1. Mai 2007 Werner Rätz

Über Such- und Mobilisierungsprozesse

Vom 6.-8. Juni 2007 findet in Heiligendamm der Gipfel der acht mächtigsten Industriestaaten (G8) statt. Verschanzt hinter einer Mauer aus Draht und Beton und dem größten Polizeiaufgebot, das Mecklenburg-Vorpommern je erlebte, werden Strategiegespräche geführt, die das Schicksal der Welt bestimmen sollen. Dagegen, dass weiter Krieg und Menschenrechtsverletzungen, Umweltzerstörung, Sozialabbau, Steuergeschenke und Konzernhörigkeit die Weltagenda dominieren, mobilisieren Organisationen unterschiedlichster politischer Couleur und Herkunft.

Das Bemerkenswerteste: Die verschiedenen politischen Strömungen in der Mobilisierung arbeiten zusammen. Noch in Gleneagles (2005) hatte eine tiefe Spaltung und völlige Sprachlosigkeit zwischen ihnen geherrscht. Seit mehr als anderthalb Jahren gab es eine Vielzahl von Treffen, bei denen sich drei große Koordinationsebenen entwickelt haben (und viele kleinere). Schon bei der Bundeskonferenz Internationalismus (Buko) 2005 traf sich ein großer Teil des linksradikalen Spektrums. Daraus entstand das, was sich heute "dissent plus X" nennt und Gruppen und Personen umfasst, die sich ausdrücklich auf die Regeln des internationalen Netzwerks peoples’ global action beziehen, sowie weitere, u.a. migrantische und antirassistische Gruppen (Überblick auf www.gipfelsoli.org). Anfang 2006 startete die NGO-Plattform www.g8-germany.info, die sich im Sommer mit dem dritten und wohl breitesten Kreis zusammentat, dem "G8 Koordinierungskreis".

Für sein Zustandekommen hatten sich vor allem Attac und die Interventionistische Linke (IL) stark gemacht. Attac hatte als Netzwerk mit Mitgliedern aus allen Strömungen ein quasi natürliches Interesse an einem möglichst breiten Bündnis (www.attac.de/heiligendamm07). Die IL war erst kürzlich neu entstanden als Netzwerk von autonomen, undogmatischen, radikalen linken AktivistInnen und Gruppen mit dem ausdrücklichen Anliegen, sich in die politischen Verhältnisse einzumischen. Die G8-Mobilisierung sollte die Probe aufs Exempel darstellen (www.heiligendamm2007.de).

Der G8-Koordinierungskreis hat sich zwar entgegen ursprünglicher Hoffnungen nicht zu einem wirklichen Bündnis entwickelt, in dem verbindliche Absprachen und Entscheidungen stattfinden. Aber in ihm arbeiten inzwischen Beteiligte aus allen Strömungen und Organisierungsformen mit, sodass gegenseitige Information und eine gewisse Abstimmung aufeinander möglich ist. In jüngster Zeit hat die Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen (NRO), vor allem aus dem entwicklungspolitischen Bereich, erkennbar abgenommen. Dafür gibt es eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens gewerkschaftlicher Strukturen, vor allem für die Demonstration am 2.6., zu der mehrere Funktionsträger aufrufen und die ver.di-Jugend im Trägerkreis mitarbeitet.

Dort sind auch die Großaktionen, "Module" genannt (Internationale Großdemonstration am 2. Juni und Alternativgipfel vom 5.-7. Juni in Rostock, Massenblockaden in Heiligendamm, Camp in der Region), verabredet sowie eine Art Gesamtchoreografie des Protestes gestaltet worden. Die einzelnen Module sowie weitere Aktionselemente werden von eigenen AGen organisiert, die sich häufig politisch überschneiden, aber je für sich selbst verantwortlich entscheiden. Das klingt organisatorisch ein wenig kompliziert und ist es manchmal auch, bildet aber ziemlich gut das ab, was heute in der Linken an Zusammenarbeit möglich ist. Anders als noch in Köln 1999 gelingt es in diesem Jahr, dass sich die verschiedenen Initiativen gegenseitig verstärken und nicht schwächen. Viele Akteure betonen die Perspektive über den unmittelbaren G8-Gipfel hinaus. Bei den drei Aktionskonferenzen in Rostock konnten jeweils einige Hundert AktivistInnen aus verschiedenen Spektren einander direkt begegnen und ihre ursprünglichen Kulturschocks bearbeiten. Eine leerstehende und zum Abriss vorgesehene Schule in Rostock wird als gemeinsamer Ort für Büros und zum Wohnen von vielen genutzt. Auch falsche Vorstellungen darüber, welche politischen Positionen einzelne Partner denn tatsächlich vertreten, konnten korrigiert werden. Beispielsweise galt es in großen Teilen der autonomen Linken als ausgemacht, dass der Umweltbewegung generell die Natur wichtiger sei als die Lebenssituation des armen Teils der Menschheit. Da war es wichtig, dass ein Greenpeace-Vertreter auf dem Podium erklärt hat, dass die Klimafrage keine Menschheits-, sondern eine soziale Frage ist.

