1. März 2001 Redaktion Sozialismus

Streit um Politik und Personen

Der ehemalige Partei- und Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble sieht die CDU programmatisch neu aufgestellt. »Aber wir überlagern durch den Eindruck von Streit die Wahrnehmung ... Das Rentenplakat hätte niemals in der CDU Empörung ausgelöst, wenn es nicht die Spendenaffäre gegeben hätte. Die Partei ist verletzt. Das verunsichert.« Schäubles kritische Bewertung zeichnet ein zu positives Bild der Lage. Die CDU hat sich erholt, aber sie ist in Kernfragen des weiteren politischen Kurses immer noch im Prozess der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung.

Eine Mehrheitsströmung geht davon aus, dass es falsch wäre, eine konfrontative Oppositionspolitik zu betreiben. Wenn die CDU die Wähler zurückgewinnen will, die ihr 1998 den Rücken zugewandt haben, dann kann sie sich nicht darauf beschränken, die Schwächen von Rot-Grün schonungslos zu attackieren. Sie muss vielmehr ein eigenständiges Profil für die »gesellschaftliche Mitte« entwickeln. Zwar hat die Partei eine Strategie der Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft proklamiert, aber die Formel vom »Konservatismus mit Herz« ist bislang abstrakt geblieben. Nach wie vor hat die Union gegenüber den Regierungsparteien Kompetenzprobleme: nicht nur beim Thema »Umbau des Sozialstaates«, wo sie weder in der Auseinandersetzung über die Rentenreform, noch über die Gesundheitspolitik punkten konnte, sondern auch in Fragen der Wirtschaftspolitik. Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Rüttgers sieht die Defizite: »Die CDU muss eine Neufundierung der sozialen Marktwirtschaft herbeiführen. Die soziale Marktwirtschaft ist ein Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das auf Werten beruht und Markt und Menschlichkeit miteinander verbindet... Die CDU muss die Wirtschaftskompetenz zurückgewinnen und gleichzeitig der SPD die Kompetenz für Chancengerechtigkeit streitig machen.« Zwar hat die Parteivorsitzende Merkel erkannt, dass es um die Verdichtung der politischen Programmatik auf den Kern einer »neuen sozialen Marktwirtschaft« gehen muss, aber ihr fehlt das politische Gewicht, um die divergierenden Strömungen auf die Ausarbeitung dieser Grundlinie zu verpflichten. Die Konsequenz: Der Chor der Unionsstimmen ist eine einzige Kakophonie. In solchen Situationen wird es für die Führungsmannschaft brenzlig – der naive Wunsch greift um sich, ein alles integrierender, Perspektive weisender Kandidat möge das Ruder übernehmen. Personaldebatte steht auf der Tagesordnung. Davon, wie dornig der Weg der Erneuerung ist, weiss sogar die CSU ein Lied zu singen. Auch der immer um große Geschlossenheit bemühte bayerische Verband stolpert derzeit von Affäre zu Affäre. Mehr und mehr wird auch im blau-weißen Freistaat deutlich, dass der gepriesene flexible Kapitalismus viele Schattenseiten aufweist, die traditionelle Werte, Lebensgemeinschaften und regionale Kulturen zerstören. Man kann nicht Flexibilität und Mobilität predigen und zugleich das Lied von Heimat und Familie singen.

Das System Kohl hat den Niedergang der großen bürgerlichen Integrationspartei in Deutschland verzögert; in anderen westeuropäischen Ländern ist das bürgerliche Lager längst in einen politischen Pluralismus auseinandergefallen, der sich von einem großbürgerlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts über konfessionelle Miniparteien bis hin zu rechtspopulistischen und rechtsradikalen Formationen erstreckt.

Für Franz Müntefering gehört das bürgerliche politische Lager zu den Modernisierungsverlierern. »Man hat den gesellschaftlichen Wandel in Deutschland übersehen, ja sogar abgelehnt . Die CDU hat den Verlust der Mitte viel zu spät bemerkt, denn mit Blick auf zurückliegende Erfolge wurde der Aufbau neuer Wählerkoalitionen fast ein Jahrzehnt lang als unnötig angesehen.« Müntefering geht noch weiter: Aus seiner Sicht sind die Zeiten der Integration verschiedener sozial-ökonomischer Interessenlagen in einer christlich geprägten Volkspartei auch in Deutschland unwiderruflich vorbei. Nach der Eroberung der »neuen Mitte« durch die modernisierte Sozialdemokratie geraten die bürgerlichen Wählerschichten in ein Spannungsverhältnis zwischen Neoliberalismus auf der einen und Renaissance konservativ-restaurativer Werte auf der anderen Seite. Wie in anderen kapitalistischen Metropolen auch läuft eine Stärkung der konservativ-rechtspopulistischen Programmatik auf eine Aufsplitterung der bürgerlichen Wählerschichten und damit auf eine strukturelle Hegemonieunfähigkeit hinaus.

