26. Februar 2013 J Bischoff / C. Lieber: Hans-Ulrich Wehlers Bilanz der »neuen Umverteilung«

»Tiefes Unbehagen…, schleichendes Missbehagen«

Für das bundesdeutsche Wahljahr konstatieren die Demoskopen keine Wechselstimmung.[1] Die Ausgangslage für die Bundestagswahl im September 2013 unterscheidet sich gravierend von der vorigen 2009.

Im Krisenjahr 2009 stand die Republik unter dem Schock der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, die den schärfsten Konjunktureinbruch in der Nachkriegsgeschichte brachte. Das Bruttoinlandsprodukt ging 2009 um 5% zurück. Allerdings hielt sich der Anstieg der Arbeitslosigkeit – bedingt durch ein Konjunkturprogramm, Ausweitung der Kurzarbeit und drastischen Abbau der Guthaben auf den Arbeitszeitkonten etc. – in Grenzen.

2013 sind die gesellschaftliche Rahmenkonstellation und politischen Stimmungen anders. Die Bundesrepublik wird in den anhaltenden Krisenszenarien der europäischen Nachbarstaaten als »Stabilitätsinsel« interpretiert. Eine Mehrheit der Bundesbürger sieht der wirtschaftlichen Entwicklung in den nächsten zwölf Monaten optimistisch entgegen.[2] Nur 26% befürchtet einen erneuten Abschwung, die große Mehrheit erwartet eine stabile oder positive Entwicklung. Der Anteil der Erwerbstätigen, die an der Sicherheit ihres Arbeitsplatzes zweifeln, ist heute etwa halb so groß wie Anfang 2009.[3]


Gerechtigkeitslücke

Große Beunruhigung geht in der Republik allerdings vom Thema der sozialen Gerechtigkeit aus. 69% der Bundesbürger halten die Verteilung von Vermögen und Einkommen für ungerecht, nur 15% der Befragten sind der gegenteiligen Auffassung. 64% sind der Meinung, die soziale Gerechtigkeit habe in den vergangenen drei bis vier Jahren abgenommen. Lediglich 7% sehen eine positive Entwicklung. Die Einschätzung einer ungerechten Verteilung im Land ist seit längerem im Fokus der kritischen Beurteilung. Der Anteil von etwa 70% der Bevölkerung, die dieser Meinung sind, hat sich in den Umfragen der vergangenen 15 Jahre nicht groß geändert.[4]

Schlussfolgerung der Demoskopen und Wahlkampfstrategen auf der Linken: Ein erfolgreicher Wahlkampf der Opposition zu Schwarz-Gelb, der in einem Politikwechsel münden könnte, setzt entweder eine erneute Aktualisierung der latenten Krise voraus, damit einen Anstieg der Unzufriedenheit, oder eine große gesellschaftliche Protestbewegung gegenüber schmerzhaften Reformen durch die Regierungsparteien – oder aber eine überzeugende Vision für die weitere Entwicklung des Landes.

Rot-Grün ist gegenwärtig keine überzeugende Alternative. Auch das bürgerliche Lager ist nach wie vor inkonsistent, sieht sich immer wieder mit intellektueller Kritik aus den eigenen Reihen an seiner politisch-moralischen Verfasstheit konfrontiert und besitzt im öffentlichen Raum keine wirklich substanzielle Diskurs-, geschweige denn Deutungshoheit.

Aus der Repräsentativumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD) geht hervor, dass 90% der befragten BürgerInnen unter sozialer Gerechtigkeit verstehen, »dass man von dem Lohn für seine Arbeit auch leben kann«.[5] Aber insbesondere die sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend kumulierende und verfestigende soziale Ungleichheit und Spaltung sowie das damit einhergehende Gefährdungspotenzial für demokratische Strukturen und die politische Willensbildung werden für viele politische Beobachter nicht als drängendes Problem aufgegriffen.


