25. April 2014 Bernhard Sander

Sozialdemokratie in der Sackgasse – in Frankreich und ...

Die Regierungsumbildung der französischen Sozialdemokraten spitzt den Konflikt um die Ausweisungen von Asylbewerbern (24.000 im letzten Jahr) zu. Der dafür verantwortliche Innenminister wird neuer Premier unter François Hollande.

Manuel Valls profilierte sich außerdem in Konflikten über den Umgang mit Bagatellkriminalität und Rückfalltätern mit der Justizministerin. Mit Ségolène Royal rückt eine frühere Präsidentschaftsanwärterin auf den Ministersessel für Umwelt und Energiewende, die sofort verkündete, zukünftig auf Strafsteuern zu verzichten (die CO2-Abgabe für LKWs hatte zu den Tumulten in der Bretagne geführt).

Die Grünen sind aus der Regierung ausgeschieden, was in der Nationalversammlung aufgrund der Mehrheit der PS geringere Probleme macht, allerdings im Senat das Oppositionslager stärkt. Der größte Teil der Ministerien wird nicht umbesetzt. Als Gegengewicht zum Unternehmerfreund Valls wird der Verfechter der Ent-Globalisierung, Arnaud Montebourg, zum Wirtschaftsminister befördert. Er hatte die Rettung des angeschlagenen Auto-Konzerns Peugeot durch den Einstieg des Staates und eines chinesischen Partners gegen die Eigentümerfamilie durchgesetzt.

Aber auch das Kabinett Manuel Valls hat bisher kein Rezept präsentiert, wie der Bewegungsspielraum gegenüber der dominierenden Kraft in Europa erweitert werden könnte. Im Gegenteil wird die steigende Arbeitslosigkeit und die nicht erfüllte EU-Vorgabe, die Neuverschuldung bis 2015 auf 3% zu senken, diesen Spielraum einengen. Um sich Luft zu verschaffen, entsandte der neue französische Premier vor Ostern Emissäre nach Brüssel und Berlin. Ein Abteilungsleiter des Präsidenten und der Staatssekretär für Europa-Angelegenheiten versuchten EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso bezüglich des »Rhythmus« des Schuldenabbaus umzustimmen und bekamen zu hören, dass es nicht in Frage komme, Frankreich von seiner Verantwortung freizustellen. Bereits eine Woche zuvor hatte der Finanzminister seinen deutschen Kollegen davon zu überzeugen versucht, »dass wir mehr Wachstum brauchen, damit wir unseren Verpflichtungen nachkommen können«. »Rhythmus« beschreibt also die Spielräume des Schuldenabbaus und nicht seine neuerliche Aufschiebung. Während man beim IWF Verständnis für die Position Frankreichs äußerte, hat Minister Schäuble unmissverständlich klar gemacht, dass die europäischen Regeln gelten: Reduktion der Neuverschuldung auf 3% des BIP bis 2015.

Die Regierung ist durch das katastrophale Kommunalwahlergebnis erheblich geschwächt, und das nutzen die EU-Kommission und die deutsche Bundesregierung aus, um ihre Vorstellungen durchzusetzen. Offenbar wird völlig ignoriert, dass damit die nationalistischen Kräfte um den Front National herum weiter gestärkt werden. Man kann darüber spekulieren, dass man in Berlin offenbar glaubt, aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtungen und Abhängigkeiten werde man gegebenenfalls mit diesen Kräften ebenso fertig wie mit den rechtsextremen Kräften im Umfeld der ungarischen Regierung. Unterstützung bekamen die französischen Sozialdemokraten auch von ihren deutschen Genossen Sigmar Gabriel und Martin Schulz nicht.

Dem vorherigen Ministerpräsidenten ist es auch nicht gelungen, mit Italien und den vom Troika-Regime geknechteten Staaten ein Bündnis für aktive Wirtschaftspolitik, Regulierung des Finanzsektors und Bankenunion zu schmieden. Zwar sinken nun auch bisherige »Wohlstandsnationen« wie die Niederlande in die Stagnation der Realwirtschaft mit zurückgehenden Beitrags- und Steuereinnahmen, steigender Neuverschuldung und beschleunigter Kürzung öffentlicher Ausgaben, aber die gemeinsame Ausgangslage schafft nicht aus sich heraus gemeinsame Politik.


