23. Oktober 2020 Thomas Jaitner
Spanien am Abgrund
Es steht nicht gut um Spanien. Die Corona-Pandemie, die nach dem Ende des nationalen Alarmzustandes im Juni beherrschbar schien, erreichte eine massive zweite Welle. Die Wirtschaft erlebte den tiefsten Absturz aller EU-Staaten, die zweite Corona-Welle wird eine Erholung noch schwieriger machen.
Die öffentlichen Dienste kämpfen mit großen Problemen, vor allem im Gesundheitswesen und in den Schulen; das System der autonomen Regionen erweist sich als ineffektiv. Die Monarchie ist auf einem Tiefpunkt angekommen, von dem sie sich nur schwerlich erholen wird. Die Flucht des Ex-Königs Juan Carlos zeigte, dass sie Teil eines umfassenden Systems von Korruption ist. Die politischen Auseinandersetzungen werden mit einer enormen Aggressivität geführt. Die ökologische Krise legte keine Pause ein, die Hitze und Trockenheit dieses Sommers sind ein deutliches Warnsignal. Die Pandemie hat die Krisenhaftigkeit der spanischen Gesellschaft deutlich gemacht, die schon zuvor bestand, die sich aber in dieser Ausnahmesituation umso deutlicher zeigt. Es ist offensichtlich, dass strategische Entscheidungen anstehen, die in der Vergangenheit immer wieder aufgeschoben wurden.
1.
Die Corona-Pandemie ist mit Macht zurückgekommen. Nach dem Ende des nationalen Alarmzustandes am 21. Juni ging die Behandlung der Pandemie in die Zuständigkeit der autonomen Regionen über. Es begann ein Wettlauf um eine möglichst rasche Rückkehr zur Normalität. Schon im Juli breitete sich das Virus in Katalonien dann wieder rasch aus, es kam zu lokalen Quarantänemaßnahmen. Im selben Monat mussten dort Strände wegen Überfüllung geschlossen werden. Seit August war auch das restliche Spanien betroffen, vor allem Madrid erlebte Rekordzahlen. Mitte Oktober gab es in ganz Spanien 11.970 Neuinfizierte pro Tag, in Madrid waren es allein 2.700. Mit 462 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner*innen in den letzten 14 Tagen gehörte Madrid zu den europäischen Spitzenreitern.
Die Gesundheitszentren als erste Anlaufstelle für Einwohner*innen mit Coronaverdacht sind wieder überlastet. Über ein Drittel der Intensivbetten sind mit Patient*innen belegt. Die Regierung musste 2.000 Soldaten zur Rückverfolgung der Infektionen bereitstellen, von denen 150 in Madrid im Einsatz sind. Mitte Oktober lebten 63% aller Spanier*innen mit Einschränkungen unterschiedlicher Art, die lokale Lockdowns, Reisebeschränkungen oder Begrenzungen für Restaurantsbesuche umfassen (vgl. eldiario.es, 17.10.). Bedenklich erscheint, dass das Personal im Gesundheitswesen erschöpft und wenig vorbereitet auf eine zweite Welle ist. Durch seinen Einsatz konnten bislang viele Mängel des Systems ausgeglichen werden. Dieser Befund ergibt sich z.B. aus einer Untersuchung des Ärztekollegiums von Barcelona über die Gesundheit des Personals im Gesundheitswesen. Danach haben 24% der Ärzt*innen mit dem Gedanken gespielt, ihre Arbeit aufzugeben (eldiario.es, 8.10.).
Es gibt eine intensive Debatte über die Frage, wie der besonders steile Anstieg in Spanien zu erklären ist.
Thomas Jaitner lebt in Köln. In Heft 5/2020 erschien von ihm der Beitrag: »Spanien: Die Wellen schlagen zehn Meter hoch«.