Wehler: »Empört euch!«

Das sieht auch der Doyen der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Hans-Ulrich Wehler, so. In seinen Augen steuert die soziale Ungleichheit in Deutschland auf einen heiklen Gefahrenpunkt zu und er wundert sich, warum die Diskussion darüber nicht längst leidenschaftlicher ist: »Wir sind das einzige europäische Land, das in den letzten neun Jahren stagnierende Realeinkommen hat ..., das bedeutet, dass in allen anderen Ländern, Frankreich, Holland, Schweden, England die Einkommen gestiegen sind, nur bei uns stagnieren sie. Das ist natürlich eine der Grundlagen des Exporterfolges, weil wir auf die Weise sozusagen mit billigen Waren auf den Weltmarkt vorstoßen können. Aber was das bedeutet für fast 40 Millionen Berufstätige, und da sind inzwischen acht Millionen mit Minijobs und Teilzeitarbeit beschäftigt, also ein enorm angestiegener Anteil, und das breitet sich nun wirklich aus als ein tiefes Unbehagen. Und ich glaube, dass das eine politisch gefährliche Situation ist ... das, was wir wissen, zeigt, dass sich in den letzten Jahren sozusagen ein schleichendes Missbehagen herausgebildet hat, und die Frage ist: Wann erreicht das sozusagen eine politische Gefahrengrenze, dass man politisch reagieren muss?«[6]

Für Wehler war soziale Ungleichheit neben politischer Macht und Kultur die zentrale Achse bei seiner Analyse der Dynamik des bürgerlich-kapitalistischen Deutschland seit der industriellen und politischen »Doppelrevolution« von 1815-1845/49. Aber so auf die Systeme sozialer Ungleichheit fokussiert wie seine jüngste »Fortschreibung«[7] deutscher Gesellschaftsgeschichte seit dem Erscheinen des fünften Bandes 2008 fielen diese Bände zuvor nicht aus. Sie bilanzierten die Entwicklung unter zentralen Topoi wie defensive Modernisierung und Reformära, deutscher Sonderweg, charismatische Herrschaft bei Bismarck und Hitler und schließlich Modell BRD vs. Fußnote DDR. Jetzt wird von Wehler eine andere Rechnung aufgemacht.

Seine Bilanzierung sozialer Ungleichheit in Deutschland fundiert er zu Beginn auf die allerelementarste ökonomische Tatsache: das Einkommen. »Schon vor einem Jahrhundert hat Max Weber geurteilt, dass die Verfügung über Einkommen ›spezifische Lebenschancen‹ schafft.« (67) Geblendet von den »Konjunkturjahren der alten Bundesrepublik« wurde die Durchsetzungskraft dieser ökonomischen Determinante in der Sozialwissenschaft fatalerweise zugunsten einer bloß behaupteten »Dominanz eines pluralistischen, individualisierten Lebensstils in neuartigen Milieus« (66) oft vorschnell relativiert. Gegen diese frühere modisch-kulturalistische Wende à la Ulrich Becks »Kinder der Freiheit« hatte Wehler immer schon Vorbehalte und sieht sich nun durch die wirkliche gesellschaftliche Entwicklung bestätigt: »Die Einkommenshierarchie ist eine der wichtigsten ›Indikatoren der sozialen Differenzierung‹ von Ungleichheit. Das schlechterdings Verblüffende an der westdeutschen Einkommensentwicklung ist ... ihre strukturelle Stabilität. Wenn sich ... der Einkommensanteil des obersten Quintils seit den 1950er Jahren bei 39,8% bewegte und 60 Jahre später noch immer bei diesem Wert lag, während der Einkommensanteil des untersten Quintils bei 7,1% ebenfalls völlig stagnierte, tritt dieses starre Ordnungsgefüge deutlich zutage.« (71) Das gleiche Bild ergibt sich für die drei mittleren Fünftel, die über diesen Zeitraum hinweg die Hälfte aller Einkommen auf sich vereinigen.

So kennzeichnend diese relationalen Größen für den Zeitverlauf sozialstruktureller Einkommenslagen auch sind, aussagekräftiger wären absolute Größen des Einkommens und die extreme Spreizung und Zerklüftung der Lohneinkommen gerade für das letzte Jahrzehnt, deren Dramatik Wehler doch wohl zum Titel seiner Streitschrift animiert haben: »die neue Umverteilung«.[8] Diese fokussiert und skandalisiert er in erster Linie in der »deutschen Vermögensungleichheit«. Denn für ihn hat sich »der eigentliche Sprengstoff in der maßlosen Konzentration von Vermögen und Einkommen an der Spitze der Wirtschaftselite herausgebildet« (72).

