27. November 2015 Julian Bank: Zu Anthony Atkinsons neuem Ungleichheitsbuch
Ungleichheit kann reduziert werden
Anthony Atkinson ist einer der wichtigsten Ungleichheitsforscher. Vor einem halben Jahr erschien sein Buch »Inequality: what can be done?«. Jetzt ist eine Kurzfassung als Working Paper des International Inequalities Institute (III) an der London School of Economics and Political Science (LSE) erschienen. Sie basiert auf dem Vortrag, mit dem Atkinson sein Buch Ende April in der LSE präsentiert hat.
Julian Bank stellt in seinem Beitrag Atkinsons zentrale Thesen vor, der zuerst auf dem von ihm herausgegebenen Blog Verteilungsfrage.org erschien.
Atkinson – Doyen der Ungleichheitsforschung
Das britische Magazin Economist nennt ihn »The godfather of inequality research«. Ein eigener Ungleichheitsindex wurde nach ihm benannt. Einer seiner Schüler ist der so titulierte »Rockstar-Ökonom« Thomas Piketty. Der 71-jährige Ökonom Anthony Atkinson aus Oxford ist tatsächlich eine Koryphäe unter Ungleichheitsforschern. Ein Jahr nach Pikettys »Kapital im 21. Jahrhundert« hat Atkinson ein eigenes Ungleichheitsbuch vorgelegt.
Atkinsons Buch ist dabei jedoch ganz anders geraten als das von Piketty. Es ist kürzer und zieht seine Eleganz nicht aus dem Versuch einer großen, allgemeinen Analyse und historischen Erzählung, sondern aus seinem typisch britischen Pragmatismus. Es legt einen starken Fokus auf Großbritannien, birgt dennoch viele verallgemeinerbare Punkte. Vor allem diskutiert es hauptsächlich sehr konkrete Vorschläge, wie Ungleichheit reduziert werden kann – und es erweitert den Fokus von der Konzentration an der Spitze auf diejenigen, die am anderen Ende der Verteilung abgehängt werden.
Piketty schreibt in einer lesenswerten Rezension des Buchs im New York Review of Books vom 25.6.2915: »In Atkinsons Reformismus klingt etwas von dem fortschrittlichen Sozialreformer William Beveridge an, und diese Art, Ideen zu präsentieren, sollten Leser genießen. Der sonst legendär vorsichtige englische Gelehrte offenbart hier eine menschlichere Seite, er stürzt sich in die Kontroverse und präsentiert eine Liste konkreter, innovativer und überzeugender Vorschläge, die aufzeigen sollen, dass es weiterhin Alternativen gibt, dass das Streiten für sozialen Fortschritt und Gleichheit im Hier und Jetzt eine Berechtigung hat.«
Heute ist ein kurzes Working Paper von Atkinson erschienen, in dem er zentrale Punkte seines Buchs zusammenfasst. Der Fokus liegt auf Großbritannien. Er bezieht sich auf die dortige massive Zunahme der Ungleichheit seit den 1980er Jahren: Der Anteil der Spitzeneinkommen an den gesamten Einkommen habe sich mehr als verdoppelt. Gemessen am Gini-Koeffizienten habe sich Großbritannien im internationalen Vergleich zu den Spitzenplätzen in der Rangliste der ungleichsten Länder vorgearbeitet.
Zugleich habe sich zwar die Armutsquote seit ihrem Höhepunkt 1990 von 22% auf 15% erholt. Allerdings habe sie sich zuletzt im Zuge der jüngsten Sparpolitik der konservativen Regierung wieder erhöht. Außerdem liege sie weiterhin auf einem sehr hohen Niveau – eines, das zumindest in den 1960er und 70er Jahren noch als schockierend empfunden worden wäre.
Entsprechend sind auch Atkinsons sehr konkrete politische Vorschläge auf Großbritannien geeicht – ein Aspekt, der ihm bei Piketty Kritik einbringt. Allerdings lassen sich eine Reihe von Punkten verallgemeinern – und sie gewinnen angesichts ihrer konkreten Anwendbarkeit in Großbritannien gleichzeitig an Überzeugungskraft.
Atkinson ist wichtig aufzuzeigen, dass es – technisch gesehen – keine Schwierigkeit ist, Ungleichheit zu reduzieren. Entscheidend sei vielmehr der dafür nötige politische Wille. Zugleich macht er deutlich, dass es ihm nicht um Gleichheit gehe, sondern darum, das heutige Maß an Ungleichheit zu reduzieren.
Das ist weniger ein prinzipieller, denn ein strategischer Punkt: Aus seiner Sicht gingen die Meinungen recht weit auseinander, wie viel Gleichheit in der Gesellschaft gewünscht wäre; es herrsche aber eine breite Übereinstimmung in der Frage, dass die Ungleichheit derzeit zu groß sei und relevant reduziert werden solle.
