1. Juli 2005 Heinz Lambarth

Unruhe(n) am Kap der Guten Hoffnung

Vor einem Jahr feierte Südafrika zehn Jahre Demokratie. Etwas mehr als ein Jahr liegen die Wahlen zurück, bei denen der ANC (African National Congress) einen überwältigenden Sieg feiern konnte. Und im kommenden Jahr geht das neoliberale Growth, Employment and Redistribution Programme (GEAR) in sein zehntes Jahr – aber zu feiern gibt es dieses Mal nichts, wie Heinz Lambarth im Folgenden bilanziert.

Präsident Thabo Mbeki – Souverän über ca. 45 Millionen Südafrikaner – ist sichtlich genervt. "Wir müssen diesem Treiben Einhalt gebieten, öffentlich wegen der mangelnden Erfüllung von Versprechen zu demonstrieren. Das hat die Jugend während des Kampfes gegen die Apartheid gemacht."

Gut gesagt, aber schwer zu bewerkstelligen. Kaum ein Jahr nach den Wahlen im April 2004, bei denen der ANC (African National Congress) fast 70% der Stimmen gewann, und unmittelbar vor den anstehenden Kommunalwahlen ist die Regierungspartei in ziemlichen – und unerwarteten – Schwierigkeiten. Insbesondere in KwaZulu-Natal, im Western Cape, im Eastern Cape und im Free State finden seit März fast täglich Protestmärsche mit Barrikaden und brennenden Autoreifen, Steinwürfen durch Protestierer und Gummigeschossen von Seiten der Polizei statt. Das Reservoir an Geduld im Warten auf eine Besserung der Lebensumstände der mehr als 20 Millionen absolut Armen (21,8 Millionen Südafrikaner leben von weniger als zwei US-Dollar am Tag, das entspricht 15 südafrikanischen Rand) scheint endgültig aufgebraucht. Die wiederholten Wahlversprechen werden mehr und mehr gewaltsam eingefordert. Die Zeiten der "guten Hoffnung" sind offenbar unwiderruflich vorbei.

Und dabei hat die selbstverständlich "unabhängige" Zentralbank wirklich einen – im bornierten neoliberalen Verständnis – guten Job gemacht. Das Wirtschaftswachstum erreichte 2004 knapp 4% und die Inflationsrate liegt seit mehr als einem Jahr im Zielkorridor von 3 bis 6%, zudem ist das Budgetdefizit gegenwärtig weit geringer als die angezielten 3% – derzeit rund 1%. Mehr noch, der südafrikanische Rand hat seit 2001 bis Ende 2004 um über 100% gegen den US-Dollar aufgewertet. Aber genau das ist eines der gravierendsten Probleme.

Die Aufwertung des Rand hat der Zentralbank zwar einen beträchtlichen Spielraum für Senkungen des Leitzinses eröffnet, die finanzpolitischen Möglichkeiten wurden allerdings nur sehr zögerlich (und unzureichend) genutzt – der Leitzins (Interbankrate) wurde zwischen Januar 2004 und März 2005 um 650 Basispunkte von 13,5% auf 7% gesenkt (die Prime Rate steht derzeit bei 11%), liegt damit aber immer noch weit über den Zentralbankzinssätzen im Euro-Raum und in den USA. Dies hat zur Folge, dass der Rand noch immer ein bevorzugtes Spekulationsobjekt für international mobiles "hot money" ist, wodurch die unzureichenden Leitzinssenkungen nicht zu einer gesamtwirtschaftlich dringend wünschenswerten Abwertung des Rand führen konnten. Volkswirtschaftlich vorteilhaft wäre ein Wechselkurs des Rand zwischen 1:9 und 1:10 zum US-Dollar. Dies wird von COSATU (Congress of South African Trade Unions – der mitgliederstärkste und einflussreichste Gewerkschaftsbund Südafrikas) bereits seit längerem gefordert. Auf einem Gipfeltreffen der Dreierallianz, bestehend aus dem ANC, der Kommunistischen Partei (SACP) und COSATU, das Ende April stattfand, wurde vom ANC erstmals eingeräumt, dass der Wechselkurs zum US-Dollar "wettbewerbsfähig" sein müsse. Seitdem ist der Kurs auf ca. 6,7 Rand zu einem US-Dollar gefallen.