Die deutschen Reichen waren noch nie so reich wie heute. Die Finanzmarktkrise 2008/09 spülte noch weitere 50.000 Einkommensmillionäre in den Kreis der 345.000 Vermögensmillionäre, an deren Spitze im Jahr 2012 hundert Milliardäre stehen (vgl. 74). Damit weisen für Wehler die Vermögensverhältnisse zugleich »Klassengrenzen« eines in Deutschland bisher einmaligen Reichtums auf. Im Jahr 2000 »besaßen 5% rund die Hälfte des gesamten Vermögens; die ärmeren 50% dagegen besaßen 2%. 2010 gehörten aber dem reichsten Dezil ... über 66% des Geldvermögens. Bis 2010 hatte in einem drastischen Konzentrationsprozess das oberste Drittel also zwei Drittel des gesamten Privatvermögens an sich gebunden. Beim obersten 1% befanden sich, Gipfel der Ungleichheit, 35,8% des Vermögens, mehr als bei den 90% unterhalb dieser Spitzenposition.« (73) Dieser Konzentrationsprozess war schon in der Blütezeit der Sozialen Marktwirtschaft der 1950er/60er Jahre in Gang gekommen und führte schließlich heute zu einer Vermögenskonstellation, die nach Wehler zugleich ein Potenzial »atemberaubender Erbschaftszuteilungen« beinhaltet. Bis zum Jahr 2010 hatte sich in 37,5 Millionen Haushalten ein Vermögen von 7,7 Billionen Euro angesammelt, wovon in den zehn Jahren zuvor in 8,1 Millionen so genannten Erblasserhaushalten 2 Billionen Euro vererbt wurden, also 27% des Nettovermögens aller Privathaushalte. Diese Konstellation von Vermögen und Vererben sieht Wehler sich in der nächsten Dekade wiederholen und schlussfolgert: »Ohne kontroverse Debatten werden mithin in den zwei Dekaden von 2000 bis 2020 vier Billionen Euro an Erbmasse in private Hände bewegt. Besäße die Bundesrepublik eine Erbschaftssteuer von 50%, wie es sie in anderen Ländern gibt, hätte sie in dieser Zeit zwei Billionen Euro gewonnen, die für den Ausbau des Bildungssystems und der Verkehrswege, die Renovierung der Infrastruktur in den west- und ostdeutschen Städten und andere dringende Aufgaben ohne jede weitere Belastung des Steuerzahlers hätten eingesetzt werden können. Anstatt jedoch die Erbschaftssteuer endlich anzuheben, ist sie unter dem Druck der Lobby unlängst noch weiter abgesenkt worden, so dass die Verbesserung des Gemeinwohls erneut krass missachtet worden ist. Warum ist das Problem nicht auf die politische Agenda gesetzt worden?« (77)


Begrenzte Reichweite einer »Mentalitätsargumentation«

Die Beantwortung dieser zentralen Frage bleibt angesichts der politischen Verve, mit der Wehler in seiner Streitschrift die soziale Frage aufwirft, blass. Aus der marktbedingten Klassenlage (Max Weber) ergeben sich dafür zunächst keine politischen Impulse, vielmehr hält der marktkapitalistische »Distributionsmechanismus« bei Wehler »die systematische gesellschaftliche Reproduktion ungleicher Lebenschancen und -risiken« (65) unvermindert am Laufen. Aber Wehler selbst hält Webers Konzeption, von der er zunächst ausgeht, für erweiterungsbedürftig. »Drei weitere Ungleichheitsdimensionen sind daraufhin berücksichtigt worden: Die Unterschiede des Geschlechts, des Alters und der ethnischen Zugehörigkeit wirken in hohem Maße auf das Strukturgefüge der Sozialen Ungleichheit ein.« (36) Nehmen wir ganz im Sinne des Autors unter Kultur als einer »Hauptdimension jeder Gesellschaft« (55) noch den Bereich der Bildung hinzu, liegt es nahe, gerade in diesen Bereichen jenseits von Erwerbsarbeit und privaten Haushaltsvermögen nach Veränderungsprozessen von Mentalitäten zu suchen, mit denen diese Realität sozialer Ungleichheit sensibler wahrgenommen und politisch verarbeitet wird. Aber »diese Mentalitäts­argumentation ist deshalb schwierig, weil wir sehr wenige zuverlässige Umfragen haben, durch die Mentalitätsveränderungen ermittelt werden. Also, es könnte ja zum Beispiel die Ebert-Stiftung oder andere Stiftungen könnten mal genauer ermitteln, wie da die mentalen Zustände sind.«[9]

