26. Mai 2021 Joachim Bischoff

Staat der Pandemie und die Defensive der politischen Linken

Die Kernthese von Klaus Dörre zur Einschätzung und Bewertung der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung lautet: »Die Corona-Pandemie ist eine medizinische Katastrophe, die sich auf eigentümliche Weise mit einer epochalen Zangenkrise verbindet.«[1]

Letztlich könnten Pandemie und Zangenkrise als Repulsionen einer Hyperglobalisierung verstanden werden. Unter Repulsionen versteht er die Auswirkungen der Globalisierung, die in gewisser Weise auf das Gegenteil transnationaler Verflechtungen hinauslaufen. Mit den unterstellten Begründungszusammenhängen hält sich Klaus Dörre nicht weiter auf, sondern argumentiert: Im Zentrum der theoretisch-politischen Debatten soll die Herausbildung eines neuen Staatsinterventionismus stehen, mit dem das Interregnum des »verlorenen Jahrzehnts« überwunden werde. Die These vom langen verlorenen Jahrzehnt müsste genauer ausgeleuchtet und begründet werden, denn die Merkmale und Ursachen für dieses abzuschreibende Jahrzehnt stellt er nicht einmal ansatzweise dar.

Stattdessen führt er seine Thesenfolge mit der Behauptung von der Herausbildung einer neuen Staatlichkeit im Zeitraum von 2008 bis 2018 fort: »Während des langen Jahrzehnts nach dem Finanzcrash haben sich Beharrungskräfte vor allem im politischen System bemerkbar gemacht. Die Unfähigkeit regierender Mitte-rechts- und Mitte-links-Koalitionen, eine Wende zur Nachhaltigkeit auch nur annähernd in Gang zu setzen, begünstigte die Herausbildung einer besonderen Form der Staatlichkeit, die hier als Tendenz zu bonapartistischen Demokratien bezeichnet wird.«[2]

Diesen Knoten in der gesellschaftlich-politischen Entwicklung des langen Jahrzehnts in Deutschland wollten wir mit unseren kritischen Nachfragen in einigen Aspekten näher begründet oder erläutert haben.[3] Dörre baut stattdessen die These seiner Krisendiagnose aus und entwickelt Überlegungen für die linke Strategiedebatte. Ausgangsargument: »Auf das Interregnum bonapartistischer Demokratien traf als äußerer Stoß die Corona-Pandemie«[4] – mit der Charakterisierung der neuartigen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise. »Mein Argument ist, dass es sich bei der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise tatsächlich um mehr als um eine große Krise kapitalistischer Akkumulation handelt. Schon solch große Krisen sind etwas Außergewöhnliches, denn sie markieren Verzweigungspunkte, an denen eine passive Revolution, eine Revolution-Restauration nötig ist, um die Kernstruktur kapitalistischer Vergesellschaftung zu bewahren. Von dieser Konzeption, die auf Antonio Gramsci zurückgeht, möchte ich mich keinesfalls ›verabschieden‹ … Der gegenwärtige Umbruch wird, wenn es um Digitalisierung und Nachhaltigkeit geht, seitens des reformwilligen Lagers der kapitalistischen Eliten geradezu als Revolution-Restauration interpretiert.«[5] Dieser Argumentation kann ich nur teilweise zustimmen.

Bruch in der Zivilisationsentwicklung

Diese Spezifizierung, dass es sich um mehr als eine große Akkumulationskrise handelt, eben um einen Umbruch der kapitalistischen Produktionsweise infolge der ökologischen und digitalen Umwälzung, hebt die These von der Herausbildung eines Interregnums nicht auf.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus.de.

[1] Klaus Dörre: Die Corona-Pandemie – eine Katastrophe mit Sprengkraft, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 2/2020.
[2] Ebd.
[3] Siehe J. Bischoff/B. Müller: Ende des Interregnums? Über Pandemie, Rezession und Doppelzangenkrise, in Sozialismus.de, Heft 3/2021, S. 58ff.
[4] Klaus Dörre in: Berliner Journal Heft 2/2021.
[5] Klaus Dörre, Kapitalismus, Natur und die Utopie eines nachhaltigen Sozialismus, in: Sozialismus.de, Heft 5/2021, S. 46

Die komplette Leseprobe als pdf-Datei!

Zurück