»Berezina«

Für Sarkozys ehemalige Präsidentenpartei UMP bringt das Kommunalwahlergebnis eine gewisse Entspannung in den Clan-Kämpfen. Der aktuelle Vorsitzende Jean-François Copé stellt fest: »Meine Legitimität an der Parteispitze ist bestätigt worden.« Doch der frühere Präsidentenberater Henri Guiano weist zu Recht darauf hin, dass die Partei weit davon entfernt sei, sich auf ein Programm verständigt zu haben. »Wenn wir es nicht machen, wird die Zukunft das Gesicht Marine Le Pens haben.« Der ehemalige Minister Bruno Le Maire warnt angesichts der steigenden Neuverschuldung vor dem »Risiko, dass wir unter eine Art Vormundschaft der EU-Kommission geraten. Das wäre eine Demütigung für Frankreich.« Solche Argumentation öffnet dem Front National die Schleusen.

Die französischen WählerInnen ziehen daraus ihre Konsequenzen bei der Wahl zum Europaparlament, bei denen es keine wahlrechtsbedingten taktischen Spiele mehr geben kann. Noch deutlicher als bei den Kommunalwahlen zeigt eine Umfrage von Ende März, dass der Front National auf dem Weg ist, zweitstärkste Kraft im Parteienspektrum zu werden. Das französische Headquarter des weltweit aktiven Marktforschungsinstituts Ipsos ermittelte aktuell 22% und für die neoliberal-konservative UMP 24%. Die Sozialisten hängen abgeschlagen auf Rang drei und die Linke der Linken liegt mit den Liberalen von MoDem/UDI gleichauf bei 8%. Die Grünen schaffen 10%. Sogar die ultralinke Lutte Ouvrière kann vom Zerfall des PS zehren (2%).

Französische Zeitungen bezeichnen die Kommunalwahl-Niederlage der Sozialdemokraten als »Berezina«, wo die auf dem Rückzug aus der größten Expansion befindliche »Grande Armée« Napoleons in einer letzten Schlacht vernichtet wurde. Nur wenige Jahre nach der chaotischen Niederlage an der Berezina herrschte in ganz Europa die Reaktion.

In einer Reihe von Ländern haben sozialdemokratische Parteien ähnliche Niederlagen erlitten. Die Kommunalwahlen in den Niederlanden im März 2014 haben dazu geführt, dass die dortige »Partei der Arbeit« nur noch 12 Parlamentssitze in den Umfragen hat, während die Sozialisten auf der Stelle treten. Die griechische PASOK ist heute so schwach wie die Kommunisten von der KKE, nachdem sie zu Beginn der Troika-Missionen noch mit dem Gewicht von über 40% der Stimmen Verhandlungen führen konnte, und auch Syriza/Synapsismos sammelt heute weniger als ein Drittel der Stimmen in Umfragen ein. Die deutsche SPD kann sich trotz rühriger Gesetzgebungsarbeit nicht von der Selbstbeschädigung in der Agenda 2010 erholen; ihr Bundestags-Wahlergebnis von einem Viertel der Stimmen steigt nicht und auch DIE LINKE schafft nur eine Stabilisierung bei knapp 8-10%. In den osteuropäischen Ländern wurden sozialdemokratische Parteien durch rechtspopulistische Regierungen verdrängt.


Das Ende des Sozialstaats, wie wir ihn kannten

Die erwartbare Niederlage der Linken in Frankreich ist nicht nur eine Niederlage der Sozialdemokratie.[1] Sie ist auch eine Niederlage des Kommunisten (PCF), der Linkspartei (PG) und der Wahlplattform Linksfront (FdG). Die Kommunalwahlen haben gezeigt, dass die Linke der Linken in den Stadtvierteln der kleinen Leute nicht mehr verankert ist. Das hat nicht nur mit der starken Durchmischung der in die Jahre gekommenen ehemals homogen proletarischen Hochhaussiedlungen in den Trabantenstädten zu tun und mit der Verdrängung der ärmeren Schichten aus den gentrifizierten Stadtvierteln in diese Vorstädte. Hier wählt teilweise, wie im ehemals roten Saint-Denis, nur noch jeder dritte Wahlberechtigte.

Der Niedergang der kommunalen Verankerung der Linken ging einher – so lautet eine These des ehemaligen PCF-Vorständlers Roger Martelli (www.regards.fr/web/municipales-pc-l-autre-berezina,7615) – mit dem Niedergang des Sozialstaates. Dieser trifft damit die sozialdemokratischen »Täter« ebenso wie die Linke der Linken, die sich erfolgreich an der Verwaltung dieses Sozialstaats beteiligt hat.