Von der Partizipation an Bildungsprozessen werden sich gemeinhin eine Öffnung sozialer Ungleichheit, Durchlässigkeit in der Sozialhierarchie und mehr egalitätsfreundliche Aufstiegsmobilität versprochen. Aber auch in den Feldern der Bildungschancen, Elitenrekrutierung oder Heiratsmärkte sieht Wehler »schwerwiegende Argumente gegen die modische Behauptung der Entstrukturierung und Individualisierung, welche die gegenwärtige deutsche Gesellschaft angeblich in wachsendem Maße prägen« soll (95). Gerade im Bildungssystem ist die soziale Ungleichheit »ungeachtet aller Reformanstrengungen erstaunlich stabil geblieben«. Noch immer zeigt sich »die Beharrungskraft des väterlichen Abschlusses« (104f.). So ist im Hochschulbereich die Rekrutierungsquote aus Arbeiterfamilien, »die anfangs 6% betragen hatte, bis 1971 zwar einmal auf 16,9% angestiegen, bis 1990 aber wieder auf 7% abgesunken« (106). Und auch für die Auflockerung der Leistungseliten sind positive Auswirkungen der Bildungsexpansion »grandios überschätzt« worden. »Vielmehr hat sich in den letzten drei Jahrzehnten ein erstaunlich elitärer Absonderungsprozess vollzogen.« (87)[10]


Analyse neoliberaler Transformation: Fehlanzeige

Wehlers Bilanz zum »Ordnungsgefüge der sozialen Ungleichheit in der Bundesrepublik« (58) liest sich wie ein »stählernes Gehäuse der Hörigkeit«.[11] Nimmt man noch seine dritte analytische Dimension politischer Herrschaft und Macht hinzu, erst recht. Denn die Zusammenballung von Einkommen und Vermögen an der Spitze der Sozialhierarchie, die »in Europa viel langsamer und viel weniger gravierend als etwa in den USA vordringt« (61), lässt sich nicht allein auf die Auswirkungen genuiner Marktkräfte zu Gunsten der wirtschaftlichen und politischen Eliten zurückführen. »Vielmehr geht es um die Durchsetzung von Machtentscheidungen, die diese in ihrer Herrschaftsarena offenbar fällen können. Ihnen liegen normative Vorentscheidungen zugrunde, die (in der Sprache Max Webers) das Schließungspotential nutzen, das ihnen als Machtelite zugewachsen ist.« (62)

Diese Konstellation massiver sozialer Polarisierung, die nach einer deutlichen Abnahme sozialer Ungleichheit in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg »insbesondere die neoliberale Wirtschaftspolitik ... seit den 1980er Jahren durchgesetzt« (59f.) hat, hält Wehler für einen »der dramatischsten Vorgänge der modernen Zeitgeschichte« (60).

Es gibt also eine Dimension der gesellschaftlich unterschiedlichen Ausgestaltung der Verteilungsverhältnisse. Aber eine Erklärung für den für alle kapitalistischen Hauptländer charakteristischen Verlauf der Einkommensunterschiede finden wir bei Wehler nicht. Dies ist für einen Zeithistoriker kapitalistischer Modernisierung in Deutschland schon erstaunlich. Zwischen 1907 und 1917 stieg der Anteil der obersten 10% der Einkommensgruppen zunächst auf ein vergleichsweise hohes Niveau von rund 42%. Während der Großen Depression und nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten stieg der Anteil der hohen Einkommen weiter an und erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sehen wir eine längere Phase der Angleichung der Einkommensunterschied. Ähnlich wie in den USA gab es auch in Deutschland eine Zeit der Großen Kompression.[12]

Der Historiker liefert nach all der Auflistung sich reproduzierender und aktuell verschärfender Ungleichheitsdimensionen keine Erklärung für die Beendigung der Phase der großen Kompression und hat damit auch kein Rezept für eine Veränderung der entgegengesetzten Entwicklungstendenz der Großen Divergenz.

Wehler sieht eine Kombination von Produktivitätsentwicklung und sozialstaatlicher Entwicklung als Ursache für die längere Phase einer Wohlstands­entwicklung mit »Verteilungsgerechtigkeit« an – d.h. es gibt Einkommens- und Vermögensunterschiede, die aber innerhalb des meritokratischen Leistungskonsenses von der Bevölkerungsmehrheit verarbeitet und akzeptiert werden.

