26. November 2010 Jens Becker

Soziologie als »Korrekturwissenschaft«

»Die Pragmatisierung der Theorie kommt dem Bestehenden zugute. Die Differenz der Möglichkeit von der Wirklichkeit schrumpft. Theorie wird zur Deskription.« (Theodor W. Adorno)[1]

Der Anspruch der Aufklärung Immanuel Kants bestand darin, sich seines Verstandes zu bedienen, um aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszutreten. Karl Marx war überzeugt, dass die Philosophie die Welt nicht nur interpretieren, sondern sie verändern müsse. Oskar Negt begreift das Politische im Menschen als Vehikel für eine Demokratisierung der Gesellschaft: Konsequenterweise heißt sein neues Buch »Demokratie als Lebensform«. Progressive Soziologie im Sinne Negts, der am 28.10.2010 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften über »Kant und Marx. Ein Epochengespräch zur aktuellen Kapitalismuskritik«[2] sprach und von einer Prodekanin mit Hinweis auf zwei oder drei seiner Werke biografisch entsorgt wurde, steht in der Tradition der bürgerlichen Aufklärung und des sozialistischen Emanzipationsstrebens. Fehlende Empathie erscheint konstitutiv für eine Profession, die sich zumeist im pragmatischen Mainstream bewegt.

Womit wirbt aus gegebenem Anlass – vom 11. bis 15. Oktober 2010 fand der 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie statt, deren Gründungskongress ebenfalls in Frankfurt am Main abgehalten wurde – der hiesige Fachbereich? Zu seinen Leuchttürmen, so legt es die Selbstdarstellung der Verantwortlichen nahe, zählt die Gerechtigkeitstheorie sowie die Migrations- und Genderforschung. Drei Beispiele mögen das verdeutlichen:

In Forschung Frankfurt, Heft 2/2010, dem verdienstvollen Wissenschaftsmagazin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M., inzwischen trendy auf Goethe-Uni reduziert, wirbt Axel Honneth zusammen mit Titus Stahl für eine Perspektive »jenseits der Verteilungsgerechtigkeit«, die insbesondere institutionelle Chancen sozialer Anerkennung ermögliche. Es erscheint den Anerkennungsautoren jedoch zweifelhaft, ob in einer »auf kurzfristige Projekte und erfolgsgebundenen Status aufbauenden ›Netzwerkökonomie‹[3] auch die Verlierer der ökonomischen Umgestaltung« integriert werden können. Es sei zweifelhaft, »ob die momentanen Veränderungen in unserer Gesellschaft als gerecht bezeichnet werden können« (S. 20). Der geneigt Leser ist verwirrt. Worauf basiert diese »Analyse«? Die Autoren verharren im Vagen, im Zweifelhaften. Lediglich den Wandel des Leistungsbegriffes zum kontingenten Erfolgsprinzip in einer individualisierten Projektökonomie, angelehnt an Neckel (2008) und Boltanski/Chiapello (2003), können sie verorten.[4] Dass Anerkennung mit Verteilungsgerechtigkeit, humanen Arbeitsverhältnissen und einem Eigentümerstatus an sozialen Rechten auch der abhängig Beschäftigten einhergehen muss, wird geflissentlich verschwiegen. Das mag damit zusammenhängen, dass dialektischem Denken, dem wechselseitigen Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen, am Institut für Sozialforschung keine Relevanz mehr zugemessen wird.[5] Wer beschönigend von Paradoxien des Kapitalismus redet, verabschiedet sich von einer einschlägigen Gesellschaftskritik, die auch das Ganze als das Unwahre in Frage zu stellen vermag. Die Differenz zur Wirklichkeit schrumpft verdächtig.