Der Sozialstaat des Rheinischen Kapitalismus war nicht das Projekt der Sozialdemokratie, sondern das Resultat jahrzehntelanger sozialer Kämpfe der eigentumslosen Schichten und der Reaktionen herrschender Kräfte zur Beruhigung der Lage. In Frankreich war allerdings ein Konsens fixiert worden, mit dem die verschiedenen Kräfte des Widerstandes gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg sich vertraglich zu weitreichenden Sozialreformen nach der Niederwerfung des Faschismus verpflichteten. Man ging in Frankreich auch deshalb auf die Kommunisten zu, weil sie mit dem Hinweis auf die Fortschritte der Sowjetunion im Produktivitäts- und Lebensstandard ein massenwirksames, attraktives Projekt vorweisen konnten und man die Einbindung der lohnabhängigen Schichten sowohl in den Widerstand als auch in den kommenden Jahrzehnten des fordistischen Aufbaus für nötig hielt. Martellis Analyse benennt die verschiedenen Faktoren: »13 der verlorenen Kommunen liegen im inneren Gürtel der ehemaligen ›banlieue rouge‹. (...)

Als sich der PCF in der Pariser Peripherie verankerte, die man heute den gottverlassenen ›französischen Wilden Westen‹ nennt, stützte man sich noch auf eine vagen Erwartung von Revolution und sozialer Republik. Man praktizierte eine eigenständige Kommunalpolitik im sehr lebendigen Einklang mit einer Lohnarbeiter-Gesellschaft, der eine Umverteilung zu den benachteiligten und diskriminierten Gruppen der Arbeitswelt gelang. Der Aufstieg des Kommunismus war ein Aufstieg der Banlieue, der Stabilisierung seines Arbeitnehmer-Status, seiner Würde und des proletarischen Stolzes. Die kommunistische Verwaltung wurde danach mit ebenso voller Wucht vom Rückzug des Wohlfahrtsstaates, dem Sinken der öffentlichen Ausgaben und der relativen Umverteilung getroffen. (...)

Der Front de Gauche ist weit entfernt von dieser Verankerung. In nur 9% der Kommunen mit mehr als 1.000 Einwohnern führen Listen mit dem Etikett FdG, 15% sind direkt mit der PS verbunden und 14% firmieren unter Linksunion; die Mehrheit von 56% sind eigentlich Listen, die als irgendwie links subsumiert werden. Der Front de Gauche ist sehr ungleichmäßig lokal verankert. Vor allem in den Ballungsgebieten ist dies ein Problem eines wachsenden Missverhältnisses: In diesen von der Globalisierung völlig umgestalteten Gebieten genügt es nicht, Opposition gegen allgemeine Trends zu machen. (...)

Wenn wie in Saint-Denis nur noch ein Drittel der Menschen zur Wahl geht, sollte man daraus auch keine übereilten Schlüsse ziehen, sich aus den Institutionen zurückzuziehen. Vielmehr sollte man es schaffen, angesichts der ausgelaugten institutionellen Mechanismen das Feld neu zu besetzen und mit größerer Effektivität in sie zurückzukehren, um die Karikatur von Demokratie, die heute nur noch die ›Governance‹ der Eliten darstellt, zu untergraben. (...)

Wenn der Front de Gauche eine Aufgabe hat, dann ist es die, fehlende Verbindungen zwischen der gesellschaftlichen Erfahrung und dem politischen Feld neu zu schaffen. Aber dafür müsste man lernen, eine entschieden andere Art des Politik-Machens zu verkörpern. Man kämpft nicht gegen das Ressentiment, indem man die Wut anstachelt, sondern indem man die Praktiken zur Verbesserung des Bestehenden mit neuen Hoffnungen zu verknüpfen versucht.« (Martelli)