Recht summarisch konstatiert der Zeithistoriker einen Abbruch dieser sozialstaatlichen Intervention: »Unterschiedliche Faktoren, insbesondere die neoliberale Wirtschaftspolitik von Präsident Reagan und Premierministerin Thatcher samt ihren Beraterstäben haben eine neuartige Verschärfung der Einkommens- und Vermögensungleichheit in den Nationalstaaten und zwischen ihnen herbeigeführt.« (59) Die These lautet mithin: Die soziale Kompression in der Nachkriegsordnung, die dem Kapitalismus ein »goldenes Zeitalter« ermöglichte, konnte in den zentralen Hauptländern durch eine breite Koalition gesellschaftlicher Kräfte beendet und aufgesprengt werden; die Deregulierung der Märkte schlug sich in einer neuen Verteilungsordnung nieder; auf Grundlage der stark geschwächten Gewerkschaften können sich kleine Eliten den Großteil des gesellschaftlichen Einkommens aneignen; letztlich wird dadurch die sozialstaatliche Massendemokratie unterminiert, die auf meritokratischen Leistungs- und Gerechtigkeitsnormen beruht.

In der Konsequenz dieser Deregulierung hat sich das Krisenpotenzial des Finanzmarktkapitalismus entwickelt und die große Krise hat die neoliberale Utopie von den segensreichen Märkten blamiert. Aber mit der Blamage ist weder die Ökonomie stabilisiert noch eine sozial gerechtere Verteilung etabliert. Und die Akteure auf dem politischen Feld unterschätzen weiterhin das Krisenpotenzial.


Der Staat soll es richten

Wehlers Plädoyer für die sozialstaatliche Intervention ist beeindruckend, aber politisch greifbar wird es nicht. »Unstreitig ist der Markt eine ingeniöse soziale Erfindung ... Eins aber vermag der funktionstüchtige Markt nicht: nach der von ihm erzeugten Wohlstandssteigerung von sich aus auch noch zielstrebig Soziale Ungleichheit zu verringern. Um mehr kann es nicht gehen ... Verringern kann die Ungleichheitsdistanz nur der mächtigste Akteur: der moderne Staat.« (11f.) Er allein kann Regeln setzen, auf denen die Sozialität von Marktakteuren für Wehler letztlich beruht: »Das ist eine anthropologische Konstante. Sie gilt selbstverständlich auch für jene Arena, in der sie ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen.« (12) Daher verletzte die neoliberale »Utopie der Regulierungsfreiheit eine anthropologische Konstante« (166).

Das ist für einen Zeithistoriker, der sich in seinem vierten Band der deutschen Gesellschaftsgeschichte mit der Erklärung eines »Zivilisationsbruches« im Gefolge der großen Weltwirtschaftskrise von 1928ff. konfrontiert sah, zu wenig an sozialgeschichtlicher Erklärung und Deutung der wirtschaftsgeschichtlichen Krisenkonstellation heute. Ein anderer Wirtschaftshistoriker führte gerade für die Zwischenkriegszeit, die jüngst wieder in der Zeitgeschichtsforschung als »Modell« für den fragilen Zusammenhang von kapitalistischer Marktwirtschaft, Sozialverfassung und Demokratiekrise diskutiert wird,[13] die Ursprünge der damaligen Katastrophe auf das »utopische Bemühen des Wirtschaftsliberalismus zur Errichtung eines selbstregulierenden Marktsystems«[14] zurück. Hier verhinderte keine anthropologische Konstante die Selbstzerstörung einer bürgerlichen Gesellschaft. Die Schlussfolgerungen nach dem damaligen Zusammenbruch der traditionellen Ordnung – dem katastrophale Ende des Versuchs, einen sich selbstregulierenden Markt und damit eine Marktgesellschaft oder marktkonforme Demokratie zu schaffen – schlugen sich in einem Konsens nieder: Arbeit, Boden und Geld aus dem Markt herauszunehmen und durch deren Regulierungen den Vorrang der Gesellschaft vor den Märkten zu sichern. Aber genau das ist durch einen neoliberalen Finanzmarktkapitalismus wieder zerstört worden.

