23. Dezember 2021 Michael Brie: Zu Frank Deppes Geschichte und Zukunft des Sozialismus
Sozialismus als reale Bewegung in Widersprüchen
An dieser Stelle hat Joachim Bischoff im Dezemberheft schon Frank Deppes beeindruckendes Buch »SOZIALISMUS«[1] ausführlich besprochen. Bischoff sieht diese Schrift als Meilenstein einer »überfälligen Bilanz« des Jahrhunderteprojekts Sozialismus an und analysiert wichtige Punkte im Buch Deppes.
Ich möchte im Folgenden einen einzigen Aspekt hinzufügen – den der Widersprüche des Sozialismus als reale Bewegung von Bewegungen.
In der »Deutschen Ideologie«, der ersten Schrift der intensiven und langen gemeinsamen Selbstverständigung von Friedrich Engels und Karl Marx, findet sich der folgende Satz, der Sozialismus/Kommunismus von jeder Projektemacherei abgrenzt: »Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.« (MEW 3: 35) Es ist in diesem Geist, in dem Frank Deppe vor allem den Sozialismus analysiert – als Bewegung, die den Kapitalismus emanzipatorisch und solidarisch aufzulösen suchte und sucht. Und in diesem Sinne rückt er die Widersprüche dieser Bewegung, die seit der Großen Französischen und der englischen industriellen Revolution sich immer neuformiert hat, ins Zentrum seiner umfassenden Darstellung.
Tragender Gedanke des Werks von Frank Deppe ist, »dass Sozialismus in verschiedenen Varianten stets die Rolle der ›Fundamentalopposition‹ in einer Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise spielen muss«, und dass »das Verhältnis von theoretischer Kritik und praktischer Umsetzung in Gesellschaft und Politik auf ein weites Feld von Widersprüchen« führt /17/. Dieses weite Feld von Widersprüchen wird von Frank Deppe vermessen. Insofern ist sein Buch vor allem auch ein Material, um die Fähigkeiten und Unfähigkeiten sozialistischer Kräfte zu studieren, sich in diesen Widersprüchen emanzipatorisch zu bewegen, an ihnen zu scheitern, Tragödien herbeizuführen oder vorher unvorstellbare Erfolge zu erringen. Nicht zufällig wird in diesem Zusammenhang auch Mao Zedong gewürdigt: »Die Bedeutung von Mao als Parteiführer bestand vor allem darin, dass er in seinen Klassenanalysen der chinesischen Gesellschaft sowie in seinen philosophischen Abhandlungen den Prozess der Revolution als einen der Erkenntnis und der Praxis begriffen hatte, die auf die Auseinandersetzung mit den Widersprüchen gerichtet sein muss, die in diesem Prozess permanent produziert und reproduziert wurden.« /151/ Vielleicht erklärt sich daraus auch die heutige Lebendigkeit des chinesischen Sozialismus.
Wie Frank Deppe selbst fast am Ende seines Buches über den Sozialismus schreibt: »Die Wege, die der Sozialismus beschreiten wird, sind nicht voraussehbar. Sie werden auf jeweils sehr unterschiedlichen Terrains beschritten, die in ihrer Spezifik immer wieder neu erkundet werden müssen. Sie werden durch die Verhältnisse selbst vorgegeben werden. Aus der Geschichte des Sozialismus sind sie gleichwohl bekannt und bilden eine äußerst widersprüchliche Einheit. Die Widersprüche, mit denen diese Wege immer wieder konfrontiert werden, sollten den ›Weggefährten‹ bewusst sein.« /349/ Vier Bündel von Widersprüchen seien kurz skizziert. Jede und jeder wird beim Lesen des Buches weitere auszutragende Widersprüche sozialistischer Bewegungen finden.
Michael Brie ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Zuletzt schrieb er in Sozialismus.de 12-2021 über das neue Buch von Klaus Dörre »Die Utopie des Sozialismus«. Er selbst bereitet eine Publikation zur neuerlichen Sozialismus-Debatte vor unter dem Titel »SOZIALISMUS neu entdecken. Ein hellblaues Bändchen von der Utopie zur Wissenschaft und zur Großen Transformation«, das im Frühjahrsprogramm 2022 des VSA: Verlags erscheinen wird.
[1] Frank Deppe, SOZIALISMUS. Geburt und Aufschwung – Widersprüche und Niedergang – Perspektiven, VSA: Verlag Hamburg 2021. Die Seitenzahlen in Querstrichen beziehen sich auf diesen Text.