Im selben Heft stellt die Soziologin und Kulturanthropologin Kira Kosnick Ergebnisse ihrer Feldforschungen aus den »ethnischen Clubszenen« vor. Am Beispiel einer exklusiven Party-Veranstaltung in »La Beach de Belgique«, einer nächtlichen Busreise von Paris nach Brüssel mit anschließendem Tanzevent, illustriert sie die europäischen Clubnächte vom 13. April 2010. Mit ihrem vierköpfigen Clubszenen-Team beansprucht Kosnick, die Kommunikations-, Habitus- und Selbstdarstellungsdimensionen von »Ausgehen« in Paris, London und Berlin untersuchen zu wollen. Selbstbewusst fahnden die Forscherinnen nach den »empirischen Praxen sozialer Begegnung und Unterscheidung, die (post-)migrantische Clubszenen in urbanen Räumen charakterisieren«. Von »Unabgeschlossenheit« und »Fluidität« der beteiligten sozialen Netzwerke[6] und »posttraditionalen Vergemeinschaftungen« (»Neo-Tribes«) wird gesprochen (S. 23). Generationsspezifische kulturelle Normen stehen zur Disposition, werden ständig neu ausgehandelt. »Wohin kann eine junge Frau aus einer Hindu-Familie mit einem Muslim ausgehen? Darf sich gleichgeschlechtliches Begehren vor dem Hintergrund einer die Grenzen überschreitenden Öffentlichkeit artikulieren und wie?« (S. 27) Seit Stuart Hall wissen wir, dass hybride kulturelle Globalisierungs- und Identitätsbildungsprozesse relevant sind. Was bei Kosnick und Co. auffällt, ist ihre Theorielosigkeit, ihr Unwille, kulturelle Praxen entfremdeter, erlebniskonsumorientierter Mittel- oder Oberschichtenangehöriger kritisch zu hinterfragen, geschweige denn einen Bezug zu einer auseinanderdriftenden Gesellschaft herzustellen. Der Kritiker erinnert sich an Thorstein Veblens Darlegungen über den schmarotzerhaften Müßiggang der feinen Leute, den dieser am dekadenten Luxuskonsum von Teilen der amerikanischen Oberschicht im 19. Jahrhundert ausmachte. Doch nicht nur der tendenzielle Verfall einer Disziplin ist der Skandal, sondern das Gebaren jener Geber, die dafür Steuergelder aus der Hand geben. Die EU stellt dafür 1,2 Millionen aus dem »Starting Independent Researcher Grant« zur Verfügung – vorgesehen für Nachwuchswissenschaftler und ihre »anspruchsvollen, risikoreichen Projekte an Forschungseinrichtungen in den Mitgliedsländern« (S. 23).[7] Ein solches Vorhaben, so interessant manche Facetten sein mögen, »kommt dem Bestehenden zugute«, indem es die Dekadenz narzisstischer Konsumenten als wichtige interkulturelle Praxis verkauft.

Als drittes Leuchtturmbeispiel soll das Forschungsprojekt von Helma Lutz erwähnt werden. Lutz, seit 2007 Professorin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, hat sich mit Studien über den Zusammenhang von Migration, weiblicher Haushaltsarbeit und Genderforschung einen Namen gemacht. Ihr Buch »Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung« gibt eine profunde Einführung in die­se zumeist illegale Problematik moderner Arbeitsgesellschaften. Im aktuellen Forschungsprojekt, das ebenfalls in Forschung Frankfurt vorgestellt wird, geht es um transnationale Versorgungsketten von Ost- nach Westeuropa, wobei insbesondere polnische und ukrainische Trans­mi­gran­tinnen und ihre Familien in den Blick genommen werden. Anders als bei Honneth, wo teils wirklichkeitsfremde Abstraktionen im Vordergrund stehen, oder bei Konsnicks Partytruppe, die sich in exklusiven Justemilieus tummelt, geht es hier um handfeste Probleme, die oftmals verharmlost oder beschwiegen werden. Ohne die »Carearbeit« der polnischen oder ukrainischen Frauen, verstanden als die »gesamte Breite von Sorge- und Pflegetätigkeiten im Lebenszyklus von der Kindheit zum Alter« (S. 29), würde mancher Haushalt in Deutschland zusammenbrechen. Der deskriptive Überblick von Lutz ist informativ, auch was die Lage der daheimgebliebenen Kinder,[8] Ehemänner und großelterlichen Ersatzeltern betrifft. Wo liegt das Problem? Lutz verschweigt die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Arbeits- und Produktionsverhältnisse hervorbringen. Sie verbleibt bei der Benennung von Geschlechterungleichheit, der ungleichen Macht zwischen Frauen im Dienstleistungssegment, der Skandalisierung von Ausbeutungsstrukturen, die der Markt hervorbringe. Des Weiteren plädiert sie dafür, die »Intersektion zwischen Wohlfahrtsstaats-, Gender- und Migrationsregimen systematisch zu untersuchen, wobei sie Regime als ein Regelwerk mit formalisiert-rechtlichen wie auch nicht-formalisierten Aspekten definiert. Wie wird Carearbeit zwischen den Geschlechtern verteilt? Werden Fürsorgearbeit und Erwerbsarbeit unterschiedlich bewertet? In welchem Sektor wird Unterstützung geleistet? Wie werden Schieflagen ausgeglichen? Welches Genderregime steckt in der Migrationspolitik?« Vor lauter Genderaspekten sieht sie den kapitalistischen Verwertungszusammenhang menschlicher Arbeitskraft nicht mehr. Vorhandene oder tendenzielle Ausbeutungsstrukturen in den Wohlstandszonen der EU bleiben unterbelichtet oder sollen mit formalen bzw. nicht formalen Regelungsversuchen abgedämpft werden. »Theorie«, sofern vorhanden, »wird zur Deskription«.

