26. Januar 2012 Annette Ohme-Reinicke

»Stuttgart 21« und das Problem der Repräsentation

Als »Sieg für die repräsentative Demokratie« feierten die Befürworter von S21 den Ausgang des Volksentscheids vom 27.11.2011; »Der Filz siegt« kommentierte der mit den S21-Gegnern sympathisierende Arno Luik im »Stern« den Sieg der Befürworter. Welche Lehren lassen sich aus der »Logik repräsentativer Politik« ziehen?

In Stuttgart fliegen zurzeit Schuhe und es hagelt Protestbriefe in Richtung Grüne Partei, vornehmlich adressiert an Ministerpräsident Kretschmann. Die Enttäuschung innerhalb der Protestbewegung ist nach der verlorenen Volksabstimmung groß. Dennoch gehen die Aktivitäten weiter. Während der Montagsdemonstrationen sind stets etwa 4.000 Menschen auf der Straße, Veranstaltungen zu Themen wie Pressefreiheit oder Bürgerbeteiligung sind überdurchschnittlich gut besucht. 500 (!) Personen kamen am 23.1.2012 zu einer Veranstaltung über die Zusammenhänge der globalen Krise und »Stuttgart 21«. Hier zeigt sich auch die Suche nach Möglichkeiten politischer Artikulation. Die Hartnäckigkeit der »Stuttgart 21«-Gegner ist ein Phänomen und gerade angesichts dessen fragt es sich, wie es gelingen konnte, der Bewegung das Wasser abzugraben und den Bau des Großprojekts in der öffentlichen Meinung mehrheitlich als politisch legitim erscheinen zu lassen.

Bereits seit dem Sommer 2010 ging es nicht mehr nur um die Frage eines Bahnhofsumbaus, vielmehr standen und stehen sich spätestens seit dieser Zeit unterschiedliche Politikformen gegenüber. Das bürgerschaftliche Aufbegehren sollte um jeden Preis unterdrückt werden. So hatte der Daimler-Chef Dieter Zetsche seinerzeit erklärt, er könne hinsichtlich »Stuttgart 21« zwar keine verkehrlichen Vorteile benennen und auch der Unternehmer Hans-Peter Stihl konnte dazu keine »klare Aussage« machen. Dennoch finanzierten diese Konzerne großzügig Werbefeldzüge für das Projekt. Denn, so der langjährige BDA-Präsident Dieter Hundt, »Stuttgart 21« sei zu einem Symbol dafür geworden, ob sich die Industrie »einem Teil der Öffentlichkeit beugen« würde. Und Angela Merkel sah die Relevanz von »Stutt­gart 21« nicht etwa in infrastrukturellen Verbesserungen, sondern in dessen politischer Bedeutung. Mitte September 2010 erklärte sie, ein Nachgeben würde die Glaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik etwa gegenüber Griechenland schwächen.

In den obersten Etagen von Industrie und Politik war die Frage nach »Stuttgart 21« somit längst beantwortet: Es ging um die Unterwerfung der Protestbewegung. Denn was sich gegenüberstand und seither gegenübersteht sind Forderungen nach plebiszitären Demokratieformen einerseits und dem Diktat der repräsentativen Demokratie als herrschender – und in diesem Fall beherrschender – Politikform andererseits. Die Bürger sollen unter das Prinzip der Repräsentanz, der Stellvertreterpolitik, gezwungen werden, andere Formen politischer Artikulation sollte und soll es nicht geben. Diese Unterwerfung vollzog sich in Stuttgart vornehmlich in drei Schritten: den Schlichtungsgesprächen, der Hoffnung auf die Grünen als Regierungspartei und der Volksabstimmung.

Die Bundeskanzlerin und Unternehmer wollten die Bürgerbewegung wieder loswerden, denn sie hatte die Frage nach dem Bahnhofsumbau zu einer öffentlichen Sache, zu einer res publica gemacht. Dabei wurden autoritäre Machtstrukturen transparent gemacht und Manipulationstechniken offengelegt. Die Protestbewegung hatte überdies einen Ort geschaffen, an dem sich eine Kritik an der herrschenden Politik nicht nur ausdrücken konnte, sondern auch diskutiert und formuliert wurde. Die Bewegung agierte im besten Sinn republikanisch und ging damit eben über die Grundformen liberaler, repräsentativer Demokratie hinaus. Die Bürger ließen sich nicht mehr durch Parteien repräsentieren, sondern repräsentierten sich selbst. Das wurde der politischen Klasse zu einer Bedrohung.

