29. November 2023 Sebastian Gerhardt

Thomas Kuczynski wird in unserem Gedächtnis bleiben

Liebe Annette, liebe Mitglieder der Kuczynski-Großfamilie, liebe Freunde und Weggefährten, liebe Nachbarn von Thomas und Annette, verehrte Trauergäste,

 

heute haben wir uns eingefunden, um gemeinsam Abschied zu nehmen, indem wir uns an Thomas erinnern. Jede und jeder hat viele Gründe, hier zu sein. Viele sind hier, die Thomas länger kennen als ich, und ihn ganz anders kennengelernt haben.

Mein Name ist Sebastian Gerhardt. Dass ich allein hier vorn stehe und rede, heißt nicht, dass ich für alle sprechen könnte. Ich stehe hier, weil wenige Tage vor seinem Tod Thomas mich in einem Gespräch mit Annette danach gefragt hat. Und es gibt Fragen, auf die kann man nicht mit »Nein« antworten.

Ich werde nicht über Dinge reden, von denen ich keine Ahnung habe. Ich werde über den lebenden Thomas sprechen.

Thomas war ein höflicher Freund. Höflich nicht im Sinne einer übertriebenen Wertschätzung für die Privatsphäre, sondern im Sinne eines tiefen Verantwortungsbewusstseins. Von ihm übernommene Aufgaben wollte er immer pünktlich erfüllen. Gleiches erwartete er von anderen und legte keinen Wert ­darauf, ihnen in ihre Arbeit hineinzureden. Als Ökonom wusste er, dass Kooperation nur funktioniert, wenn man nicht alles selber macht. Auch als Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR war der Satz »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!« nicht sein Motto. Ein Dirigent leitet ein Orchester, sollte aber nicht versuchen, Trompetern oder Bassisten ihre Instrumente zu erklären.

Wo Thomas diese Haltung gelernt hat, weiß ich nicht. Ich vermute, dass hier seine Herkunft eine Rolle spielt. Über den Einfluss seiner Familie gilt die von ihm gern herangezogene Bemerkung von Niels Bohr: »Das Gegenteil einer richtigen Behauptung ist eine falsche Behauptung. Aber das Gegenteil einer tiefen Wahrheit kann wieder eine tiefe Wahrheit sein.« Eine tiefe Wahrheit ist, dass seine Herkunft aus der Familie Kuczynski, dass seine Eltern Marguerite und Jürgen Kuczynski einen großen Einfluss auf Thomas’ Leben hatten.

Geboren 1944 in Hendon/London, im rettenden britischen Exil seiner Eltern, wurde Thomas als kleines Kind »nach Deutschland verschleppt«, wie er oft halb ernst, halb ironisch die Remigration seiner Eltern und seiner Geschwister Madeleine und Peter beschrieb. Thomas’ Welt war immer größer als nur ein Land, auf jeden Fall größer als »die größte DDR der Welt«.

Die Kuczynski-Großfamilie – ihr gehören im Jahr 2023 über 80 Nachkommen in Großbritannien, Irland, Frankreich, Slowenien, Spanien, Estland und in der Bundesrepublik Deutschland an –, verliert mit Thomas’ Tod den letzten Träger des Namens Kuczynski. Thomas’ Tanten, die fünf Schwestern seines Vaters, hatten den Normen der Zeit folgend bei der Eheschließung den Namen ihrer Männer anzunehmen.

Mit dem Tod von Thomas endet auch die Tradition der Kuczynski-Statistiker, die drei Generationen umfasst. Thomas’ Großvater Robert René Kuczynski (1876-1947) war Demograph und Statistiker. Sein Vater Jürgen Kuczynski (1904-1997) nutzte die Statistik vielfach in seinen Forschungen zur Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus.

Sebastian Gerhardt, Jahrgang 1968, lebt und arbeitet als freier Autor und Bildungsreferent in Berlin (Organisiert: geschichte-wird-gemacht.org; Beiträge: planwirtschaft.works). Bei diesem Beitrag handelt es sich um die Rede, die er auf der Trauerfeier für Thomas Kuczynski am 12. Oktober 2023 in Berlin gehalten hat. Sie ist auch dokumentiert auf www.lunapark21.net.

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