26. September 2013 Jens Grant: Ein neuer Briefband der Marx-Engels-Gesamtausgabe

»... und theile mir Deine etwaigen Bedenken mit«

Der Briefband III/11 hatte die beginnende Entfremdung der in »Freundschaftspflicht« verbundenen Kontrahenten Karl Marx und Ferdinand Lassalle aufgezeigt. Während seines Besuchs in Berlin (1861) war Marx Lassalles Rechthaberei, seine Zudringlichkeit und Eigenliebe übel aufgestoßen. Band 12[1] setzt die Erzählung des Gesinnungsstreits und einer beklemmenden Hassliebe fort.

Jedoch unter einem weitergreifenden Aspekt. Im Zeitraum der hier erfassten Korrespondenz (1862 bis September 1864) mischen erstmals seit der Revolution von 1848/49 wieder überregionale Arbeiterorganisationen das Tableau der sozialen Kräfte auf.

Den vom liberalen Bürgertum inspirierten Bildungsvereinen haben Marx und Engels kaum Beachtung geschenkt. Anders verhält es sich mit der Gegengründung Ferdinand Lassalles, dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV). Zwar überwiegt anfangs auch eine entschieden skeptische Haltung, aber im Nachhinein, 1868 in einem Brief an den Rechtsanwalt Johann Baptist von Schweitzer, hebt Marx Lassalles »unsterbliches Verdienst« hervor, dass er »nach fünfzehnjährigem Schlummer« die Arbeiterbewegung in Deutschland wiedererweckt habe. Die Editoren, voran einer der intellektuellen Wegbereiter der Marx-Engels-Gesamtausgabe, der im April 2009 verstorbene Historiker Rolf Dlubek, würdigen zurecht den ADAV als »die erste politisch selbständige Arbeiterorganisation in Deutschland nach Ende der Reaktionsperiode«.

Im Sommer des Jahres 1862 jedoch ist Marx zornig auf Lassalle, nicht nur seiner Anbiederei an Bismarck und der Allüren wegen, sich »ganz als künftiger Arbeiterdictator« zu gebärden, wie er ein paar Monate später an Engels schreibt, sondern auch wegen einer Unstimmigkeit über eine Wechselbürgschaft des Leipziger Krösus für den Londoner Emigranten. Aber Marx ist, schweren Herzens und trotz eitler Vorbehalte, bereit einzulenken. »Sollen wir uns deswegen positiv entzweien?«, fragt er im November 1862 Lassalle. »Ich denke das Substantielle unsrer Freundschaft ist stark genug, um auch solchen chock ertragen zu können.«

Der Brief ist in einem auffallend ernsten Ton geschrieben. Nichts von den Injurien, die Marx sich, Lassalle betreffend, gegenüber Engels und anderen Freunden erlaubt. Ihm ist an einer Aussöhnung gelegen. Und Lassalle? Trotz der Misshelligkeiten sendet er alle wichtigen Schriften aus seiner Feder nach London. Hätte er dies getan, wenn er sich der Ablehnung des von ihm geschätzten Autors bewusst gewesen wäre? Lassalle hat sich, auf seine Weise, an Marx orientiert, insbesondere an der »Kritik der Politischen Ökonomie«, die er bewunderte.

Marxens Reserviertheit gegenüber dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein hatte gute Gründe, zum Beispiel hielt Lassalle die Gemeinden des Vereins an, die restriktive preußische Politik zu rechtfertigen, die das russische Militär während des polnischen Aufstandes 1863 unterstützte.
In den folgenden Jahren bildeten sich Marx und Engels ein positiveres Urteil über Lassalles Wirken. Inzwischen hatte Wilhelm Liebknechts Einfluss auf die Berliner Gemeinde des ADAV zugenommen, und es begann sich eine Opposition gegen Lassalle zu formieren. Liebknecht und Julius Vahlteich, zeitweilig Vereinssekretär und Intimus Lassalles in Leipzig, ließen nichts ungeschehen, die Marxschen Schriften und Ideen in den ADAV-Gliederungen zu verbreiten. Die Meinung, dass alles, was an Lassalle faszinierte, von Marx gestohlen oder, wie Marx sagt, »eine schlechte Vulgarisierung des ›Manifests‹« sei, war schwer zu widerlegen.

Dennoch kann Liebknecht dem »Mann auf dem Pulverfass«, als den sich Marx betrachtete, klarmachen: »Übrigens so große Dummheiten ihn (Lassalle) auch seine Eitelkeit begehen läßt, er nützt doch auch, indem er etwas Bewegung in den Sumpf bringt...« Marx rät nun Vahlteich, der für einen offenen Bruch mit Lassalle plädiert, »die Bewegung in dem jetzigen Maße, solange nicht prinzipielle Fehler vorkommen, zu unterstützen«, wie Wilhelm Liebknecht überliefert hat.