Denn plötzlich schlossen sich dem immer mehr Menschen an. Im Sommer 2010 schnellte die Zahl der Demonstranten abrupt in die Höhe. Allein im September fanden sechs Großdemonstrationen statt, an denen zwischen 17.000 und 70.0000 Menschen teilnahmen. Die Protestbewegung hatte etwas Unkalkulierbares, das auf jeden Fall gebannt werden sollte. Dazu ließ die damalige CDU-Landesregierung Wasserwerfer einsetzen, es kam zu jenem »schwarzen Donnerstag«, an dem 400 Personen verletzt wurden, vier davon schwer. Doch die Zahl der Demonstranten stieg abermals an, nämlich auf etwa 150.000. Nun ergriffen die Grünen, ihrerseits in der Logik repräsentativer Politik verfangen, die Initiative. Sie holten den Konflikt von der Straße weg in ein Mediationsverfahren. Es waren die Grünen, die den CDU-Politiker Heiner Geißler als Vermittler vorgeschlagen hatten.

Für die Mehrheit der Protestbewegung – viele Aktivsten waren zum ersten Mal auf die Straße gegangen – versprachen die Gespräche Transparenz, sie glaubte an die Kraft der besseren Argumente und empirischer Grundlagen. Durchsetzen würde sich, so die Vorstellung, wer die besseren Fakten habe. Überdies sah sie das Schlichtungsverfahren als Anerkennung ihrer Empörung. Einzig die Gruppe der »Parkschützer« verweigerte sich dem Mediationsverfahren. Ergebnis dieser »Schlichtungsgespräche« waren verschiedene Vereinbarungen, wie etwa das Verpflanzen statt dem Fällen alter Bäume oder eine Simulation des Bahnhofprojekts am Modell, ein »Stresstest«, der die Tauglichkeit des Projekts überprüfen sollte. Die Protestbewegung hielt die Vereinbarungen für verbindlich, schließlich waren sie ja in aller Öffentlichkeit ausgesprochen worden. Tatsächlich aber hatten die Vereinbarungen keinerlei rechtsverbindliche Wirkung, es waren politische Übereinkünfte, die aufgrund des Drucks der Protestbewegung entstanden waren und deren Durchsetzung nun ebenfalls eine politische Angelegenheit werden sollte. Die Vertreter der Protestbewegung hatten in den Schlichtungsverhandlungen zwar mitgeredet, nicht aber mitentschieden. Das sollte sich auswirken: Unmittelbar vor den Schlichtungsgesprächen hatten sich 54% der Baden-Württembergischen Bevölkerung gegen »Stuttgart 21« ausgesprochen, nach den Gesprächen kehrte sich die Mehrheit um: Nun votierten 54% für das Projekt.

Protestbewegung in den Fängen politischer Repräsentanz

Die politischen Gewinner der Schlichtungsverhandlungen waren vielmehr die Grünen. Ihre Umfragewerte stiegen rapide in die Höhe und lagen im Dezember 2010 bei 29%. Grünen-Politiker betonten nach wie vor ihre Ablehnung des Projekts »Stuttgart 21«. Sie sprachen bei Demonstrationen und waren im Aktionsbündnis vertreten. Die Grünen gerierten sich als Partei der Bewegung. Und seitens der Protestbewegung bauten sich nach den »Schlichtungsgesprächen« Erwartungen bezüglich der bevorstehenden Landtagswahl auf, dass nämlich eine grüne Regierungspartei das Projekt »Stuttgart 21« verhindern würde. Genau diese Erwartung hatte die Partei der Grünen erzeugt, ja musste sie erzeugen, um überhaupt gewählt zu werden. Denn wo sonst, wenn nicht im Streit gegen ein technisches Großprojekt sammelten sich potenzielle Wähler, die sich durch eine Grüne Partei repräsentieren lassen könnten.

Winfried Kretschmann etwa hatte versprochen, nach der Landtagswahl die Rechtmäßigkeit der Verträge über »Stuttgart 21« verfassungsrechtlich überprüfen zu lassen. Gutachten waren längst in Auftrag gegeben. Nach der für die Grünen erfolgreichen Landtagswahl allerdings wurden hinter verschlossenen Türen Koalitionsverhandlungen mit der SPD geführt. Eine Vereinbarung war der Deal zwischen SPD und Grünen, dass auf eine juristische Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Verträge über »Stuttgart 21« verzichtet würde und zwar zugunsten einer Volksabstimmung. Beides, Vertragsüberprüfung und Volksabstimmung, wollte die SPD nicht, die Grünen stimmten zu. Innerhalb der Protestbewegung war eine solche Alternative freilich nicht diskutiert worden. Die meisten Aktivisten hatten überhaupt keine Kenntnis davon.

So wurden in den Verhandlungszimmern von SPD und Grünen, nicht öffentlich auf der Straße, wichtige Entscheidungen besiegelt. Etwa die, auf eine juristische Überprüfung der Verträge zu verzichten und stattdessen eine Volksabstimmung durchzuführen. Das Aktionsbündnis, gewichtigstes Gremium der Protestbewegung, hatte die Idee einer Volksabstimmung rasch aufgegriffen und erklärt, man werde zur Abstimmung aufrufen, obgleich nicht damit zu rechnen sei, das hohe Quorum zu erreichen. Mit diesem Entschluss war die Mehrheit der Projektgegner vor die Entscheidung gestellt, sich entweder an der Volksabstimmung zu beteiligen oder bei einer sicheren politischen Niederlage zuzuschauen. Ein Diskussionsprozess über das Für und Wider einer Volksabstimmung hat es innerhalb der Protestbewegung nicht gegeben. Sie wurde von den Grünen entschieden.