Honneths, Kosnicks und Lutz’ Präsentationen nähern sich jenem Deutungsversuch zur »Zukunft der Soziologie« an, den der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), Hans-Georg Soeffner, zur Eröffnung des 35. Soziologiekongresses vorlegte: Darin sprach er sich für viele Perspektiven, für eine weitere Ausdifferenzierung des Fachs (»Bindestrichsoziologien«) aus. Getreu der Maxime Husserls, »wer mehr sieht, hat mehr recht«, beschreibt die moderne Soziologe Interaktionen zwischen System und Lebenswelt. »Schlüsselwissenschaft im Sinne einer Leitwissenschaft, die weiß, wen und wohin sie leitet, kann Soziologie nicht sein.«[9] Ihrer Funktion nach ist sie eine »Korrekturwissenschaft«, nicht Deutungswissenschaft, die Perspektiven jenseits des Bestehenden entwickelt. Soeffner weist der Soziologie eine professionalisierte Reparatur- und Verwaltungsfunktion des Bestehenden zu, er steht in der Kontinuität einer »Modernisierung moderner Gesellschaften«, die schon 1990 einen Frankfurter Soziologiekongress prägte, der implizit Demokratie und Marktwirtschaft zu unhinterfragbaren Variablen erkor. Für eine an die alte Kritische Theorie anknüpfende Soziologie gibt es jedoch keine – unmittelbare – Einheit von Theorie und Praxis.[10]

Adornos Abneigung gegenüber verkürzten Begriffsbildungen, die den materialen und historischen Gehalt des Untersuchungsgegenstandes ausblenden, ist bekannt. Gegenüber dem allgegenwärtigen Gerede einer Weiterentwicklung moderner Gesellschaft (reflexive Modernisierung im Sinne Ulrich Becks), die es im Zeitalter der Globalisierung und Standortkonkurrenz zu bewahren oder gestalten gelte, geht es um die »Einsicht in das, was ist, aber in einem solchen Sinn, dass diese Einsicht kritisch ist, indem sie das, was gesellschaftlich ›der Fall‹ ist ..., an dem misst, was es selbst zu sein beansprucht, um in diesem Widerspruch zugleich die Potenziale, die Möglichkeiten einer Veränderung der gesellschaftlichen Gesamtverfassung aufzuspüren«.[11] Ebenso richtig ist, dass der kritische Geist sich theoretisch in Zeiten nichts abnötigen lassen darf, in denen jede praktische Veränderung der Welt durch ein prima facie alles abdichtendes gesellschaftliches Bewusstsein verstellt zu sein scheint. Kritisches Denken muss dann erst recht radikal sein – in dem Sinne, dass es an die Wurzel der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse geht. Es gibt Zeiten, in denen Theorie die einzig mögliche, jedenfalls die richtigere Praxis ist.[12]