Der SPD-Generalsekratär sieht sich in der Rolle des einzig wahren Champions. »In der Mitte der Gesellschaft stehend ist die SPD die einzige Volkspartei, die ihre traditionellen Grundwerte mit einem modernen Politikstil verbinden kann... Sie ist einerseits geprägt durch ihre Tradition, ihre Gewerkschaftsnähe, durch die politischen Erfahrungen der sozialliberalen Ära und der neuen sozialen Bewegungen. Andererseits hat sie es geschafft, sich der neuen Wissens- und Informationsgesellschaft zu öffnen«. Die zentrale Botschaft für den Wahlkampf 2002 soll lauten: Nachdem die Sozialdemokratie den Reformstau in Deutschland aufgelöst habe, gehe es darum, den flexiblen digitalen Kapitalismus als Chance zu begreifen. Münteferings Parole heißt »Sicherheit im Wandel«. Das bedeutet: »Im zurückliegenden Vierteljahrhundert hat der gesellschaftliche Wandel eine neue Qualität erreicht. Neue Technologien haben die Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen verändert, Ausmaß und Geschwindigkeit von Innovationen haben enorm zugenommen. An die Stelle einer überwiegend kollektiv organisierten Industriegesellschaft ist das Leitbild einer individualisierten und pluralisierten Gesellschaft getreten. Durchlässigkeit, gleicher Zugang, Teilhabe sowie neue Wege im Bildungsbereich, im Arbeitsleben und bei der sozialen Sicherheit sind notwendig ...«

Ein rosiges Bild, das hier vom Kapitalismus des 21. Jahrhunderts gezeichnet wird. In Zeiten einer unaufhaltsamen wirtschaftlichen Dynamik, eines unerschrockenen Forschergeistes und auf dieser Grundlage wachsender Beschäftigung soll es den Sozialdemokraten nicht schwer fallen, »an der Spitze des Fortschritts zu stehen« und »bereit für die Zukunft« zu sein.

Ausgeblendet bleibt dabei die Realität. »Sicherheit im Wandel« heißt, die Augen vor der Zuspitzung der Verteilungsauseinandersetzung und den Tendenzen zu autoritären Gesellschaftskonzeptionen zu schließen. Den gefeierten »Wandel« gibt es nicht zum Null-Tarif: Senkung der Lohnnebenkosten, Verschlechterung bei Sozialtransfers und öffentlichen Dienstleistungen, Flexibilisierung des Arbeitsalltags, Experimente im Niedriglohnbereich. Hinter der Parole »Fördern und Fordern« verbirgt sich letztlich der Zwang zur Lohnarbeit auch unter schlechten, manchmal menschenunwürdigen Bedingungen. Der Übergang von einer wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungspolitik zu einer autoritären Kontrollpolitik steht quer zu einer stategischen Orientierung, die einstmals unter der Losung »mehr Demokratie wagen« firmierte. Entscheidend wäre in der Tat eine Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen, eine Politik der »Inklusion« und nicht der Ausgrenzung und Marginalisierung. Wenn man sich jedoch die den Wahlkampf 2002 vorbereitenden Papiere durchliest, gewinnt man den Eindruck, dass zwar viel über die Stärkung der Zivilgesellschaft geredet wird, dass faktisch aber durch die Modernisierungs- und Kontrollpolitik der Rechtspopulismus gerade nicht geschwächt wird.

In den bevorstehenden Landtagswahlen muss die Sozialdemokratie erst noch den Beweis ihrer strukturellen Hegemoniefähigkeit antreten. In Hamburg, wo im Herbst eine neue Bürgerschaft gewählt wird, zählt aktuellen Umfragen zufolge die rechtspopulistische PRO-Partei des Richter Schill mit 9% zu den Gewinnern. Hier wird also –wie in anderen westeuropäischen Ländern – ein ganz anderer Anwärter auf die Erbschaft des konservativen Lagers sichtbar. Die SPD hat bislang die Moderation zwischen Modernisierung (Innovation) und sozialer Gerechtigkeit meist zu Lasten der berühmten »kleinen Leute« betrieben. Eine solche Politik verspricht keine gute Zukunft.

Freuen darf sich Müntefering über »die Fixierung der kleineren Parteien auf die SPD«. Mit Blick auf die FDP der Möllemanns und Westerwelles mag die Freude des SPD-Generals berechtigt sein. Die Grünen und die PDS könnten wegen dieser Fixierung allerdings erheblichen Schaden nehmen, wenn das eigene politische Profil nicht mehr erkennbar ist.

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