So sehen Sieger aus

Erbe des Niedergangs der Linken und der gescheiterten Wohlstandsversprechen des Neoliberalismus ist in fast allen europäischen Ländern der Rechtspopulismus. Der französische Front National ist zur Volkspartei geworden und wird von vielen schlechter ausgebildeten und ärmeren Menschen gewählt, aber seine Repräsentanten entstammen einem anderen Milieu.  Die Biografien der zehn gewählten FN-Bürgermeister lassen einige Rückschlüsse zu. Es sind langjährig der Partei angehörende Männer mit Berufen, denen in den letzten zwei Jahrzehnten steigende Aufmerksamkeit zukommt, und die eher »Einzelkämpfer-Mentalitäten« ohne sozialstaatliche Absicherung befördern: Selbständige (Physiotherapeut, Handelsvertreter, Finanzvermittler), drei hauptamtliche Parteifunktionäre, traditionelle Intellektuelle (Berufsschullehrer, CGT-Gewerkschaftssekretär), die Hälfte um die 30 Jahre, vier mit z.T. linksextremer Vergangenheit (LCR, NPA, Lutte Ouvrière, PS). Zieht man die Statistik heran, dann sind die FN-Hochburgen eher die Städte, in denen vor allem die oberen 10% ein insgesamt geringeres Pro-Kopf-Einkommen als im Landesdurchschnitt erzielen (z.B. Hénein-Beaumont mit 2.470 gegenüber 3.247 Euro oder Fréjus mit 3.040 Euro). Oft sind es Städte wie Forbach oder Avignon, die zusätzlich einen relativ hohen Gini-Koeffizienten der Einkommensungleichheit aufweisen (je 0,43 gegenüber 0,37 landesweit; aber auch dies stimmt nicht durchgängig), während die Hochburgen der Linken eine relativ ausgeglichenere Einkommensverteilung ausweisen (www.comparateurterritoires.fr).

Der Rechtspopulismus hat außer seinen ideologischen Formeln von der kulturellen Identität und Homogenität des Landes, seiner spezifisch aktualisierbaren gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und seiner Anerkennung der herrschenden Besitzverteilung kein wirkliches Projekt. Aber seine Vertreter sind in der Lage, soziale Bedürfnisse und Verlustängste in die eigenen Werte einzubauen und in bestimmten Situationen dafür ein Programm zu formulieren.


Gelingt eine Verständigung?

Die Linke hat es nicht vermocht, den sozialen Protest zu verstehen und aufzugreifen. Die »Empört Euch!«-Romantik des früheren UN-Botschafters Stéphane Hessel – die französische Entsprechung von US-amerikanischem Occupy-Aktivisten oder spanischen Indignados – fand keine Verstetigung als Bewegung und noch weniger einen Niederschlag in den Parteien. Weder in einer personellen Erneuerung, noch in einer programmatischen Hinwendung zu den tagesaktuellen Belangen oder gar im politischen Elan hat der Veränderungsimpuls, der auch die Abwahl Sarkozys bewirkte, lange vorgehalten. Noch immer warten die besitzlosen Schichten auf ein Programm konkreter Verbesserungen ihrer Lage, auf das sich die verschiedenen politischen Traditionslinien verständigen müssten.

In Umfragen finden fast zwei Drittel der Franzosen eine Erhöhung des Mindestlohns und der sozialen Grundsicherungen richtig. Diese Maßnahmen sind nicht nur aus Motiven der Gerechtigkeit zu begründen, sondern als Element zur Stärkung der Binnennachfrage volkswirtschaftlich geboten. Aber den Franzosen ist ebenso klar, dass eine neue Umverteilungsdynamik einen Anschub der produktiven Basis erfordert. Jean-Luc Mélenchons Schlagwort von der ökologischen Wirtschaftsbelebung bleibt allerdings abstrakt. Angesichts der anhaltenden Importüberschüsse fehlt es dem Land nach wie vor an einer Strategie zur Hebung der Produktivität und der Produktinnovation, wie dies ein Element des Gallois-Reformplans von 2012 war.

Da geht es zweifellos »schneller«, wie vom Staatspräsidenten bei der Kabinettsumbildung verkündet, noch tiefer in die Abwärtsspirale der sozialen Deflation einzusteigen und im europäischen Wettbewerb die Arbeitskraft weiter zu entwerten, wie dies offenbar dem neuen Ministerpräsidenten Valls vorschwebt und wie es ebenfalls schon im Gallois-Report vorgeschlagen worden war. Die Verhandlungen um einen darauf basierenden »Pakt der Verantwortung« waren mit dem Gewerkschaftsbund CFDT schon sehr weit gediehen, aber da die positiven Effekte nur nebulös erkennbar sind, überwiegt das berechtigte Misstrauen gegenüber Austerität, Sparpolitik und Sozialabbau. Die Sozialabgaben-Entlastungen für die Unternehmen sind sehr präzise ausverhandelt, die »Gegenleistungen« in Form von Arbeitsplatzzusagen bleiben vage.

