2. September 2024 Philipp Kufferath: Zum 100. Geburtstag des Sozialisten und Politikwissenschaftlers Peter von Oertzen (1924–2008)

Stratege, linker Netzwerker und sozialdemokratischer Brückenbauer

Repräsentative Funktionen in einer Volkspartei erfordern andere Qualitäten als die Aufgaben eines Universitätsprofessors. Das Amt eines Kultusministers und die Verpflichtungen als exponierter Vertreter einer Regierungspartei sind in aller Regel nicht zu vereinbaren mit einem Vertrauensverhältnis zu radikalen Linken.

Konservativ-adelige und bildungsbürgerlich-künstlerische familiäre Wurzeln prädestinieren nicht für eine Selbstverortung in der Tradition der sozialistischen Arbeiterbewegung. Und von einem Wissenschaftler erwartet man eher nicht, dass er einen großen SPD-Bezirk leitet, im Landtag federführend über Haushaltskürzungen verhandelt und seine Sympathien für lateinamerikanische Befreiungsbewegungen bekundet. Oder dass er sich in Strategiedebatten von SPD, Gewerkschaften, Grünen, PDS, Jungsozialisten und Trotzkisten einschaltet.
Peter von Oertzen hat jedoch versucht, diese sozialen Rollen und Denkwelten zumindest zeitweilig in sich zu vereinen.

Doch was bedeuteten diese identitären Friktionen und intellektuellen Gratwanderungen für sein Selbstverständnis? Welche Positionen und Handlungen hinterließen vor diesem Hintergrund bleibende Spuren? Sind bei ihm trotzdem ein Identitätskern, ein »roter Faden« im Lebensweg auszumachen? Anlässlich seines 100. Geburtstags am 2. September 2024 sollen im folgenden Beitrag einige übergreifende Entwicklungen, Umbrüche und wiederkehrende Muster seines turbulenten politischen Lebens skizziert werden.

Widersprüchliche Identitäts­angebote und politische Lernerfahrungen

Bei Peter von Oertzen kristallisiert sich bereits früh ein identitäres Selbstverständnis heraus, das sich von seinen Altersgenossen abgrenzen lässt. Konstitutiv für seine Erfahrungswelten sind Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen Rollen sowie Reminiszenzen an vergangene Bedeutung, die ihm im familiären Umfeld begegnen. Das bildungsbürgerliche Umfeld seiner Mutter Else Kaibel hat den Glanz des 19. Jahrhunderts weitgehend verloren, die künstlerischen Meriten ihrer direkten Vorfahren, der Schadows und Rauchs, liegen lange zurück. Der Vater Friedrich-Wilhelm von Oertzen radikalisierte sich im Ersten Weltkrieg und engagierte sich später im nationalrevolutionären Tat-Kreis um Hans Zehrer. Aufgrund der frühen Trennung der Eltern ist es für von Oertzen selbstverständlich, sich zwischen unterschiedlichen Lebenswelten zu bewegen.

Seine Schulzeit ist von gegensätzlichen Erfahrungen gekennzeichnet. Nach einer reformpädagogischen Förderung in privaten Grundschulen erlebt er am Gymnasium eine leistungsorientiert-militaristische Zurichtung im Geist einer nationalen Erweckung. Familiäre Distinktionsbedürfnisse und die selektive Aufnahme der NS-Ideologie ergeben eine widersprüchliche Mischung zwischen dem verinnerlichten Ideal einer Volksgemeinschaft, einem ausgeprägten Bedürfnis nach Freiräumen und der Erwartungshaltung, einmal zur Elite zu gehören. Die Orientierung auf eine Offizierslaufbahn bietet ihm eine Perspektive, diese Bedürfnislagen auszubalancieren. Die eigenen Kriegserfahrungen und Verwundungen an der Ostfront, der Verlust von Freunden und Verwandten und schließlich die militärische Niederlage bringen von Oertzens Weltsicht ins Wanken, ohne dass gleichwertige Identitätsangebote sofort greifbar wären.

In dieser Situation hilft ihm ein Rekurs auf die Ideologie des im Krieg verschollenen Vaters. Dies eröffnet ihm 1945/46 eine Möglichkeit, sich vom diskreditierten NS-System abzugrenzen und sich als idealistischer nationaler Sozialist neu zu definieren. Von Oertzen revidiert diese Identitätskonstruktion in den folgenden Umbruchsjahren jedoch mehrmals. Durch Lektüreerfahrungen, Zugeständnisse an den neuen demokratischen Zeitgeist und die Orientierung auf eine wissenschaftliche Karriere eröffnen sich ihm Auswege aus der Sinnkrise.

Zur Sozialdemokratie oder zur Arbeiterbewegung hatte von Oertzen bis dahin keinerlei Bezug.

Philipp Kufferath ist Referent der Friedrich-Ebert-Stiftung im Archiv der sozialen Demokratie.

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