Der Briefwechsel legt offen – eine Überraschung des Bandes –, dass Marx in die Profilierung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins involviert war. Muss einem da nicht in den Sinn kommen, wie die SPD in diesem Jahr ihr Gründungsjubiläum gefeiert hat? Ist der Bezug auf die Konstituierung des ADAV am 23. Mai 1863 (und nicht auf die von August Bebel und Wilhelm Liebknecht 1869 gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei) schon fragwürdig, so zeigten die offiziellen Reden und Würdigungen, wes Geistes Kind die heutige Führung der SPD ist; für das Ausblenden historischer Gegebenheiten bezeichnend: Marx und die Opposition gegen Lassalle wurden mit keinem Wort erwähnt.

Am 30. August 1864 stirbt Lassalle an den Folgen eines Duells. Die Bestürzung der Manifest-Autoren ist aufrichtig. »Politisch war er sicher einer der bedeutendsten Kerle in Deutschland«, schreibt Engels, und Marx meint, er sei »immer zu gut« gewesen, »um auf diese Weise unterzugehen«; er verfasst einen einfühlsamen Kondolenzbrief an Sophie von Hatzfeld, die langjährige Gönnerin und Lebensgefährtin Lassalles. Abgesehen von den schwierigen charakterlichen Eigenschaften, die Lassalle und auf andere Weise gewiss auch Marx prägten, scheint die Einschätzung Hermann Onckens den neuralgischen Punkt zu treffen: dass der überaus selbstbewusste Lassalle mit Marx und Engels auf Augenhöhe debattieren wollte und die beiden Theoretiker diesen Eigensinn nicht akzeptieren mochten.
Nach dem Tod von Lassalle ist die Wahl von Karl Marx zum Präsidenten des ADAV im Gespräch. Eine Wahl, die Marx befürwortete, um sie abzulehnen und durch diesen Schachzug als politischer und wissenschaftlicher Ratgeber von außen Einfluss nehmen zu können. Dazu kam es nicht. Lassalle hatte testamentarisch den Schriftsteller und Redakteur Bernhard Becker zu seinem Nachfolger bestimmt, und Marx engagiert sich ab September 1864 für die Internationale Arbeiterassoziation (IAA).


Blick nach Amerika

Neben anderen außenpolitischen Differenzen, etwa über die Hegemoniekämpfe der Großmächte in Oberitalien und den Feldzug Garibaldis oder den polnischen Aufstand, von dem Marx sich eine »era of revolution ... in Europa« erhoffte und der in den Briefen breiten Raum einnimmt, lagen die Ansichten der beiden Streithähne auch über den Ende 1861 ausgebrochenen Amerikanischen Bürgerkrieg weit auseinander. Es ist wohl zutreffend, was Marx nach dem Besuch Lassalles in London im Juli 1862 an Engels berichtet hat, nämlich dass »der größte Gelehrte, tiefste Denker, genialste Forscher«, wie Marx ironisierte, den Sezessionskrieg »ganz uninteressant« fände, weil die Yankees »keine Idee« hätten, allenfalls die Vorstellung einer »individuellen Freiheit«, die der selbsternannte Arbeiterführer als »negative Idee« bezeichnet habe. Mit der ersten Aussage lag Lassalle nicht falsch. Selbst Engels zweifelte lange am Sieg der Unionsstaaten. Warum? »Wo ist im ganzen Norden auch nur ein einziges Symptom, daß es den Leuten ernst ist mit irgend etwas?« Wahrlich ging es Präsident Abraham Lincoln zunächst allein um den Erhalt der territorialen Integrität der USA. Erst mit Lincolns Dekret über die Beseitigung der Sklaverei und zur Übergabe von Land an alle, die es beanspruchen, wendet sich das Blatt.

Marx’ Hauptkritik an der »constitutionellen« Kriegführung des Nordens und sein Einwand, »daß derartige Kriege revolutionär geführt werden müssen«, wird durch den weiteren Verlauf der Kämpfe bestätigt. Interessant, dass hierin die politische Logik des Sozialwissenschaftlers gegenüber den Erwägungen des Militärexperten Engels überlegen ist. Marx charakterisiert den Krieg von Anfang an als einen »Kampf zweier sozialer Systeme, des Systems der Sklaverei und des Systems der freien Arbeit«, dessen Ausgang er optimistisch entgegensieht und dessen beflügelnde Auswirkung auf die Emanzipationsbewegung in Europa er in Rechnung stellt.

