1. Januar 2009 Redaktion Sozialismus

Sozialistische Marktwirtschaft mit chinesischen Besonderheiten

Mit einer Rede des Präsidenten Hu Jintao wurde der 30. Jahrestag des Übergangs zu einem marktwirtschaftlichen Sozialismus in der VR China gewürdigt. Der Präsident versprach die Fortführung der Reformpolitik. Mit den politischen Initiativen des charismatischen Führers Deng Xiaoping wurde Chinas Bruch mit der von Mao Zedong geprägten zentralen Planwirtschaft eingeleitet.

Mit entsprechenden Verfassungsänderungen im Jahre 1978 wurde der Schlussstrich unter die gescheiterten Versuche gezogen, einen Übergang zu kommunistischen Organisations- und Verteilungsformen erzwingen zu wollen. Die Kollektivierung wurde aufgehoben. Zwar blieb der Boden staatliches oder kollektives Eigentum; es war aber möglich, über längere Zeiträume Boden zu pachten. In den folgenden Jahren wurde diese Linie weiter ausgebaut: Es konnten zusätzliche Arbeitskräfte beschäftigt werden, die privaten Anreize erstreckten sich nicht nur auf die privaten Parzellen, sondern auch die erwirtschafteten Überschüsse auf den gepachteten Ländereien konnten frei vermarktet werden. Schließlich wurde das gesamte ländliche Nebengewerbe (Haus- und Familienindustrie) in einen entsprechenden Ordnungsrahmen einbezogen.

Die Betonung der Selbstverantwortung und der leistungsbezogenen Einkommen wurde ergänzt durch eine Umstellung der industriellen Förderung auf die agrikulturellen Investitionszweige und die Leichtindustrie. 1978 führte man das "System der vertragsgebundenen Verantwortlichkeit auf Basis der Haushalte unter Zugrundelegung des Leistungsprinzips" ein. 1979 wurde die Privatwirtschaft als nützliches Instrument für die Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit in den Städten wiederentdeckt.

Hu verwies in der Ansprache auf die beachtlichen wirtschaftlichen Erfolge von Chinas Reformkurs. Das chinesische Bruttoinlandsprodukt sei in den letzten 30 Jahren im Durchschnitt jährlich um 9,8% und damit mehr als dreimal so schnell wie die Weltwirtschaft gewachsen, was das Land zur viertgrößten Wirtschaftsmacht weltweit gemacht habe. Tatsächlich ist der ökonomische Aufschwung, der breiten Teilen der Bevölkerung spürbar bessere Lebensumstände ermöglicht hat, zusammen mit der Einigung des Landes die hauptsächliche politische Legitimation der gegenwärtigen Führung.

Laut Statistiken der Weltbank produziert das Reich der Mitte zu nominalen Wechselkursen heute etwas weniger als 6% der weltweiten Wirtschaftsleistung und damit fast gleichviel wie Deutschland, aber weniger als das deutlich kleinere Japan (9%) und viel weniger als die USA (27%). Entscheidend für die­se Dynamik waren die Entkollektivierung der Landwirtschaft, die allmähliche Anziehung von sehr viel ausländischem Kapital und der schrittweise Übergang von einer reinen Planwirtschaft zu einer "sozialistischen Marktwirtschaft mit chinesischen Besonderheiten".

In der Wirtschaft sind zwar mittlerweile die meisten Preise liberalisiert, doch ist der Staat als Regulator und als Miteigentümer immer noch allgegenwärtig. Die Staatsführung setzt inzwischen offiziell auf ein nachhaltigeres Wachstum und hat versprochen, mehr auf Umweltverträglichkeit und sozialen Ausgleich zu achten.

Völlig unangefochten ist das politische Primat der Partei. Faktisch hat sich in den letzten Jahren ein gesellschaftlicher Deal durchgesetzt: Die Chinesen wurden mit wirtschaftlichen Freiheiten ausgestattet und akzeptieren das auf Machterhalt und Stabilität bedachte politische System. Zwar hat die Führung in letzter Zeit Anläufe zur Stärkung der Justiz, zur Bekämpfung der Korruption und zu vermehrter Transparenz in der Verwaltung unternommen und sogar mit direkter Demokratie innerhalb der Parteistrukturen auf Dorfebene experimentiert. Aber es gibt immer noch keine klar institutionalisierte Gewaltentrennung. Ohne Demokratie werde es keine sozialistische Modernisierung geben, unterstricht Präsident Hu. Er ließ keine Zweifel daran aufkommen, dass die Führung und Kontrolle durch die Partei nicht in Frage gestellt wird. China müsse seinen eigenen Weg finden, eine Kopie des westlichen politischen Modells werde die Partei nicht akzeptieren.