Ein zweites Beispiel ist das vielleicht ermutigendste: Während einer Veranstaltung der NRO-Plattform in Frankfurt haben Attac, Brot für die Welt, die Menschenrechtsorganisation FIAN, die Grundsatzabteilung der IG Metall, "kein Mensch ist illegal" und medico international über 120 Menschen dazu gebracht, zwölf Stunden lang miteinander über ihre jeweiligen Vorstellungen globaler sozialer Rechte zu sprechen. Gewerkschafter von VW erklärten, welche Schwierigkeiten sie haben, in konzerninterner und -übergreifender Konkurrenz ihre Arbeitsplätze zu verteidigen. FIAN stellte das Konzept bedingungsloser Geldzahlungen in Ländern des Südens vor, die den Armen ein Einkommen verschaffen. Und "kein Mensch ist illegal" legte dar, dass MigrantInnen aus den arm gemachten Ländern oft gar keine Wahl haben, als ihre Arbeitskraft unterhalb des allgemeinen Einkommensniveaus zu verkaufen, wenn sie überleben wollen. Da dies nacheinander geschah, mussten immer zwei Drittel der Anwesenden sich Themen und Sorgen anhören, mit denen sie sich sonst nicht beschäftigen und die ihren eigenen Vorstellungen direkt entgegenstanden. Man wollte das miteinander aushalten und sich nicht auseinander dividieren lassen. Daraus wird eine Serie weiterer Veranstaltungen entstehen.

Obwohl also eine Reihe von Erfahrungen enstanden, die Mut machen, gibt es auch Schwierigkeiten. Sie laufen auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt zu: Der Erfolg der Mobilisierung ist noch lange nicht gesichert. Es gibt zwar bisher eine breite Verankerung der Protestaktionen in der engeren aktivistischen Szene – kaum eine Stadt, in der nicht Veranstaltungen stattfinden, Bündnisse gebildet werden, Gruppen und Individuen überlegen, an welchen Aktionen sie teilnehmen wollen und wie sie nach Heiligendamm und Rostock und wieder zurück kommen. Aber kaum irgendwo geht es erheblich darüber hinaus. Zwar werden Busse zur Demonstration am 2. Juni angeboten, aber ihre Zahl ist ausgesprochen überschaubar. Es ist kein Großakteur sichtbar, der dafür sorgen könnte, dass 100.000 Leute nach Rostock kommen. Das muss dezentral vor Ort geleistet werden und es fehlt an allem: an der Erfahrung, wie man so was macht, am Mut, es einfach mal anzupacken, an den politischen Strukturen für eine spektrenübergreifende Arbeit vor Ort und am Geld. Auch die Ausstattung des zentralen Demobüros ist mit zwei Halbtagsstellen äußerst mickrig.

Und natürlich ist auch die Zusammenarbeit keineswegs immer harmonisch, es gibt viele Dissonanzen. Die Organisationen und Gruppen, die sich kritisch auf den G8-Gipfel beziehen, umfassen Teile der offiziellen Kirchenstrukturen, Parteien und ihre Gliederungen, große und kleine NROs, lokale Aktionsgruppen, Gewerkschaftsgliederungen, gewaltfreie Aktivistennetzwerke, radikale Linke (einschließlich solcher, die sich in einem Wettbewerb um ihre jeweilige Radikalität sehen). Darunter sind klar hierarchisch strukturierte Großorganisationen und Zusammenhänge, die jede Art von Delegation und Struktur ablehnen. Diese Breite führt zu Konflikten und sie haben sich etwa in den Bemühungen um ein gemeinsames Nutzungskonzept der Schule in Rostock bereits gezeigt.

