." (Hobsbawm) Der "Erdrutsch" in den ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnissen, ausgelöst durch die Weltwirtschaftskrise Mitte der 70er Jahre, hat die sozialen Kräfteverhältnisse weltweit verändert.

Im flexiblen Kapitalismus mit den "atmenden Fabriken" und einer völlig veränderten Arbeitsorganisation, sind die zur Flexibilität angehaltenen Subjekte mehr denn je auf Sicherheit und Risikoabschirmung angewiesen. Für die Mehrheit der Bevölkerung führt der beschleunigte gesellschaftliche Wandel zu einer starken Verunsicherung ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse, die durch verschärften Leistungsdruck und die sukzessive Privatisierung der sozialökonomischen Risiken geprägt sind. Die starke Verbreitung von Zukunftsängsten ist Ausdruck von gesellschaftlicher Ohnmacht gegenüber dieser Entwicklung und der Unfähigkeit der Steuerung dieser Entwicklung durch die Politik. Der frühere Wahlkampfmanager der SPD Machnig fasst zusammen: "Wandel hat immer etwas Beunruhigendes für Menschen, denn er lässt Zukunft prinzipiell als mit Ungewissheiten behaftet erscheinen. Beschleuniger Wandel, wie wir ihn seit beinahe zwei Jahrzehnten in den entwickelten Gesellschaften des Westens erleben, lässt Unsicherheit zu einer Art Dauerthema werden."[8] Auf dieses Dauerthema hat die Sozialdemokratie keine Antwort. Je nach dem wie stark dies zu Tage tritt, fällt die Wählerflucht bald stärker, bald schwächer aus.

Die Tatsache, "dass es keine in den Grundsätzen gemeinsame Perspektive von SPD und Gewerkschaften über die Reform des Sozialstaates, mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft, die Zukunft der Erwerbsarbeit und die Erneuerung der Arbeitsgesellschaft gibt",[9] zwingt die Interessenorganisationen der Lohnabhängigen zur politischen Distanz und Formulierung autonomer politischer Positionen. Die wesentlichen Projekte, um die es dabei geht, sind: Arbeit umverteilen und neue Arbeit schaffen, Verteidigung und Ausbau sozialer Sicherheit, Umverteilung von Einkommen und Vermögen, ökologischer Strukturwandel, Schutz und Ausbau sozialer und demokratischer Teilhaberechte, Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, Abrüstung – internationale Solidarität – zivile Konflikt- und Krisenprävention.

Neoliberalismus in roter Watte?

"Die Politik des dritten Weges ist keine Fortsetzung des Neoliberalismus, sondern eine Alternative zu ihm."[10] Hinter dieser Affirmation von Anthony Giddens steckt die Verärgerung darüber, dass ein Teil der "alten Linken" immer noch an der Interpretation von der Klassengesellschaft festhält und bestreitet, dass der dritte Weg der modernisierten Sozialdemokratie etwas mit linker Politik zu tun habe. Der frühere SPD-Parteivorsitzende Lafontaine sagt: Zum Denkzettel gehört, dass sich die Sozialdemokratie auf frühere Werte zurückbesinnen muss. Eine solche Rückbesinnung wäre immerhin schon etwas. Allerdings müssten diese Werte in eine moderne Konzeption für die Zivilisierung und Überwindung des gegenwärtigen Kapitalismus eingebettet werden.

Während die alte Linke darauf abhebt, dass die modernisierte Sozialdemokratie die ökonomischen Machtverhältnisse unberührt lässt und sich von der Politik der sozialen Gleichheit durch Umverteilung verabschiedet, pochen die Kritisierten darauf, dass die Politik der Umverteilung längst in der Sackgasse gelandet sei. "Die Politik muss heute ihren Schwerpunkt von der Umverteilung des Wohlstandes darauf verlagern, die Schaffung von Wohlstand zu stimulieren."[11] Die Unternehmen müssten inovativer und die Lohnabhängigen effizienter werden. An der Politik des aktivierenden Sozialstaates, Arbeit statt Sozialleistungen, bündelt sich die Kritik.

Die Hegemonie des Neoliberalismus entstand nicht in den Denkfabriken (think tanks), sondern die neoliberalen Ideologen und die entsprechend ausgerichteten politischen Parteien gewannen seit Ende der 1970er Jahre mehr und mehr an Akzeptanz und Überzeugungskraft, weil die Linke den Umbruch in den kapitalistischen Metropolen unzureichend und zu spät registriert hatte. Nachdem der Neoliberalismus die Hegemonie gewonnen und seine politischen Träger den öffentlichen und gemischt-wirtschaftlichen Bereich weitgehend umgebaut hatten, musste die Sozialdemokratie eine neue Konzeption entwickeln. Sie hatte nur die Wahl, sich zu reformieren oder sich als Reformpartei zu verabschieden.