Sozialromantiker oder pragmatischer Sozialreformer?
Auch an einem weiteren Punkt kommt Atkinsons Pragmatismus zum Tragen: Er nennt für seine Vorschläge eine Größenordnung der Ungleichheitsreduzierung, die die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen bringen sollten: »Um dahin zu kommen, wo wir standen, als die Beatles spielten, müssen wir den Gini-Koeffizienten um etwa 10 Prozentpunkte reduzieren. Das ist eine große Herausforderung.«
Der Verweis auf die Zeit der Beatles bringt Atkinson natürlich Kritik ein: Er trauere einer romantischen Vorstellung der guten alten Zeit nach – ohne die neuen Realitäten einer globalisierten Informationsökonomie zu berücksichtigen.
Dies weist Atkinson mit Recht zurück. Denn er geht an vielen Stellen genau auf diese Fragen ein:
- die – gemessen an früheren Arbeitslosenquoten – kaum erfolgreiche angebotsorientierte Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahrzehnte,
- die Realität von Armut trotz Arbeit – der »Working Poor«,
- den nicht nur, aber auch technologisch bedingten Wandel im Verhältnis zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen.
Zudem berücksichtigt Atkinson aktuelle Debatten in der Wirtschaftswissenschaft, um deutlich zu machen, dass vielmehr eines der zentralen »Argumente« der Ungleichheitsapologetiker veraltet sei: die Behauptung, eine Reduktion von Ungleichheit gehe zwangsläufig auf Kosten des Wachstums.
Atkinson hält dagegen: »Darauf antworte ich, dass dies zentral davon abhängt, wie man die Funktionsweise einer modernen Ökonomie versteht. Das Standard-Lehrbuchmodell ist aus meiner Sicht ein irreführender Ausgangspunkt, denn aufgrund seiner Konstruktion schließt es die Möglichkeiten aus, wie Gleichheit und Effizienz miteinander in Einklang gebracht werden können, und es ignoriert die entsprechenden Schutzmechanismen, die im institutionellen Design von umverteilender Politik eingebaut werden können.«
Es liegt in unseren Händen
Vor allem weist Atkinson die Behauptung zurück, Kräfte der Globalisierung und des technologischen Wandels seien unverrückbare Realitäten, denen sich Sozialpolitik unterzuordnen habe. Im Gegenteil: Globalisierung lasse sich natürlich politisch gestalten, und auch technologischer Wandel – in seinen Grundlagen maßgeblich staatlich finanziert – könne konstruktiv gestaltet und mit einer weniger ungleichen Gesellschaft in Einklang gebracht werden.
Atkinson macht drei Bereiche aus, in denen eine Reihe von Maßnahmen zum Abbau von Ungleichheit anzusiedeln sei:
- Steuer- und Sozialpolitik
- Arbeitsmarktpolitik
- Neuordnung der Kontrolle über Kapital
Progressivere Steuer und Sozialpolitik
Etwa die Hälfte der angestrebten Ungleichheitssenkung um 10 Gini-Punkte könne durch seine Vorschläge für eine progressivere Steuer- und Sozialpolitik erreicht werden. Im Zentrum steht dabei eine stärker progressive Einkommensbesteuerung, mit einem Spitzensteuersatz von etwa 65% und einer verbreiteten Bemessungsgrundlage; sowie mit einer Entlastung niedriger Einkommen.
Außerdem sollten Erbschaften als Teil einer Empfänger-bezogenen Bemessung auf den gesamten Lebensverlauf besteuert werden: Jeder darf leistungslos in welcher Art auch immer beschenkt werden, aber je höher die geschenkte oder ererbte Summe im Lebensverlauf ausfällt, desto stärker wird sie besteuert.
Bei den Sozialausgaben liegt sein Fokus auf der Förderung von Familien – angesichts der besonders ausgeprägten Kinderarmut in Großbritannien wenig verwunderlich. Atkinson schlägt deutlich höheres Kindergeld vor, das dann jedoch mit unter die progressive Einkommensteuer fallen soll: Somit würden einkommensstarke Haushalte deutlich weniger Kindergeld erhalten als einkommensschwache.
Ferner befürwortet Atkinson für Großbritannien ein Grundeinkommen als eine mögliche Option. Dies solle jedoch nicht an Staatsbürgerschaft sondern an »gesellschaftliche Beteiligung« gekoppelt werden. Kriterien dafür sollten nicht nur Erwerbsarbeit, sondern auch Pflege und andere unbezahlte Arbeit sein. Bezogen auf die globale Dimension der Ungleichheit fordert er eine Anhebung der Entwicklungshilfe auf 1% des Bruttonationaleinkommens ein im Vergleich zu derzeit angestrebten 0,7%.