Auch inhaltlich vertreten die Beteiligten höchst unterschiedliche Vorstellungen. Wenn man sich die verschiedenen Positionspapiere anschaut, dann wird schnell deutlich, wie weit manche auseinander liegen. Da spricht sich etwa Germanwatch für "mehr Investitionssicherheit" aus, ohne die "sich z.B. Afrika nicht aus seiner in vielen Staaten prekären Situation befreien (wird) können", während andere gegen die WTO mit der Parole mobilisieren "shrink it or sink it" ("mach sie kleiner oder lass sie ganz untergehen"). Und auch die immer wieder aufgerufene Debatte über die Aktionsformen ist konfliktgeladen. Dabei geht es kaum darum, dass tatsächlich Gruppen nach Heiligendamm mobilisieren würden, die größere Militanz ankündigen, als viel mehr um die grundsätzliche Haltung dazu. Was die konkreten Aktionen angeht, scheinen diesmal Einigungen sogar leichter als bei den bisherigen drei Weltwirtschaftsgipfelprotesten in der BRD.

Die unvermeidlichen organisatorischen Mängel und die aus der Breite resultierenden Reibungen sind aber nicht der Kern der Probleme. Für gravierender halte ich – und dies dürfte allein mit subjektiver Anstrengung auch nicht zu lösen sein –, dass für den Erfolg bisheriger Gipfelmobilisierungen immer innenpolitische Konflikte wesentlich beteiligt waren. Diese konnten in zweierlei Weise gelagert sein. Entweder machten Bewegungen gegen Regierungen (wie die rechte Berlusconi-Regierung in Italien in Genua 2001) oder konkrete Regierungspolitiken (die US-Gewerkschaften gegen die Freihandelspolitik der US-Regierung beim WTO-Treffen 1999 in Seattle) mobil oder sie traten in einer umfassenden Kampagne für ein klares, hoch gestecktes Ziel an (wie die britische Entschuldungsbewegung 2005 in Gleneagles). Beides fällt unserer Mobilisierung bisher schwer.

Das hat zum einen damit zu tun, dass die Bundesregierung offensichtlich von ihren britischen Kollegen gelernt hat. Tony Blair war es 2005 gelungen, eine breite Bewegung für die Entschuldung Afrikas so vollständig zu umarmen, dass sie unsichtbar wurde. Trotz eines riesigen Mobilisierungserfolges (weit über 200.000 Menschen), trotz klarer Forderungen gegenüber der Regierung gelang es ihm, die Reduktion der Verpflichtungen von 20 Ländern um 40 Mrd. US-Dollar als "größten Schuldenerlass der Geschichte" zu verkaufen. In Umfragen sagten später viele, dass ihrer Meinung nach die Demonstration von Gleneagles eine für die Regierung Blair gewesen sei. Ein ähnliches Szenario versucht Kanzlerin Merkel offensichtlich mit dem Thema Klima für Heiligendamm aufzubauen.

Das ist durchaus widersprüchlich und nicht so einfach wie 2005. Zum einen, weil auch wir daraus gelernt haben, zum zweiten, weil die britische Kampagne damals darauf verzichtet hatte, den eigentlichen gesellschaftlichen Widerspruch, nämlich den Irak-Krieg, überhaupt zu thematisieren. Dennoch werden wir eine Antwort auf den öffentlichen Eindruck geben müssen, dass sich die Regierung ja kümmert und der G8-Gipfel vielleicht sogar konkrete Maßnahmen vorschlagen wird. Bereits bisher fällt es ja schon schwer, die rein quantitativen Defizite der Regierungspläne ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. 30% Forderung nach CO2-Reduktion in der EU, aber nur 20% Absichtserklärung, das sind real aber nicht einmal fünf für Deutschland; und bis 2050 sollen es 50% sein? Das verwirrt und es ist nicht klar, ob das viel oder wenig, ehrgeizig oder katastrophal ist. Der Vorschlag, man müsse ein einfaches Kriterium zur Beurteilung dieser Frage etablieren, wie etwa 30% jetzt für die Industrieländer, 40% für die BRD und 80% bis 2050, klingt einleuchtend und ist wahrscheinlich auch richtig. Er ist aber erstens gar nicht so einfach im breiten Bewusstsein zu verankern und wirkt zweitens schon allein deshalb relativ hilflos, weil einzelne relevante Akteure durchaus andere konkrete Zahlen nennen.