Auch Wolfgang Streeck bezieht sich in seiner jüngsten Zeitdiagnose auf Polanyi: »Weber, Schumpeter und Keynes hatten allesamt, aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Wertungen, dem Kapitalismus freier Märkte für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ein sanftes oder weniger sanftes Ende vorhergesagt. Es lohnt sich auch, daran zu erinnern, dass Polanyi in The Great Transformation 1944 wie selbstverständlich davon ausging, dass der liberale Kapitalismus Geschichte sei und nicht wieder zurückkommen werde.« Konsequenterweise schlussfolgert Streeck für die gegenwärtige Krisenkonstellation: »Was derzeit geschieht, nimmt sich aus, als stamme es aus einem Polanyischen Bilderbuch.«[15]

Nach einer Erklärung solcher Zusammenhänge sucht man in Wehlers »Empört euch!« vergeblich. Vergleichbar seinem Freund aus Gummersbach und auf anderen politischen Feldern publizistisch intervenierenden Mitstreiter Habermas, der bei seinem jüngsten »J’accuse...!« zur Euro-Krise bar jeglicher ökonomischer Argumentation »die zivilisierende Kraft der demokratischen Verrechtlichtung«[16] beschwört, vertraut Wehler auf die Anthropologie. Vertrauen ist gut, aber staatliche Kontrolle soll es ja letztlich richten. Warum das bislang nicht funktioniert, darüber hätte man gerne mehr vom Kenner der deutschen Gesellschaftsgeschichte erfahren.

Die Geschichte des Kapitalismus zeigt, dass eine Kompression großer Einkommensspreizungen und eine Regulierung der Verteilungsverhältnisse politisch möglich und machbar ist. Es sind Transformationsprozesse, die von der Lohnarbeit ausgehen und über den Staat das Kapital immer wieder zu asymmetrischen Klassenkompromissen zwingen und so letztlich zu einer Zivilisierung des Kapitalismus beitragen. Das beinhaltet heute zum einen die Aufwertung aller zivilgesellschaftlichen Akteure, von den Gewerkschaften über die Repräsentanz des breiten Spektrums gesellschaftlicher Prekarität bis hin zu den historisch neuartigen und innovativen Protestformen im politischen Feld; zum andern einen konfliktorischen Verständigungsprozess über Leistungsgerechtigkeit, an der sich eine Mehrheit der Bevölkerung in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften immer noch als Wertorientierung ausrichtet, wie sich aus der Unterscheidung von akzeptierter Marktgerechtigkeit und kapitalismuskritischen Statements in vielen Befragungen ergibt.[17] Zugleich stimmt eine fortgeschrittene Erosion des politischen Systems in vielen europäischen Metropolen allerdings skeptisch, ob ein solcher Kurswechsel politisch machbar sein wird. Der Linkspartei traut Wehler hier keinen konstruktiven Beitrag mehr zu: »Der Anlauf, als ›Linkspartei‹ in den bevölkerungsstarken Westen ... zu expandieren, ist inzwischen gescheitert. Sie hat sich vor den Karren des blinden antisozialdemokratischen Hasses von Oskar Lafontaine spannen lassen und konnte sich außerdem nur auf kleine altkommunistische, trotzkistische Splittergruppen, neomarxistische Gewerkschaftler und blinde Kritiker der rot-grünen Reformen stützen. Diese schmale heterogene Basis reichte nicht aus, um zur Grundlage einer attraktiven größeren gesamtdeutschen Partei zu werden, die als Machtfaktor ernst genommen werden muss.« (163)

Mit ihrem (Wahl)Programmentwurf sozialer Gerechtigkeit durchaus in Richtung der Wehlerschen Streitschrift und mit einer Methodik der politischen Auseinandersetzung mit ihrer Konkurrentin SPD, bei der DIE LINKE sich wieder auf ihren vielversprechenden Aufbruch für eine neue politische Kultur besinnt, kann sie den ehemaligen leistungsbereiten Mittelstreckenläufer und heutigen Agenda-Befürworter eines Besseren belehren.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus, Christoph Lieber ist Redakteur von Sozialismus.