Gleichwohl hatten die Grünen einerseits und die Protestbewegung andererseits hinsichtlich der Volksabstimmung verschiedene politische Interessen. Das Aktionsbündnis, als Vertreter der Protestbewegung, mobilisierte für eine Teilnahme an der Volksabstimmung, wohlwissend, dass das Quorum nicht erreicht werden würde. Eine Mehrheit gegen »Stuttgart 21«, so die Hoffnung, würde ein politisches Zeichen setzen. Anders die Grünen. Hier fürchtete man eine Mehrheit gegen »Stuttgart 21«, ohne das Quorum zu erreichen. Denn die Volksabstimmung wurde nicht unter dem Aspekt der Durchsetzung bürgerschaftlicher Interessen gesehen, sondern aus dem Blickwinkel der Legitimierung Grüner Regierungstätigkeit bewertet. Der Grüne-Verkehrsminister von Baden-Württemberg und vormals vehementer Gegner des Bahnhofsumbaus »Winfried Hermann sagte, er sei ›froh, dass das Ergebnis so klar ausgefallen ist.‹ Sein Albtraum wäre ein Sieg der Gegner gewesen, ohne aber das Quorum zu erreichen« (Stuttgarter Zeitung, 2.12.11, S. 27). Denn dann wären die Grünen in der Position gewesen, die Protestbewegung als Vertreter einer Mehrheitsmeinung in der formaldemokratischen Minderheit, dem nicht erreichten Quorum, anerkennen zu müssen. So deckt sich hier das Interesse der Grünen mit dem Inte­resse der Großunternehmen, sich nämlich nicht »einem Teil der Öffentlichkeit beugen« zu müssen (Hundt).

Ironischer Weise hatten sich die Grünen zu Zeiten ihrer Gründung selbst als Partei sozialer Bewegungen verstanden. Sie sah sich einst als Versuch, emanzipatorische Politikformen in den Parlamenten nicht nur zu vertreten, sondern auch zu praktizieren. Das Rotationsverfahren oder die Doppelbesetzung von Spitzenämtern waren dafür Versuche. Sie scheiterten, denn: Emanzipatorische Politik lässt sich eben nicht delegieren oder stellvertretend umsetzen. Das wäre ein Widerspruch in sich. So insinuieren sich Vertreter der Grünen zwar gelegentlich als die Spitze sozialer Bewegungen – »Vierzig Prozent sind unserer Meinung gefolgt (!)« (Winfried Hermann nach der Volksabstimmung, Hervorh. A.O.-R.) –, verkennen aber womöglich die Tragik der eigenen Politik. Denn – und das liegt nun einmal in der Logik des repräsentativen Systems – statt eine wirkliche Opposition zu sein, »erfüllen die Grünen die Aufgabe aller institutionskonformen Oppositionen: die mögliche Rebellion zur Ordnung zu rufen und in die Ordnung zurückzuholen. Wie vormals die Sozialdemokratie.« (Johannes Agnoli)

Und auch wenn in Stuttgart niemand Militärtruppen gegen demonstrierende Arbeiter befehligen wird, sondern inzwischen so manche muntere Protestveranstaltung im Rathaus stattfindet, so drängen sich Analogien spätestens dann auf, wenn ein Grüner Ministerpräsident Polizisten und vielleicht Wasserwerfer gegen jene Protestierer in Bewegung setzen lässt, die ihn in Baden-Württemberg an die Regierung brachten.

Die Protestbewegung ihrerseits war, und ist teilweise immer noch, von jener Ambivalenz gekennzeichnet, die vielen Protestbewegungen eigen ist: Einerseits ist das Aufbegehren motiviert von der Überzeugung, dass die etablierten Parteien die Bürgerinnen und Bürger nicht hinreichend vertreten, andererseits richten sich Forderungen und Aufrufe der Protestbewegung, ja Hoffnungen auf Veränderung genau wieder an diese Parteien. Das Prinzip der politischen Repräsentanz wirkt in soziale Bewegungen hinein, die Stellvertreterpolitik beginnt in den Köpfen. Sich davon zu lösen wäre ein weiterer Schritt im Lernprozess der Stuttgarter Bürgerbewegung.

Dr. phil. Annette Ohme-Reinicke ist Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart. Aktuelle Publikation: »Das große Unbehagen. ›Stuttgart 21‹: Aufbruch zu neuem bürgerlichen Selbstbewusstsein?«, Stuttgart 2012. Kontakt: ohme-reinicke@philo.uni-stuttgart.de.

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