In diesem Transformationsprozess hat die Neue Sozialdemokratie eine grundlegend gewandelte Perspektive entwickelt: Ausgangspunkt ist nicht mehr der Produzent, sondern der Teilhaber (stakeholder), der seinen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum durch Pflege seines "Humankapitals" und Teilhabe am "Produktivvermögen" sichert. Nicht mehr die Steuerung und Demokratisierung der Produktion, sondern eine "neue Partnerschaft" von Zivilgesellschaft und Staat steht auf der Tagesordnung. Damit ist z.B. die Überwindung des Wohlfahrtsstaates als einer "prinzipiell undemokratischen"12 Institution gemeint, an dessen Stelle ein "Sozialinvestitionsstaat" tritt, der die Optimierung des "Humankapitals" i.S. von Qualifikation, Flexibilität und Mobilität fördert, aber soziale Ungleichheiten als Folge der immanenten Widersprüche kapitalistischer Produktion negiert bzw. hinnimmt. Der Arbeitskraftbesitzer wird in seinem Anliegen unterstützt, den Gebrauchswert seiner Ware zu verbessern. Was er daraus macht, ist kein Gegenstand öffentlichen Interesses mehr – also weder was mit dem Einzelnen passiert, noch was die Bedingungen der Mehrwertproduktion (darauf hebt ja der Gebrauchswert ab) sind. Schließlich ist das Ziel des sozialen Interesses der Neuen Sozialdemokratie der qualifizierte Bürger und Verbraucher, der in dieser Sichtweise nach der Wandlung von Verkäufer- in Käufermärkte im Grunde die neue wirtschaftliche Macht repräsentiert.

Die "modernisierten Sozialdemokraten" haben zweifellos Recht, wenn sie darauf abheben, dass die überlieferten Konzepte der traditionellen Linken für das 21. Jahrhundert nicht mehr taugen. Richtig ist aber auch, dass der blosse Versuch einer "Einbettung der kapitalistischen Märkte" nicht hilft. Vielmehr geht es darum, die Unternehmensverfassung so zu demokratisieren, dass die Kapitalgewinne und Vermögenserträge nicht das Übergewicht gegenüber den Einkommen der Lohnabhängigen behalten. Darüberhinaus bedarf es einer Kontrolle und Steuerung der gesellschaftlichen und globalen Ökonomie, um die bestehenden sozialen Gräben einebnen zu können.

Unsicherheit, Apathie, Rechtspopulismus

Die unzureichende Kenntnisnahme und Behandlung der sozialen und kulturellen Widersprüche in den kapitalistischen Hauptländern schafft die Voraussetzungen für einen neuartigen Rechtsextremismus. Den entscheidenden Nährboden findet dieser moderne Antimodernismus in der Undurchsichtigkeit der Verteilungsprozesse und der Ausbreitung von Ohnmachtgefühlen. Die wachsende politische Apathie der BürgerInnen erklärt sich aus dem Umstand, dass die gesellschaftlichen Ängste von allen Teilen der politischen Klasse nicht ernst genommen werden. Der SPD-Vorsitzende Schröder registriert "seit einiger Zeit eine Unruhe, eine Sorge bei vielen Menschen", die die SPD nicht gleichgültig lasse. Aber für die Ängste und Ohmachtsgefühle der Verunsicherten – "Da zischt ein riesengrosses Rad durch unser Leben und wir wissen nicht, wer es dreht" – hat Schröder weder ein Aufklärungsangebot noch verfügt er über ein Gegenmittel.

Bei den Wahlen in Hessen und Niedersachsen hielt sich der Denkzettel in Grenzen. Die enttäuschten und verunsicherten WählerInnen hätten – wie zuvor in Hamburg mit der Schillpartei – auch die Angebote von rechtspopulistischen oder rechtsradikalen Parteien aufgreifen können. Sie zogen es dieses Mal vor, zu einer Union zurückzukehren, die ihnen bis vor kurzem nicht nur genau diese Kürzungs- und Umgestaltungspolitik verordnet hat, sondern mit unaufgeklärten Geldspenden und dubiosen Auslandskonten ihre Auffassung von modernen Demokratie demonstrierte. Auch hier zeigt sich, dass es von den nationalen, z.T. regionalen Besonderheiten abhängt, ob der Rechtspopulismus die kulturell, organisatorisch und konzeptionell entleerten Räume von der Sozialdemokratie übernimmt.

Zum Denkzettel gehört auch: Die Linkssozialisten dieser Republik sind – wie die Schwesterparteien in den europäischen Nachbarländern – weitgehend unfähig, auf diesen Prozess – Niedergang der Sozialdemokratie, Wahlenthaltung aus Enttäuschung oder Rechtspopulismus – angemessen zu reagieren. Die PDS ist gleichermaßen konzeptionslos und verbraucht ihre Energien in innerparteilichen Fraktions- und Richtungsaussetzungen, statt sie zur gesellschaftlichen Aufklärung einzusetzen.

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