1. Dezember 2001 Ralf Brodesser

Spätkapitalistische Ansprüche – frühkapitalistische Realität

In Hamburg wurde am 2. November 2001 einer der ersten Call-Center-Tarifverträge in Deutschland unterschrieben. Räumlich gilt der Tarifvertrag für die Hansestadt Hamburg. Die fachliche Reichweite umfasst sowohl interne (Call-Center-Abteilung in einem Unternehmen) wie auch externe (Call-Center-Dienstleistungsunternehmen) Call-Center des Einzelhandels. Das ist einerseits positiv zu bewerten, denn in den externen Bereichen herrschen oftmals schlechtere Arbeitsbedingungen und niedrigere Gehälter als in internen. [1] Andererseits ist die Einbeziehung externer Call-Center problematisch, handelt es sich doch um Dienstleistungsunternehmen, die unterschiedliche Leistungen anbieten, u.a. auch das Telefonbanking für Banken, die von diesem Tarifvertrag nicht erfasst werden.

In der Branche ist es üblich geworden, die Beschäftigten Agents [2] zu nennen. Dabei handelt es sich zwangsweise um Multitalente, die unterschiedlichste Aufgaben übernehmen, sodass sich ihre Arbeit nur schwer mit einem Tarifvertrag fassen lässt.

Schwierig gestalteten sich die Verhandlungen um die Eingruppierung. Gewerkschaftliches Ziel war es, die Beschäftigten in den Gehaltsgruppen C1 bis C5 möglichst hoch einzugruppieren. Kriterien hierfür waren die Befugnisse der Agents sowie Qualifikation und Berufserfahrung.

In der Gehaltsgruppe C1 finden sich Agents wieder, die niedrig qualifizierte Tätigkeiten übernehmen, wie z.B. Bestellannahme, Eingabe und Bearbeitung von Kundendaten. Damit die KollegInnen diese oftmals monotone und wenig anspruchsvolle Tätigkeit nicht zu lange ausüben müssen, und um ihnen geregelte Aufstiegsmöglichkeiten – damit auch mehr Gehalt – zu ermöglichen, hat ver.di durchgesetzt, dass diese Agents bei der Besetzung freier C2 Stellen vorrangig berücksichtigt und durch Qualifikationsmaßnahmen bei ihrem Aufstieg unterstützt werden; eine Überprüfung ihrer Tätigkeit ist nach sechs Monaten durchzuführen. Da diese Regelung im Grundsatz auch für die anderen Gehaltsgruppen gilt, sind Qualifikationsmaßnahmen im Tarifvertrag festgeschrieben. Eine wichtige Regelung, die die Option auf eine Veränderung tayloristischer Arbeitsbedingungen markiert, und einen praktischen Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs über »lebenslanges Lernen« leistet.

In C2 trifft der Agent Entscheidungen im vorgegebenen Rahmen, wie z.B. Auftragsfreigaben im Bestelldialog oder die Durchführung von Sondergutschriften in einem begrenzten Rahmen. Schwierig gestaltete sich die Eingruppierung von Agents, die im Outbound-Bereich (aktive Ansprache von Kunden durch den Agent) arbeiten. Wollten die Arbeitgeber alle Outbound-Tätigkeiten in C2 eingruppieren, konnte sich ver.di mit der Forderung durchsetzen, die telefonische Erstansprache von Kunden (Kaltakquisition) in C3 einzugruppieren. Denn: neue Kunden anzusprechen ist erheblich anspruchsvoller, als einen bestehenden Kundenkreis auf neue Angebotsaktionen aufmerksam zu machen.