[1] Renate Köcher: Keine Wechselstimmung, FAZ, 19.2.2013, S. 8.
[2] Dazu die aktuelle Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD) im Auftrag der arbeitgebernahen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM): Was ist gerecht? Gerechtigkeitsbegriff und -wahrnehmung der Bürger, 2013.
[3] Ergänzend zu den demoskopischen Studien vgl. Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung München e.V./WISSENTransfer: Krisenerfahrung und Politik. Eine qualitative Befragung von Vertrauensleuten, Betriebs- und Personalräten aus Produktion und Dienstleistung, Hamburg 2013.
[4] Vgl. IfD: Was ist gerecht, a.a.O., S. 3ff.
[5] Ebd., S. 6.
[6] Das ist eine »politisch gefährliche Situation«. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler über die soziale Ungleichheit in Deutschland, dradio, 21.1.2013.
[7] Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013. Seitenzahlen in Klammern () beziehen sich auf diesen Text. Schon anlässlich des 47. Historikertages in Dresden im Oktober 2008 zur Entstehung gesellschaftlicher Ungleichheiten formulierte Wehler: »Es geht mir durch den Kopf, dass ich in gewisser Hinsicht die Vorgeschichte der gegenwärtigen Probleme in diesem fünften Band der ›Gesellschaftsgeschichte‹ geschrieben habe. Denn diese Spannungen des internationalen Turbokapitalismus und die Disparitäten, die er in den betroffenen Gesellschaften erzeugt, die sind seit den 1980er Jahren klar zu erkennen und spitzen sich im Augenblick nur dramatisch zu.« (Die his­torische Dimension der Ungleichheit, dradio, 1.10.2008.)
[8] Gerade die Fed-Studie »Changes in U.S. Family Finances from 2007 to 2010: Evidence from the Survey of Consumer Finances« von 2012 belegt eindrücklich die vorrangige Bedeutung der Primäreinkommen gegenüber der Vermögensbildung in der Krise. Vgl. dazu Fritz Fiehler: Die USA im Modus der Abschreibung. Haushaltsstudie über Einkommen und Vermögen in der Zeit von 2007 bis 2010, in: Sozialismus 9/2012; Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Kampf um die »Middle Class«, in: Sozialismus 10/2012; Bernhard Müller: Gesellschaftliche »Mitte« vor dem Abstieg?, in: Sozialismus 1/2013 und im vorliegenden Heft.
[9] Wehler: politisch gefährliche Situation, a.a.O.
[10] Wehler schließt sich hier den Ergebnissen der empirisch sorgsam untermauerten Studie von Michael Hartmann: Der Mythos von den Leistungseliten, Frankfurt a.M. 2002, an.
[11] Vgl. gegenüber der kulturalistischen Wende wie dem weberianischen Ansatz Wehlers die differenzierteren Ergebnisse zum Zusammenhang von Klassenstruktur und Sozialstaat mit Rückbezug auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie sowie die Geschlechter- und Prekarisierungsforschung bei Michael Vester und Katharina Pühl in Horst Kahrs (Hrsg.): Umkämpfter Sozialstaat. Ein Blick auf Klassenstrukturen und Transformationen, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2013.
[12] Christina Anselmann/Hagen Krämer: »Denn wer da hat, dem wird gegeben«. Spitzen­einkommen und Einkommensungleichheit in Deutschland, Bonn, September 2012.
[13] Vgl. Anselm Doering-Manteuffel: Weimar als Modell. Der Ort der Zwischenkriegszeit in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Mittelweg 36, 6/2012, S. 23-36.
[14] Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (1944), Frankfurt a.M. 1978, S. 54.
[15] Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013, S. 56 u. 239. Zur Deutung der Periode seit Ende der 1970er Jahre als erneute »Great Transformation« bis zur Großen Krise 2008ff. vgl. joachim bischoff/christoph lieber: die »große transformation« des 21. jahrhunderts. politische ökonomie des überflusses vs. marktversagen. eine flugschrift, Hamburg 2013.
[16] Jürgen Habermas: Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin 2011, S. 40.
[17] »Für die große Mehrheit der Bevölkerung sind Kapitalismus und Marktwirtschaft nicht das Gleiche ... Kapitalismus wird mehr als die Marktwirtschaft mit sozialer Ungleichheit, Ausbeutung und Gier assoziiert, Marktwirtschaft stärker mit Fortschritt, Freiheit, Wachstum und Verantwortungsgefühl.« (IfD: Das Unbehagen am Kapitalismus, Februar 2012, S. 2/3)

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