Unter dem Eindruck der sich auch in China schnell verschlechternden Wirtschaftslage und drohender Massenarbeitslosigkeit gibt es in der Wirtschaftspolitik reichlich Bewegung. Die Auswirkungen der Finanzkrise greifen auf China über und der rasante Absturz der volkswirtschaftlichen Kennzahlen im November 2008 überrascht viele Experten. Die Volksrepublik steht infolge der Rückwirkungen der globalen Finanzkrise vor dem Zusammenbruch ihres Akkumulationsmodells. Mehrfach haben der IWF, die Weltbank und auch Volkswirte von Banken ihre Wachstumsprognosen für China in den vergangenen Wochen nach unten korrigiert. Im Jahr 2007 legte Chinas Volkswirtschaft um 11,9% zu, für 2008 erwartet der IWF noch knapp 10%. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat angesichts der Wirtschaftskrise vor einem starken Wachstumseinbruch in China gewarnt. Die erfolgsverwöhnte Wirtschaft werde 2009 wohl nur noch um 5% zulegen.

Auch schwache Daten aus Chinas Industrie deuten auf geringeres Wachstum hin. Im November stellten die Betriebe gerade noch 5,4% mehr her als vor einem Jahr, wie das nationale Statistikamt meldete. Das Wachstum war noch nie seit 1999 geringer, als erstmals monatliche Daten zur Produktion erhoben wurden. "Der Arbeitsmarkt wird im nächsten Jahr sehr schwierig werden, beeinflusst von der internationalen Finanzkrise", so die Schlussfolgerung der Parteiführung. Mit dem bevorstehenden Konjunktureinbruch zerschlagen sich Hoffnungen endgültig, dass China die Weltkonjunktur vor dem Absturz bewahren könnte.

Für das nächste Jahr prognostiziert die Weltbank für China nur noch ein Wirtschaftswachstum von 7,5%, der IMF geht von einer Wachstumsrate des BIP von nur mehr 5% aus. Verglichen mit den OECD-Staaten ist dies zwar sehr viel, aber die chinesische Staatsführung geht von der Überlegung aus, dass das Land mindestens 8% Wachstum benötigt, um jährlich 20 Millionen SchulabgängerInnen und UniversitätsabsolventInnen in Lohn und Brot zu bringen. Angesichts rückläufiger Exportzahlen stemmt sich China nun mittels eines massiven Konjunkturprogramms gegen die Krise, um der Binnennachfrage auf die Beine zu helfen. Schafft China die Quadratur des Kreises nicht, könnten der kommunistischen Führung unruhige Zeiten drohen.

5% BIP-Wachstum in der ersten Jahreshälfte 2009 sind angesichts der deutlichen Abschwächung der Industrieproduktion eine realistische Größenordnung. Die Regierung in Peking ist von der Geschwindigkeit des Abschwungs offenbar überrascht. Der Staatsrat hat deshalb einen 30-Punkte-Plan veröffentlicht, in dem die Zentralbank und alle staatlichen Finanzinstitute aufgefordert werden, alles zu tun, um den Abschwung abzumildern.

"Der Arbeitsmarkt wird im kommenden Jahr sehr stark von der internationalen Finanzkrise betroffen sein", warnte Präsident Hu Jintao. Nach Einschätzung der Sozialwissenschaftlichen Akademie Chinas, der führenden Forschungsinstitution des Landes, droht eine Welle von Firmenpleiten. Vor allem exportorientierte sowie kleine und mittelgroße Unternehmen seien von der globalen Krise betroffen. Sie müssten ihre Produktion zurückfahren, um die nach wie vor steigenden Löhne abzufedern.

Nach Angaben der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission sind im ersten Halbjahr 2008 bereits 10.000 Klein- und Mittelunternehmen in der Textilbranche bankrott gegangen. Von den verbliebenen Firmen müssten rund zwei Drittel restrukturiert werden, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua. Besonders hart treffe die Krise die 150 Millionen WanderarbeiterInnen Chinas, die aus dem Landesinneren stammen und meist in den Textilbetrieben an der Küste Arbeit gefunden haben. Genaue Zahlen sind nicht bekannt, da sich die entlassenen ArbeiterInnen in der Regel nicht registrieren lassen.

Die Krise gefährdet die Legitimation der chinesischen Führung. Peking hatte wegen der wachsenden Spaltung zwischen der aufstrebenden Mittelschicht und der armen Landbevölkerung immer wieder vor sozialen Unruhen als Folge eines Konjunktureinbruchs gewarnt. In den vergangenen Wochen hat die Zahl teilweise gewalttätiger Ausschreitungen von entlassenen und um ihren Lohn geprellten ArbeiterInnen bereits deutlich zugenommen.