Arbeitsmarktpolitik
Atkinson betont jedoch, dass Ungleichheit nicht nur über direkte staatliche Umverteilung reduziert werden solle, sondern auch durch eine Neuordnung des Arbeitsmarktes und der Kontrolle von Kapital. Er ist dabei der Ansicht, dass die angebotsorientierte Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahrzehnte wenig erfolgreich war und schlägt unter anderem folgende Maßnahmen vor:
- Er schließt sich seinem Oxforder Kollegen Simon Wren-Lewis an, dass die Geldpolitik neben der Preisstabilität auch ein hohes Beschäftigungsniveau zum Ziel haben solle.
- Auch solle der Staat eine Beschäftigungsgarantie umsetzen, nach der jedem Menschen, der Arbeit suche, vom Staat eine Beschäftigung zum Mindestlohn garantiert werde: »After all, if banks are too important to fail, so too are our citizens.«
- Arbeit allein sei jedoch offensichtlich nicht ausreichend, um ein würdiges Auskommen zu sichern. Daher müsse flankierend für ausreichend hohe Mindestlöhne gesorgt werden.
- Technologischer Wandel solle explizit von der Politik mit gestaltet werden, mit einem Fokus auf Innovationen, die mit Beschäftigung und der »menschlichen Dimension von Dienstleistungen« vereinbar seien.
Mit letzterem Punkt möchte sich Atkinson keineswegs der Realität verweigern. Im Gegenteil: Mit seiner Feststellung, dass der Staat bereits jetzt maßgeblich die Grundlagenforschung für technologischen Wandel finanziere, weist er auf eine Tatsache hin, die von den Apologeten einer angeblich unvermeidbaren Ungleichheit durch Technologie und Globalisierung gerne übersehen wird.
Neuordnung der Kontrolle über Kapital
Entsprechend solle der Staat jedoch auch seine Vermögenspositionen im Blick behalten. Atkinson betont – ähnlich wie Piketty – dass in der Debatte um Staatsfinanzen immer nur die Seite der Schulden gesehen werde, nicht jedoch die staatlichen Vermögen. Das sei wie das Lamento einer Privatperson über die hohen Schulden durch den Hauskauf, bei dem der Eigentumstitel über das Haus unterschlagen werde.
Atkinson fordert, dass der Staat seine Vermögensposition verbessern solle und sich – entsprechend seiner Beteiligung an den technologischen Grundlagen der Kapitalakkumulation – auch mehr Kontrolle über dieses Kapital aneignen solle: »Hier geht es nicht um Verstaatlichung, sondern um die Übernahme gesellschaftlich dienlichen Eigentums, mit dem mittelfristigen Ziel, dass der Staat von dem makroökonomisch bedingten Anstieg der Gewinnquote profitiert. In den Worten von Laura Tyson in einer kürzlich geführten Debatte über technologischen Wandel: die Auswirkungen der Robotisierung hängen elementar davon ab, wem die Roboter gehören. Wenn der Staat – der immerhin einen Großteil dieser Entwicklung finanziert hat – einen relevanten Teil der Gewinne erhält, dann sind die Verteilungswirkungen dieser Entwicklung entsprechend anders.«
Und er hat weitere Vorschläge, u.a.:
- die Wiedereinführung von Index-gebundenen Anleihen für Kleinsparer, die mindestens die reale Wachstumsrate (»g in excess of inflation«), sicherstellten
- außerdem bringt Atkinson einen bei sogenannten Linkslibertaristen beliebten Vorschlag einer einmaligen Vermögensausstattung jedes Bürgers mit dem Erreichen der Volljährigkeit
- eine Stärkung von Gewerkschaften, mit der das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit wieder in ein besseres Gleichgewicht gebracht werden kann – was einen zentraler Beitrag zur Ungleichheitsbekämpfung darstellen dürfte, wie zuletzt auch der IWF in einer Studie aufgezeigt hat
Bei alledem scheint Atkinson an keinem einzelnen seiner Vorschläge zu hängen: Vielmehr geht es ihm darum, aufzuzeigen, dass es viele komplementäre Wege gibt, Ungleichheit auch unter heutigen technologischen und politischen Bedingungen zu reduzieren. Maßgeblich sei, zu entscheiden, ob eine solche Politik erwünscht sei, und dann endlich die Illusion beiseite zu legen, dass dies ohnehin nicht zu erreichen sei. Atkinson erinnert daran, dass wir heute global betrachtet reicher seien denn je – es komme vor allem darauf an, diesen Reichtum an Ressourcen besser aufzuteilen.
Julian Bank ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialökonomie der Universität Duisburg-Essen. Originaltitel der Beitrags; Anthony Atkinson: Inequality – what can be done? Auf seinem Blog informiert der Autor regelmässig zu Themen der Ungleichheitsforschung, ebenso wie auf Twitter.