Der überbewertete Rand und die Zinssenkungen hatten zwar einen bemerkenswerten Boom im Konsum zur Folge (getragen vor allem durch jene, die über ein entsprechendes Einkommen verfügen und für die die Zinsbelastungen durch Kredite für Haus und Auto deutlich sanken). Diese Nachfragewirkungen richten sich aber nur zum kleineren Teil auf das Angebot einheimischer Unternehmen. In einem erheblichen Maße wurde der Konsum durch Importe von hochwertigen Konsumgütern (Autos und Unterhaltungselektronik) befriedigt. Infolgedessen und dadurch, dass auch Unternehmen verstärkt Investitionsgüter importierten, geriet die Handelsbilanz 2004 deutlich ins Defizit (ca. 12,5 Mrd. Rand). Die davon ausgehenden Wechselkurswirkungen in Richtung auf eine Abwertung des Rand wurden jedoch durch die oben beschriebenen Konsequenzen der Zentralbankpolitik überkompensiert. Und so schlugen die Wechselkurseffekte insbesondere auf den Exportsektor durch. Während die Exporte aus dem Bergwerkssektor stagnierten und dort die Beschäftigung nur geringfügig zurückging (allerdings wurden in den zurückliegenden zehn Jahren 350.000 der einst über 500.000 Arbeitsplätze im Bergbau vernichtet), wurde vor allem die Leichtindustrie getroffen. Hier brachen die Exporte 2004 deutlich ein. Über 40% der noch vor einem Jahr im Export aktiven Fertigwarenproduzenten haben inzwischen das Auslandsgeschäft komplett eingestellt, weitere 28% beklagen dramatische Umsatzrückgänge. Folglich wurden in den zurückliegenden zwei Jahren beispielsweise allein in der Textil- und Bekleidungsindustrie 30.000 Arbeitsplätze abgebaut und weitere 5.000 gelten als extrem gefährdet. Insgesamt hat der Rückgang der Exporte und die verschärfte Importkonkurrenz im ersten Halbjahr 2005 zum Verlust von weiteren 20.000 Arbeitsplätzen geführt, was COSATU dazu veranlasst hat, für den 27. Juni einen Generalstreik gegen "das Blutbad auf dem Arbeitsmarkt" auszurufen. Die Arbeitslosigkeit ging 2004 von 28,4% (nach der erweiterten Definition 42%) nur marginal auf 26,2 bzw. 41% zurück; sie bleibt damit das gravierendste soziale Problem Südafrikas – insbesondere auch deshalb, weil die Jugendarbeitslosigkeit extreme Ausmaße angenommen hat. Über 50% der bis 25-jährigen sind arbeitslos; pro Jahr treten rund 700.000 junge Menschen in den Arbeitsmarkt ein, finden aber nur 200.000 neue Stellen vor.

Dem Mangel an formeller Arbeit entspricht ein gewaltiges Ausmaß an Schein- und Unterbeschäftigung bzw. eine schier unglaubliche Vielfalt von Formen der "Überlebensproduktion" (zu denen allerdings auch ein breites Spektrum krimineller Aktivitäten gehört) – der informelle Sektor. Präsident Mbeki hat kürzlich in einer Rede vor dem Black Management Forum dieses Nebeneinander zweier völlig verschiedener Ökonomien in einem Land als ein "Haus" bezeichnet, zwischen "dessen zwei Etagen es keine Treppen gibt". Dieser verfestigte wirtschaftlich-soziale Dualismus findet eine seiner charakteristischsten Ausdrucksformen in der gewaltigen und sogar noch weiter wachsenden Einkommenskluft (der Gini-Koeffizient für Südafrika liegt bei 0,66, während der für Brasilien zur Zeit mit 0,61 angegeben wird – Null würde absolute Gleichverteilung bedeuten, während Eins maximale Ungleichverteilung hieße), die sich zudem nicht nur nach formeller und informeller Wirtschaft, sondern auch nach ethnischer Zugehörigkeit definiert. Einer Studie von Servaas van der Berg und Stan du Plessis (Universität Stellenbosch) zufolge stellt sich die Einkommensungleichheit zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen wie folgt dar:

Dem Weltentwicklungsbericht 2005 der Weltbank zufolge lag das jährliche Durchschnitts-Pro-Kopf-Einkommen in Südafrika 2003 in absoluten Größen bei 2.700 US-Dollar (ca. 19.000 Rand) bzw. bei 10.270 US-Dollar (ca. 72.000 Rand, kaufkraftbezogen).

Angesichts dessen, dass die ethnische Gruppe der Schwarzen den weitaus größten Teil der Bevölkerung ausmacht (ca. 80%) und zudem über mehr als ein Jahrhundert in jeder Hinsicht ökonomisch-sozial benachteiligt war, kann es kaum verwundern, dass die Einkommenspolarisierung hier ihr Extrem erreicht. Allerdings hat sie sich gerade in den Jahren nach 1994 – und mit atemberaubender Geschwindigkeit – deutlich verschärft. Der oben genannten Studie von van der Berg/Plessis zufolge haben die oberen 10% der Einkommensbezieher unter den schwarzen Haushalten im Jahr 2000 über 50% des Einkommens dieser Gruppe auf sich vereinigen können, während die unteren 10% weniger als 1% erhielten. Dies ist zum einen der besonderen Dynamik des Arbeitsmarktes geschuldet. Während der formelle Sektor verhältnismäßig schrumpft, steigen die Löhne für die formell Beschäftigten an. Dadurch profitieren vor allem jene Schwarzen überdurchschnittlich, die über eine gute Qualifikation und eine Arbeitsstelle im formellen Bereich verfügen. Zugleich bleiben andere Haushalte immer weiter zurück. Zum anderen wird die Einkommensungleichheit unter den Schwarzen durch die spezifische Form des "Elite-Empowerment" ("Black Economic Enrichment"), die das von der Regierung initiierte Programm des "Black Economic Empowerment" (BEE) angenommen hat, noch entschieden verstärkt. Rund 70% aller BEE-Deals werden von einer elitären Gruppe von sechs BEE-Unternehmen abgewickelt, deren (schwarze) Galionsfiguren – Cyril Ramaphosa, Saki Macozoma, Tokyo Sexwale, Penuell Maduna, Popo Molefe u.a. – in kürzester Zeit zu Vermögensmilliardären aufgestiegen sind.