Wie kaum ein anderer Ort in Deutschland lädt daher Frankfurt am Main zu Reflexionen über das jeweilige zeitgenössische Bewusstsein der Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft ein. Bereits zum fünften Mal tagte in der Mainmetropole ein Soziologiekongress. Zwei dieser Kongresse ragen besonders heraus. Stritten 1910 unter anderem Georg Simmel, Ferdinand Tönnies, Max Weber, Werner Sombart und Robert Michels über Werturteilsfreiheit in der Wissenschaft und die methodische Verortung der Soziologie, so fochten 1968 Theodor W. Adorno, Ralf Dahrendorf, René König und andere einen Grundsatzstreit über eine angemessene Diagnostik des Gesellschaftlichen aus, die in Adornos Referat »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft« ihren angemessenen Ausdruck fand.[13] Hinzu kommt, bezogen auf Frankfurt als Standort zentraler soziologischer Theoriebildung, dass z.B. in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren mit Max Horkheimer und Karl Mannheim zwei prominente Vertreter unterschiedlicher »Soziologien« ansässig waren, deren kontroverse Wissenschaftskonzeptionen bis heute nachwirken.[14] Als Ausgangspunkt diente Mannheims Buch Ideologie und Utopie, das Horkheimer und Adornos scharf kritisierten. »Hauptthema des Streits zwischen den soziologischen Denkweisen war nichts Geringeres als die Frage: Welches ist der richtige Weg, um nach dem Verfall der großen Philosophietraditionen Gesellschaftstheorie zu begründen, die der Krisenerfahrung der Moderne angemessen ist?«[15] Da Mannheim von der generellen Ideologiehaftigkeit des Wissens ausging, stellte er die von Horkheimer bevorzugte, auf eine Veränderung der Verhältnisse abzielende kritische Gesellschaftstheorie, die auch auf Marx rekurriert, in Frage.

Es ist daher durchaus verdienstvoll, wenn just zum 100-jährigen Bestehen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS)[16] eine editorische »Zwischenbilanz« vorgelegt wird. Einer der Herausgeber, Klaus Lichtblau, hat sich intensiv mit der Institutionalisierung soziologischer Theoriebildung in Frankfurt und ihren transnationalen Facetten befasst.[17] Mitherausgeberin Felicia Herrschaft gilt hingegen eher als Expertin für Entgrenzung von Kunst und Soziologie. Beide haben unterschiedliche WissenschaftlerInnen und NachwuchswissenschaftlerInnen für dieses Projekt gewonnen, die sich unter anderem maßgeblichen Soziologen und soziologischen Schulen widmen. Verwiesen sei auf die Sozialdemokratin Henriette Fürth, die den sozialpolitischen Teil des sozialwissenschaftlichen Milieus vor der Frankfurter Universitätsgründung verkörperte (Claudius Härpfer). Zu Unrecht in Vergessenheit geriet das umfangreiche Werk von Franz Oppenheimer, der nicht nur einen libertärsozialistischen »Dritten Weg« zwischen Markt und Staat konzeptionalisierte, sondern auch den ersten Lehrstuhl für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt inne hatte (Klaus Lichtblau/Patrick Taube).
Ein vermeintlicher soziologischer Außenseiter, der Publizist Siegfried Kracauer, gehörte zu den wichtigsten Impulsgebern der späteren »kritischen Theoretiker« Theodor W. Adorno und Leo Löwenthal (Victoria Wendt). Der insbesondere von seinem Rivalen Max Horkheimer bedrängte Wissenssoziologe Karl Mannheim (vgl. dazu die Beiträge von Jens Koolwaay sowie Amalia Barboza) und sein intellektuelles Umfeld (»Soziologie und Lebensstil des Mannheim-Kreises in Frankfurt«) erhalten eine angemessene Würdigung (Radostina Ilieva). Verschiedene Aufsätze thematisieren die heterogenen Entwicklungen der Frankfurter Tradition der Gesellschaftskritik am Beispiel Horkheimers, Adornos, Habermas’ und Honneths (Stefan Müller-Doohm), den Einfluss von Friedrich H. Tennbruck (Fehmi Akalin) und Thomas Luckmann (Thorsten Benkel) als empirisch-konstruktivistisches Pendant zur Kritischen Theorie und nicht zuletzt den Lehrgehalt der Frankfurter Soziologie in den 1950er und 1960er Jahren (Felicia Herrschaft) und die Assistenten der Goethe-Universität in den 1960er Jahren (Kai Müller). Hervorzuheben ist, dass die Frankfurter Lehre als modern eingestuft wird, weil sie unter anderem auf Gruppenarbeit und Autonomie, Theorie und Empirie setzte und dass ein Teil der skizzierten Assistenten (Ludwig von Friedeburg, Thomas Luckmann, Ulrich Oevermann, Hansfried Kellner, Herbert Schnädelbach etc.) im zweiten Teil des Buches ausführlich in Form von Interviews zu Wort kommt. Mit Ausnahme von Friedeburgs ist eine deutliche Distanz zur damaligen Gesellschaftskritik erkennbar. Oevermann etwa, wie Oskar Negt einer der wissenschaftlichen Assistenten von Horkheimers Nachfolger Jürgen Habermas, stellt sich als reinen Wissenschaftler dar, dem das Treiben der außerparlamentarischen Opposition zuwider war (S. 373). Er verstehe sich nicht als Pferd aus dem Stall der Frankfurter Schule. Gleichwohl drückt sich seine Wertschätzung Adorno gegenüber auch in dem Hinweis aus, zwischen diesem und Weber gebe es eine »Konvergenz«, etwa hinsichtlich des Wertfreiheitspostulats in der Wissenschaft. Ähnlich argumentiert auch Herbert Schnädelbach, der bei Ador­no promovierte und habilitierte. Er sieht die Remigranten Adorno, Horkheimer und Mitscherlich als Insel in einer »stockkonservativen Universität« mit einer unterschwelligen Abneigung »gegen die jüdische Intelligenz«, die noch dazu als links galt. Dass dabei von ihm insinuiert wird, Adornos und Horkheimers Verhalten sei aufgrund dieser feindseligen Situation paranoid gewesen, wirft ein eher ungünstiges Licht auf Schnädelbachs Deutungsversuch (S. 458). Mit Goethe im Braunhemd hat Gerda Stuchlik die NS-Vergangenheit und -kontinuität an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, mit der die teils verhassten Remigranten konfrontiert wurden, bereits in den 1980er herausgearbeitet.[18]