Zwar argumentiert die PS-Regierung zu Recht, dass die Neuverschuldung ohne die Hilfen für die Krisenstaaten und den so genannten Rettungsschirm ESM heute nur bei 90,4% des BIP statt bei faktischen 93,5% läge, aber den Opfern dieser Politik wird das relativ gleichgültig sein. Die Regierung habe es zwar geschafft, die Staatsausgaben stärker als die Vorgängerregierung einzudämmen, loben die Kritiker in den Wirtschaftsgazetten. »Dennoch stiegen die Ausgaben im vergangenen Jahr nach INSEE-Angaben immer noch um 2% auf 1.176 Mrd. Euro. Damit wuchsen auch die Staatsausgaben als Anteil am BIP von 56,7 auf 57,1% an – ebenfalls ein neuer Rekord.« (FAZ 1.4.2014) Noch wachsen die Steuereinnahmen (im Vorjahr um gut 20 Mrd. Euro), allerdings wachsen die Staats- und die Sozialabgaben schneller, ohne dass die Bürger davon eine Verbesserung verspüren. Die Regierungsumbildung wird als Rechtswende wahrgenommen und die Linke fürchtet weitere Schritte hin zu einem Agenda-Kurs. Daher rührt sich innerhalb der Sozialistischen Partei Widerstand, der strömungsübergreifend etwa 100 Abgeordnete zu einem offenen Brief für einen »Vertrag mit der Mehrheit« zusammengeführt hat. Die Initiative führt die in den letzten zehn Jahren gescheiterten Strömungen  aus dem Umkreis von Laurent Fabius (Initiative gegen den EU-Verfassungsvertrag), Martine Aubry (Arbeitsministerin im Kabinett der pluralen Linken), Dominique Strauß-Kahn (Ansätze zur Bankenregulation), Arnaud Montebourg (Ent-Globalisierung) und den traditionellen linken Flügel  der Partei zusammen.

Sehr weitreichend ist die Initiative deshalb noch nicht, denn auch der Ministerpräsident sprach bei seiner Ernennung von einem »Vertrag mit den Abgeordneten der Mehrheit«. Die Verfasser des offenen Briefes stellen fest, es gehe nicht darum, den Franzosen nur besser den Regierungskurs zu erklären. Es sei das Parlament, das die Gesetze mache, und nicht die Regierung, die in den letzten zwei Jahren taub gegen Änderungswünsche aus den eigenen Reihen gewesen sei. Erforderlich sei eine »Umorientierung« in Europa auf einen »Wachstums-Plan gegen die Deflation«, eine »Revision wachstums- und beschäftigungsfeindlicher Haushaltsziele«. Die EU müsse massive Investitionen auf den Weg bringen bei den Erneuerbaren Energien, im Transport, bei der Datenverarbeitung, im Wohnungsbau und in der Forschung und Entwicklung.

Was die Binnenwirtschaft betrifft, so fordern die Autoren des offenen Briefes die öffentlichen Mittel auf die Schaffung von Arbeitsplätzen zu konzentrieren. Der »Pakt der Verantwortung« mit den Arbeitgebern kenne keine Gegenleistungen für die Steuererleichterungen und müsse durch einen »nationalen Investitionspakt, der bis auf die Ebene der Unternehmen durchverhandelt sei, ersetzt werden«. Ein weiteres Erfordernis sei eine Nachfrageorientierung zur Stärkung der Kaufkraft. Sie müsse begleitet sein von einer Steuerreform zugunsten der unteren Einkommen und Renten und eine progressiv steigende allgemeine Einkommensabgabe beinhalten (diese wird bereits proportional auf alle Einkommensarten erhoben).

Schließlich müsse dieser neue Pakt mehrere Vorhaben von 2012 wieder aufgreifen, wie die »robuste« Regulierung von Aktivitäten an den Bank- und Finanzmärkten, die Werbung für einen ökologischen Umbau und die Gebietsreform, die zu echten Einsparungen und nicht sozialer Regression führen müsse.