In persönlicher Hinsicht aber ist der Amerikanische Bürgerkrieg für Marx ein Desaster. In der »New-York Tribune«, für die er über viele Jahre Leitartikel geschrieben hat, lässt das Interesse an Europa nach. Damit verliert Marx seine Haupteinnahmequelle. Mehrmals verweigert die Redaktion die Honorierung der Korrespondenzen. In den noch in der »Tribune« platzierten Artikeln konzentriert sich Marx auf die Reaktion der britischen Öffentlichkeit auf die Ereignisse in den USA. Den Hauptanteil seiner Berichte über den nordamerikanischen Krieg vertraut er der Wiener »Presse« an. Bezeichnend für die unglaublich gründliche Recherchearbeit, die er zu jedem Artikel betreibt: Er geht in ein amerikanisches Lesecafé und studiert ein halbes Dutzend Regionalzeitungen der Südstaaten. Infolgedessen erkennt er zweifelsfrei im schnellen wirtschaftlichen Wachstum der Nordstaaten die wirkliche Ursache für die Eskalation der Konflikte zwischen Nord- und Südstaaten.

Weitab von trockener Stubengelehrsamkeit suchen Marx und Engels nach Möglichkeiten praktischer Unterstützung. Sie sammeln mit Freunden Geld, damit der frühere Garibaldist Ernst Osswald in die USA gelangen und sich in die US-Army einreihen kann. (Wie sie sich überhaupt über den hohen Anteil emigrierter deutscher Demokraten in den Unionsarmeen freuen; 220.000 sollen es gewesen sein; viele wurden Offiziere, etwa ein Dutzend Generäle.) Die britische Presse nimmt gegen die Nordstaaten Stellung, und nach dem Aufbringen des englischen Postdampfers »Trend« neigt Großbritannien zu einer militärischen Intervention zugunsten der Südstaaten. Es kommt zu Antikriegsmeetings von Arbeitern in zunehmend mehr Städten, worüber Marx intensiv berichtet. Im Grunde verband sich mit diesen Protest- und Solidaritätsbekundungen die landesspezifische politische Wiedergeburt der britischen Arbeiterbewegung. Am bedeutendsten Meeting, vom Londoner Trades Council im März 1863 in St. James’s Hall organisiert, nimmt Marx teil. Begeistert schreibt er an Engels von der »völligen Beseitigung der Bürgerrhetorik, u. ohne ihren (der Arbeiter, J.G.) Gegensatz gegen die Capitalisten ... im geringsten zu verstecken«. Im Vorwort zum ersten Band des »Kapital« geht er auf dieses Meeting ein und vermerkt, der amerikanische Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts habe die Sturmglocke für die europäische Arbeiterklasse geläutet.

Es nimmt nicht wunder, dass sich Marx’ politische und ökonomische Interessen in den folgenden Jahren den USA zuwenden. Ein Kapitel, das in der Marx-Rezeption arg vernachlässigt worden ist. Im Briefband 12 kann man den Beginn dieser Umorientierung verfolgen. Marx erhofft sich positive Impulse sowohl in Verfassungs- als auch in ökonomischen Fragen nun vor allem aus den Staaten. Seine Sympathie für diese Entwicklung gipfelt 1864 in der Glückwunschadresse des Provisorischen Zentralrats der Internationale zur Wiederwahl Abraham Lincolns, die Marx verfasst hat und die auch beantwortet worden ist.


Alp des Schaffens: Mühen um das »Kapital«

Auch für Engels hat der Amerikanische Bürgerkrieg eine persönliche Schattenseite. Es kommt zu einer Baumwollkrise, weil die Flotte der Nordstaaten die Häfen des Südens blockiert. Engels hat Mühe, die Textilfirma Ermen & Engels in Manchester am Markt zu halten. Einerseits steigen die Baumwollpreise, andererseits stockt gerade deswegen der Absatz. »Wir haben keine Aufträge & werden von nächster Woche an bloß halbe Zeit arbeiten lassen«, schreibt er in seiner deutlichen, etwas fahrigen Schrift an Marx. Teilzeitarbeit – keine neue Erfindung. Dem bisher großzügigen Sponsor droht nun selbst die Schuldenhexe.

Dass sich Marx und Engels gründlich mit den Folgen des Krieges für die Weltwirtschaft befassen, versteht sich. Für Marx umso mehr, da er seit August 1861 alles daransetzt, mit dem Manuskript »Zur Kritik der Politischen Ökonomie« voranzukommen. Er arbeite »wie ein Pferd an dem Buch«, schreibt er im Juli 1862. In kaum einer anderen Periode enthalten Marx’ Briefe so umfangreiche und tiefgreifende Aussagen über Probleme seiner ökonomischen Studien. Wer die Quellströme und Wurzeln, denen das spätere Monumentalwerk »Das Kapital« erwuchs, verstehen will, kommt nicht umhin, den Briefband 12 zur Hand zu nehmen.