Dabei wäre selbst dann, wenn ein solches quantitatives Beurteilungskriterium gesetzt werden könnte, der eigentliche Knackpunkt noch gar nicht im Blick, nämlich dass es hier gar nicht um Zahlen, sondern um eine ganz andere Politik gehen muss. Reduktion des CO2-Ausstoßes hält grundsätzlich am überkommen Verkehrs- und Transportsystem fest, Regulierung wird dabei auch bei Umweltorganisationen oft sehr stark über Preise gedacht. Eine völlig andere und für bestimmte gesellschaftliche Schichten, zu der auch die meisten Linken hierzulande gehören, auch absolut weniger mobile Gesellschaft ist noch keineswegs in unserem Denken angekommen. Und schließlich ginge es darum, auch die Aspekte des Themas im öffentlichen Diskurs zu verankern, die es tatsächlich zu einem "radikalen" Thema machen – also die Zusammenhänge mit den Destruktivtechnologien, mit der Permanenz des Krieges, mit der kapitalistischen Inwertsetzung der Welt allgemein. Ich weiß zwar auch, dass man an einem einzelnen Punkt nicht alle grundsätzlichen Einsprüche der Linken gegen den Kapitalismus bündeln kann. Und doch geht es darum – wenn alle vom Klima reden – überzeugend nachzuweisen, warum man auch und gerade vom Kapitalismus reden muss.

Das verweist zwar schon auf das zweite benannte Problem (eigenständige Kampagne für ein hoch gestecktes Ziel), macht aber die Erreichung des ersten eher schwieriger als einfacher: Ein mobilisierender, breiter gesellschaftlicher Konflikt lässt sich am Antikapitalismus gegenwärtig sicher nicht festmachen. Es wäre also notwendig, die grundsätzliche Rolle der G8 als Vermittlungsinstanz in den inneren Widersprüchen des modernen Kapitalismus auf konkrete, täglich erfahrbare Widersprüche herunterzubrechen. Das ist bisher nicht gelungen und erweist sich als grundsätzlich sehr schwierig. Zwar gibt es objektiv all die Zusammenhänge zwischen drohender Klimakatastrophe und kapitalistischer Naturvernutzung, zwischen globalem Freihandel und entgrenzten ungeschützten Arbeitsmärkten, zwischen Schuldenmanagement und Privatisierung der Sozialsysteme, aber was das mit ihr zu tun hat, kann die ALG-II-Bezieherin in Mecklenburg-Vorpommern deshalb noch nicht unmittelbar erkennen.

Möglicherweise ist dieser Anspruch zu hoch. Vielleicht ist ja schon viel erreicht, wenn es uns gelingt, die meisten derjenigen anzusprechen, die der Meinung sind, dass eine andere Welt nicht nur möglich, sondern auch nötig ist. Das wären sicherlich auch viele Hunderttausende in diesem Land. Dann ginge es um die Praxis der Zusammenarbeit und um vorläufige Visionen dieser anderen, besseren Welt. Letzteres könnte mit den oben angesprochenen globalen sozialen Rechten möglich werden. Sie könnten eine Richtung angeben, in die wir uns alle bewegen wollen, sie könnten für alle Beteiligten etwas Konkretes benennen, ohne dass das notwendig schon aufeinander abgestimmt sein muss, und sie könnten deutlich machen, dass eine gerechte Gesellschaft heute nur noch global gedacht werden kann.

Das aber würde nur dann eine Faszination entwickeln, wenn es tatsächlich von einer gemeinsamen Praxis getragen wäre – wobei auch Such- und Mobilisierungsprozesse Praxis sind. So war es bei der oben erwähnten Veranstaltung, so ist es noch nicht bei der gesamten Mobilisierung. Vor allem gewerkschaftsnahe Kräfte bringen sich bisher zu wenig ein. Ich möchte dies auch als eine Einladung verstanden wissen, das zu ändern.

Werner Rätz ist Vertreter der Informationsstelle Lateinamerika (ila) im Koordinierungskreis von Attac und Mitglied im G8-Koordinierungskreis. Letzte Buchveröffentlichung (gemeinsam mit Dagmar Paternoga und Werner Steinbach): Grundeinkommen: bedingungslos (AttacBasisTexte 17), Hamburg 2005.

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