Ärgerlich ist überdies, dass mit Heinz Brakemeier ein profilierter Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft übergangen wurde.[19] Das mit ihm durchgeführte Interview hätte mit Sicherheit noch andere Akzente gesetzt, insbesondere, was die Übersetzung der linken Theorie-Praxis-Ebene angeht, die weder Schnädelbach, Oevermann, noch andere leisten. Dagegen kommen mit Günter Dux und Alois Hahn Schüler von Luckmann zu Wort, sodass auch die andere Frankfurter Tradition vertreten ist. Die Einleitung der Herausgeber (und ein Teil der Beiträge) lässt zum einen den Hegemonieverlust einer »Kritischen Theorie« der Gesellschaft erkennen und verweist zum anderen auf die teils absurde Ausdifferenzierung innerhalb des Faches Gesellschaftswissenschaften bis in die Post-Bologna-Zeit hinein: »Die Einführung der neuen BA- und MA-Studiengänge für Politikwissenschaft und Soziologie hat inzwischen zu einer nicht mehr übersehbaren Verselbstständigung dieser beiden Disziplinen geführt, bei der unter anderem auch der grundlegende Widerspruch zwischen einer sich als Erfahrungswissenschaft verstehenden und insofern prinzipiell ›wertfreien‹ bzw. wertneutralen Soziologie einerseits und einer an den normativen Prämissen der klassischen Demokratietheorie orientierten … Politikwissenschaften andererseits eine zentrale Rolle spielt.« (S. 25). Von Gesellschaftskritik, wie sie von Stefan Müller-Doohm konzise als Frankfurter Markenzeichen herausgearbeitet wurde, wird konsequenterweise nicht mehr gesprochen.

Damit sind wir erneut beim Grundproblem angelangt, das die Soziologie heute in Frankfurt und darüber hinaus weitgehend kennzeichnet. Sie ist unkritisch, eine pseudoanwendungsorientierte Beratungswissenschaft[20] mit ein bisschen Dogmengeschichte, zumeist reduziert auf Weber, Simmel und Co. Doch selbst, wenn man Gründungsväter der deutschen Soziologie richtig, das heißt akribisch liest, wie dies unlängst Heinz Steinert getan hat,[21] kommt noch mehr Gesellschaftskritik zum Vorschein, als die meisten Weberduftmarken, die in regelmäßigen Abständen gesetzt werden (der »Geist des Kapitalismus« bzw. der »neue Geist des Kapitalismus«), suggerieren. Mit dem Mitbegründer der deutschen Soziologie gilt es daran zu erinnern, dass Zweckrationalität nicht alles, sondern Wissenschaft der Sache wegen ein Wert an sich ist. In diesem Sinne lohnt sich der Versuch, aus dem selbstgewählten Gehäuse der Hörigkeit herauszutreten.