Ursprünglich nur als Fortsetzung, als zweites Heft zur 1859 erschienenen »Kritik der Politischen Ökonomie« gedacht, weiten sich die Studien zu einer Selbstverständigung über das Gesamtwerk. Zum anderen sammelt Marx konkretes Material, wiederum um sich selbst Klarheit zu verschaffen; er erschließt sich die betriebswirtschaftliche Realität, was ihm mangels Anschauung schwerfalle, gesteht er, aber auch schon, um seine Darstellung in »eine erträgliche populäre Form zu bringen« – darum bemühte er sich sehr wohl, »einige unvermeidliche G – W u. W – G abgerechnet« (an Engels 15. August 1863). Natürlich ist ihm der Geschäftsmann und »Practicus« Engels der beste Ratgeber. Beispielsweise möchte er wissen, wie und in welchem Verhältnis zueinander »alle Sorten Arbeiter (ohne Ausnahme)« – er meint wohl Sparten oder Qualifikationen – in der Ermen/Engelsschen Fabrik aufgeteilt und beschäftigt sind. Er brauche dies als »Illustration«, wie er an anderer Stelle sagt, um die Arbeitsteilung in der mechanischen Produktion im Unterschied zu den Theoremen Adam Smith’ zu beschreiben, der sich auf die Manufaktur bezog. Engels berät ihn über den Verschleiß und die Abschreibung von Maschinen. Und im Juli 1863 schreibt Marx den berühmten Brief, in dem er ausführlich sein Modell des kapitalistischen Reproduktionsprozesses erläutert.

Es wäre vermessen, in einer knappen Reflexion den von Marx beackerten theoretischen Boden kapitalistischer Wirtschaftsweise aufreißen zu wollen. Er analysiert im Zeitraum der Korrespondenz erstmals genauer die Formen, in denen Wert und Mehrwert in der entwickelten kapitalistischen Wirtschaft zutage treten – zentrale Aspekte seiner ökonomischen Theorie, wie die Kommentatoren des Bandes betonen. Hier sei nur kursorisch aufgelistet, was Marx, immer im Disput mit Engels, in den Briefen zur Sprache bringt: Wie sich eine durchschnittliche Profitrate herausbildet; in welcher Beziehung Wert, Mehrwert und Produktionspreis stehen; wie sich industrieller Profit zusammensetzt; schließlich das weite Feld der Renten (womit selbstverständlich nicht Altersrenten gemeint sind, sondern in erster Linie die agrarische Bodenrente oder Pacht und die aus unterschiedlichen Bodenqualitäten und Investitionsniveaus erwachsende Differenzialrente – eine sehr aktuelle Problematik, wenn wir an die spekulativ hochgetriebenen Bodenpreise und die Ruinierung der Bauern in Entwicklungsländern denken).

Dies alles leitet Marx her in Auseinandersetzung mit den Theorien von Adam Smith und David Ricardo. Das Abfassen des »Manuskripts 1861-1863« fällt ihm nicht leicht. Mancher Fluch über das »langweilige« Zeug durchzieht die Briefe, und Jenny Marx klagt, dass »das unselige Buch ... wie ein Alp auf uns Allen« laste. Eine gravierende finanzielle Not, körperliche Leiden, die Sorge um die Ausbildung der Töchter kommen hinzu. Phasen der Begeisterung an dem schwierigen Stoff wechseln mit Frust und Überdruss, wo ihm nichts anderes übrigbleibt, als nach einer ambivalenten, aber in aller Drangsal hilfreichen Devise vorzugehen: Nicht arbeiten, weil du Lust hast, sondern Lust haben, weil du arbeitest. Unter diesen Bedingungen erscheint das beständige Voranschreiten in seiner »Kritik der Politischen Ökonomie« als eine geradezu dämonische Leistung.


Jens Grandt, Berlin, Wissenschaftsjournalist, veröffentlichte u.a.: Ludwig Feuerbach und die Welt des Glaubens, Münster 2006.

[1] Karl Marx/Friedrich Engels, Briefwechsel, Januar 1862 bis September 1864. Bearbeitet von Galina Golovina, Tatjana Gioeva, Rolf Dlubek unter Mitarbeit von Hanno Strauß, Akademie Verlag Berlin 2013, zwei Bände, 1529 Seiten, 198 Euro.

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