So droht nach einer Analyse des Hongkonger Industrieverbands in Guangdong jeder vierten Fabrik bis zum chinesischen Neujahrsfest Ende Januar die Pleite. Dadurch könnten 2,5 Millionen ArbeiterInnen ihren Job verlieren. Der Absatzeinbruch im Exportsektor ist allerdings nur ein Beschleuniger für den stattfindenden Strukturwandel, den die Provinz Guangdong durchmacht. Die Fertigung von Billigartikeln, bei der die menschliche Arbeitskraft der wichtigste Kostenfaktor ist, wandert bereits seit Jahren ins asiatische Ausland ab, wo die Lohnkosten noch geringer sind als im vergleichsweise reichen Guangdong. Mit Vietnam, den Philippinen und Bangladesch kann und will China nicht konkurrieren. Daher haben die Zentral- und die Provinzregierung ein Programm gestartet, um neue Hightech-Firmen anzuziehen.

Unter dem Eindruck der weltweiten Finanzkrise hat die politische Führung Chinas den wirtschaftspolitischen Kurs geändert. Nach Berichten der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua sind Maßnahmen beschlossen worden, um ein Wachstum in 2009 von mindestens 8% zu erreichen. Nur mit einem solchen Wert könne man die Arbeitslosigkeit unter Kontrolle halten. Das chinesische Wachstum hatte sich im dritten Quartal 2008 auf 9% verlangsamt, den niedrigsten Wert seit fünf Jahren.

Pekings Wirtschaftspolitiker sind angesichts der Turbulenzen verunsichert, ob die bestehenden Maßnahmen für die neue "expansive Wirtschaftspolitik" ausreichen. Der Staatsrat hatte Anfang November Konjunkturspritzen von umgerechnet 460 Mrd. Euro über zwei Jahre bewilligt, die in den Ausbau der Infrastruktur, sozialer Netze und die Binnennachfrage fließen sollen. Darüber hinaus wurden Subventionen, Konsumanreize und Steuererleichterungen beschlossen und von der Zentralbank durch Krediterleichterungen und Zinssenkungen flankiert.

Die Krise in China greift rasch von den Küstenregionen mit ihren Billigexport-Industrien auf das Inland über. In Ostchinas Exportprovinz Zhejiang ging der Energieverbrauch der Industrie im Oktober gegenüber dem Vormonat um 50% zurück. Weitere Alarmsignale sind wachsende Lagerhaltung, zunehmende Verschuldung von Firmen bei Lieferanten und die Verbraucherpreise, die im Februar um 8,7% stiegen – im Oktober waren es nur 4%.

Chinas Exporte sollen im November mit knapp über 100 Mrd. Dollar erstmals seit sieben Jahren unter den Wert des Vorjahresmonats gefallen sein. Die Parteiführung könnte versucht sein, den Ausweg der chinesischen Exportprobleme in einer Abwertung der einheimischen Währung Renminbi gegenüber dem Dollar zu suchen. Chinas Währung hat seit 2005 gegenüber dem Dollar um 20% aufgewertet.

Bisher haben die Kapitalverkehrskontrollen China gute Dienste erwiesen und das Land erfolgreich gegenüber den internationalen Finanzmärkten abgeschottet. Die spannende Frage bleibt, ob diese Position in Zukunft durchgehalten werden kann.

Chinas Wirtschaftsdaten

"Die Industrie produziert in rund acht Millionen Betrieben 42% des Bruttoinlandsprodukts und beschäftigt 22,5% der erwerbstätigen Bevölkerung von rund 800 Millionen. 15% der Industrieproduktion erfolgt in staatseigenen Betrieben, zusätzliche 25% in staatseigenen Holdinggesellschaften. (...)
China hat einen Anteil an der weltweiten Industrieproduktion von etwa 10% und ist der größte Stahlhersteller in der Welt mit 420 Millionen Tonnen (2006) wie auch der größte Kohleproduzent, womit 70% der Binnenenergienachfrage gedeckt werden. (...)
Der Dienstleistungsbereich (der siebtgrößte der Welt) ist weit weniger entwickelt als die Industrie mit einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt von rund 40%. Tourismus trägt über 5% zum Bruttoinlandsprodukt bei, wächst rasch und entspricht mehr und mehr dem internationalen Standard. China ist der zweitgrößte Internetnutzer nach den USA; 34% der Bevölkerung haben ein Mobiltelefon.(...)
Seit 1990 liegt die nationale Sparquote bei über 40% des Bruttoinlandsprodukts und erreichte 2007 50%. Eine dauerhafte Sparquote in dieser Größenordnung wurde bisher in der Wirtschaftsgeschichte von keinem anderen Land erreicht. Aus eigenen Mitteln kann China daher Anteile am Bruttoinlandsprodukt für Investitionen verwenden, die selbst Stalins brutale Zwangsmaßnahmen nicht ermöglichten. Während noch 1979 Staat und Unternehmen mehr als 90% der nationalen Sparquote stellten, ist die Sparquote der privaten Haushalte ständig gestiegen, zuletzt auf fast 25% des Bruttoinlandsprodukts (die deutschen Haushalte sparen 11%)."
(Aus: DIW Wochenbericht 51-52/2008, "Großer Sprung im zweiten Anlauf – 30 Jahre Wirtschaftsreformen in China", S.825 ff.)

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