Ein weiteres umkämpftes Highlight in dem Tarifvertrag ist die Honorierung von mehrsprachigen Tätigkeiten nach C3. Bisherige Call-Center-Praxis ist es, sich die vielfältigen Qualifikationen der Beschäftigten (oftmals StudentInnen) [3] quasi als Gratisqualifikation anzueignen. Dem wurde mit diesem Tarifvertrag entgegengewirkt. In C3 sind weiterhin Agents eingruppiert, die Sonderaufgaben (z.B. umfassende Reklamationsbearbeitung, die nicht durch Systemvorgaben erfasst sind) übernehmen sowie Spezialkenntnisse besitzen und für diesen Bereich auch aufgefordert sind, sich fortwährend über Neuerungen zu informieren. In C3 ist auch die Einarbeitung neuer Agents eingruppiert (Coaching), eine Tätigkeit, die ohne Tarifvertrag i.d.R. von erfahrenen Agents übernommen wird, ohne jedoch ein anderes Gehalt dafür zu bekommen. In der Gehaltsgruppe C4 finden sich Supervisoren oder Gruppenleiter, in C5 leitende Angestellte.

Mit dem Call-Center-Tarifvertrag erhalten die Beschäftigten ein politisches und moralisches Druckmittel. Denn die Arbeitgeber müssen sich nun rechtfertigen, warum sie weder den Gehalts- noch den Manteltarifvertrag in ihrem Unternehmen anwenden. Hierdurch wird in einen Bereich der New Economy gewerkschaftlich eingegriffen. Ein Bereich, in dem es auf Arbeitgeberseite so gut wie keine Tarifbindung gibt. Und Haustarifverträge wie z.B. beim Otto-Versand, in denen die Entgelt- und Rahmenstrukturen in internen Call-Centern geregelt sind, sucht man bei externen Call-Centern vergebens. Deshalb wurde in den Tarifverhandlungen der Haustarifvertrag bei Otto zum Ausgangspunkt genommen; die Otto-spezifischen Tätigkeitsbeschreibungen wurden verallgemeinert, in wichtigen Punkten (Qualifikationsmaßnahmen, Recht auf Statusüberprüfung) wurde vom Haustarifvertrag abgewichen.

Nicht verhandelt wurden die Gehälter, die eins zu eins aus dem Gehaltstarifvertrag des Einzelhandels übernommen wurden (C1 = 2575,83 DM im ersten Jahr der Tätigkeit, C2 = 2961,13 DM, C3 = 3174,31 DM, C4 = 4465,16 DM). Dass diese nicht zur Diskussion standen, hängt u.a. mit dem niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Agents zusammen.

Der neue Tarifvertrag ist ein Ansatz, frühkapitalistische Strukturen gewerkschaftlich zu regeln. Solange der Organisationsgrad auf Seiten der Beschäftigten wie der Unternehmen jedoch extrem niedrig bleibt, ist die Wirkung mehr symbolischer und moralischer Natur. Ein nächster Schritt muss sein, Unternehmen in die Tarifbindung zu holen, was nur geht, wenn die Agents entsprechenden Druck machen. Erste positive Beispiele dafür gibt es: z.B. die Gründung der – gewerkschaftskritischen – Call-Center-Offensive in Berlin, die auch Vorbildcharakter für deutschlandweiten Widerstand hat. Diese Kämpfe mit Öffentlichkeitswirkung und die kleinen alltäglichen betrieblichen Auseinandersetzungen haben dazu geführt, die Arbeitgeber an den Verhandlungstisch zu bringen. Die Rolle der Gewerkschaften ist hierbei ambivalent: Sie reiben sich am Widerstand, der links neben ihnen entsteht, [4] ohne den jedoch tarifvertragliche Fortschritte nicht zustandekommen.

Realpolitisch ist der Tarifvertrag ein kleiner Erfolg, der durch weitere Kämpfe vergrößert werden muss, denn die tayloristischen Arbeitsbedingungen bestehen fort – als ein Faktor, der auf Kosten der Gesundheit der Agents geht. Allerdings sind Tarifverträge immer auch Mittel, den Klassenkompromiss zu organisieren und somit zur Stabilisierung von Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen beizutragen. Reale Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen sind notwendig, müssen jedoch eingebettet sein in langfristige Strategien, die herrschenden unfreien Strukturen zu überwinden. Denn nur so ist es möglich, dass die Menschen die Verfügung über ihre eigenen Lebensbedingungen (Klaus Holzkamp) erhalten.

Ralf Brodesser war Mitglied der Tarifkommission und ist zur Zeit Doktorand an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg.

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