Wie nachhaltig der PS-interne Widerstand gegen die »Rechtswende« sein wird, ist noch nicht ausgemacht. Fakt ist, dass »eine Woche vor der Abstimmung über das Sparpaket am 29. April in der Nationalversammlung ... die sozialistische Fraktion so zerstritten ist wie kaum zuvor« (so Michaela Wiegel in der FAZ vom 23.4.2013). Premier Valls wenige Tage vor Ostern verkündetes drastisches Kürzungsprogramm, mit dem der Staat 50 Mrd. Euro zwischen 2015 und 2017 sparen und dem europäischen Austeritätsregime Folge leisten will, stößt nicht nur innerhalb des linken Flügels auf Widerstand.

Das von Valls geforderte Volumen hatte Staatspräsident Hollande bereits in einer Regierungserklärung vor einem Jahr als notwendig bezeichnet. Jetzt ließ er verlauten, es gäbe keinen Grund für eine neuerliche Kandidatur als Staatspräsident 2017, wenn es nicht gelänge, bis dahin die Arbeitslosigkeit zu senken – das nennt man politischen Realismus. Unter anderem sollen die Renten und Zusatzversorgungssysteme (außer der Grundsicherung) und die Familienhilfe für 18 Monate eingefroren werden, um so fünf Mrd. Euro zu erwirtschaften. Die Regionen werden von 22 auf 11 fusioniert und bis 2021 sollen die Departementsverwaltungen reformiert werden, was 11 Mrd. Euro bringen soll. Die »Allgemeinzuständigkeit« der lokalen Gebietskörperschaften, mit dem deutschen Subsidiaritätsprinzip vergleichbar, wird abgeschafft und damit der Anspruch auf auskömmliche Finanzierung durch die Zentrale bzw. die Legitimationsgrundlage für lokale Steuern. Die politischen Konsequenzen dieses weiteren Rückzugs des Staates aus der Fläche werden sich erst mittelfristig offenbaren.

Außerdem werden Steuererleichterungen für den Mittelstand angekündigt. Gleichzeitig will die Regierung im Strafvollzug, bei der Polizei und Justiz Arbeitsplätze schaffen. 18 Mrd. Euro soll eine Haushaltssperre für die Ministerien bringen, von der nur die Universitäten ausgenommen sein sollen. 10 Mrd. Euro soll die medizinische Versorgung beisteuern, insbesondere soll der Medikamentenverbrauch gesenkt werden.

Elf PS-Abgeordnete um Martine Aubry haben öffentlich Widerspruch angemeldet, die soziale Schieflage kritisiert und wollen das Sparpaket auf 35 Mrd. Euro begrenzen. Sie könnten die Parlamentsmehrheit des PS durchaus gefährden, zumal wenn  der Premierminister in bereits anberaumten Gesprächen mit weiteren Kritikern keine Zugeständnisse macht. Der Sprecher der sozialistischen Fraktion, Thierry Mandon, wird mit der Bemerkung zitiert, die Regierung habe »keine Mehrheit für ihr Sparpaket«.

Das Programm, das die parlamentarische Linke der PS in ihrem offenen Brief skizziert hat, könnte eine Vorlage für die Linke der Linken sein, ihrerseits auf diesen Feldern Forderungen zu formulieren, die die Belange der Mehrheit konkretisieren, und dafür Druck zu erzeugen.

Die Sozialdemokratie hat kein Projekt nach dem Scheitern des »Dritten Weges« von Gerhard Schröder und Tony Blair, dem sich der französische PS explizit allerdings auch nie angeschlossen hatte. Die Linke steht vor der Aufgabe, sich unter diesen Umständen auf eine autonome Politik zu verständigen, mit der man auch auf die Felder der bestehenden Institutionen zurückkehren und den sozialen Belangen wieder eine Stimme geben kann. Gelingt dies nicht, werden die Opfer der sozialdemokratischen Rechtswende diesem europäischen Wettbewerb mit »nationalen Schutzwällen« begegnen wollen, wie sie der Front National mit der Rückkehr zur alten Währung, Importzöllen und Zuzugsbeschränkungen vorschlägt.

Bernhard Sander ist Redakteur von Sozialismus.

[1] Die Niederlage trifft die Sozialisten allerdings auch deshalb besonders hart, weil der Verlust von mehreren Tausend Mandaten die Finanzkraft der Partei massiv schwächt, da die Finanzierung der Parteien in Frankreich – anders als etwa in Deutschland – vor allem über die Volksvertreter auf den verschiedenen staatlichen Ebenen erfolgt.

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