Jens Becker ist Dozent für Politikwissenschaften und Soziologie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt am Main, und an der Europäischen Akademie der Arbeit.

[1] Theodor W. Adorno, Theorie der Gesellschaft. Stichworte und Notizen zur Vorlesung 1949/1950, in: Frankfurter Adorno Blätter VIII. Im Auftrag des Theo­dor W. Adorno Archivs, hrsg. von Rolf Tiedemann, Göttingen 2003, S. 127.
[2] Vgl. Oskar Negt, Kant und Marx. Ein Epochengespräch, Göttingen 2003.
[3] Dieser Begriff des Soziologen Manuel Castells wird natürlich nicht wirklich erklärt.
[4] Vgl. Claudia Honegger/Sighard Neckel (Hrsg.), Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt, Frankfurt a.M. 2010; Sighard Neckel, Flucht nach vorn: Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Frankfurt a.M. 2008; Luc Boltanski/Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003.
[5] Vgl. dazu Theodor W. Adorno, Einführung in die Dialektik, Frankfurt a.M. 2010, S. 138, 145f.
[6] Dieser abgenutzte Modebegriff darf mittlerweile in keiner soziologischen Untersuchung mehr fehlen!
[7] Siehe auch: www. migrant-socialities.eu/
[8] Vgl. dazu: Weltmarkt Hausarbeit. Ein blinder Fleck in der Gleichstellungspolitik. Gender-Lecture mit Helma Lutz am 9.2.2009. www.genderkompetenz.info/veranstaltungen/genderlectures/2009_02_09_hu (Zugriff, 18.11.2010).
[9] Vgl. Hans-Georg Soeffner, Unentbehrlich als Korrekturwissenschaft, in: Frankfurter Rundschau, 12.10.2010, S. 30-33.
[10] Zum Verhältnis Theorie und Praxisbezug im Kontext der Kritischen Theorie vgl. Michael Th. Greven, Kritische Theorie und historische Politik, Opladen 1994, S. 10-14.
[11] Theodor W. Adorno, Einleitung in die Soziologie, Frankfurt a.M. 2003, S. 31.
[12] Vgl. grundlegend Klaus Dörre/Stephan Lessenich/Hartmut Rosa, Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte, Frankfurt a.M. 2009, insbes. Lessenich, Mobilität und Kontrolle. Zur Dialektik der Aktivgesellschaft, S. 126ff.
[13] Der die Grundsätze der Profession berührende Positivismusstreit in der deutschen Soziologie sei hier nur kurz erwähnt.
[14] Vgl. dazu insbesondere Stefan Müller-Doohm, Adorno. Eine Biografie, Frankfurt a.M. 2003, S. 236ff.
[15] Ebd., S. 236.
[16] Die DGS wurde eigentlich 1909 gegründet, der eigentliche Gründungsakt kann jedoch mit dem Kongress von 1910 in Verbindung gebracht werden.
[17] Soziologie in Frankfurt. Eine Zwischenbilanz, hrsg. von Felicia Herrschaft/Klaus Lichtblau, Wiesbaden 2010 (Seitenangaben im Folgenden beziehen sich auf diesen Text). Vgl. auch Klaus Lichtblau, Hundert Jahre nach der Premiere. Frankfurt schreibt Soziologie- und Kongressgeschichte, in: Forschung Frankfurt, H. 2/2010, S. 76-80.
[18] Gerda Stuchlik, Goethe im Braunhemd. Universität Frankfurt 1933-1945, Frankfurt a.M. 1984.
[19] Vgl. dazu auch: Jens Becker, Emanzipation und gesellschaftliche Befreiung als Daueraufgabe. Zum Tode Heinz Brakemeiers (6.5.1925-12.1.2010), in: Sozialismus 2/2010.
[20] Christine Resch, Berater-Kapitalismus oder Wissensgesellschaft?, Münster 2005.
[21] Heinz Steinert, Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktion. Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2010.

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