Auch deshalb wächst auch unter den Mitgliedern der regierenden Allianz die Kritik am BEE-Konzept. Allerdings bezieht der ANC zu dieser Kritik eine äußerst ambivalente (abwartende und abwiegelnde) Position – kein Wunder, jedes dritte ANC-Zentralkomiteemitglied hat inzwischen eigene unternehmerische Interessen. Das jüngste Beispiel dafür liefert der Verkauf von weiteren 15% der Telkom-Aktien an ein BEE-Konsortium (Genesis Telecom Consortium), dem auch der Chef des Präsidialamts, Smuts Ngonyama, angehört, der gegen öffentliche Kritik (vor allem von COSATU und SACP) zu Protokoll gab, dass er nicht gegen das Apartheidregime gekämpft habe, um am Ende arm zu bleiben. Das erscheint als beredter Ausdruck jener Geisteshaltung, die inzwischen im ANC offenbar die Oberhand gewonnen hat.

In die allgemeine Wahrnehmung, dass sich die ANC-Elite zunehmend von programmatischen sozialpolitischen Zielen verabschiedet – offizielles ANC-Programm ist noch immer die Freiheits-Charta aus dem Jahre 1955 –, passen paradoxerweise auch das "Wahl"-Budget 2004 und der Haushalt 2005, die nicht nur einen (vorläufigen) Stopp weiterer Privatisierungen von Staatsbetrieben, sondern auch eine bemerkenswerte Erhöhung der Sozialausgaben vorsehen. Diese Erhöhung erklärt sich allerdings teilweise auch aus dem Inflationsausgleich bei Sozialleistungen (so wurde die Sozialrente im März 2005 auf 780 Rand angehoben), aber auch aus einem, zum Teil unerwarteten Zuwachs an Anspruchsberechtigten; also aus der Verpflichtung des Staates zur Auszahlung verfassungsmäßig zugesicherter Leistungen. Infolge von Aufklärungskampagnen vor allem im ländlichen Raum hat sich die Zahl der Altersrentenbezieher wie auch der Bezieher von Kinder- und Waisengeld sowie der Bezieher von Invalidenrenten drastisch erhöht; zum Teil mehr als verdoppelt.

Das ist sicherlich Ausdruck begrüßenswerter Verbesserungen in der öffentlichen Verwaltung, erregt aber zugleich den offiziellen Verdacht wachsenden "Sozialmissbrauchs" – eine große Zahl von Haushalten bezieht demzufolge unberechtigt Altersrenten (geschätzt werden ca. 11.000 Fälle), Ärzte sollen korrumpiert worden sein, um Invalidenrenten zu bescheinigen (ca. 37.000), eigene Kinder würden als Waisenkinder adoptiert (mehr als 1.000) etc. Selbst wenn sich dieser Generalverdacht der staatlichen Institutionen zum Teil bewahrheiten sollte, bleibt doch zu konstatieren, dass die Rechtslage in wachsendem Maße Anspruchsberechtigte und folglich berechtigte Antragssteller hervorbringen wird, die das Sozialbudget kommender Jahre zunehmend beanspruchen werden.

Dies ist nicht zuletzt der HIV/AIDS-Problematik geschuldet. Nach jahrelanger Ignoranz sieht sich die Regierung unter dem Druck der Realitäten nunmehr zum Handeln veranlasst. Statistisch ist inzwischen unabweisbar klargestellt, dass die Infektionsraten – 15,2% im Durchschnitt der sexuell aktiven Bevölkerung und geschätzte (alarmierende) über 28% bei der entsprechenden schwarzen Bevölkerungsgruppe – langfristig gravierende Auswirkungen haben werden. Insbesondere wird die Zahl der AIDS-Waisen dramatisch steigen; immer mehr Sozialrentenbezieher werden für den Unterhalt von Kindern aufkommen müssen, deren Eltern infolge der HIV-Infektion verstorben sind. Das belastet nicht nur unmittelbar (in Form von – berechtigten – Waisenrenten), sondern auch mittelbar die Staatsausgaben. Ein Indikator dafür ist zum Beispiel die inzwischen rege Debatte darüber, ob HIV-positiven jungen Erwachsenen überhaupt noch Stipendien oder andere Fördermaßnahmen zuteil werden sollten. Der Umstand, dass vor allem die Sterberate von Erwachsenen im Alter von etwa dreißig Jahren (vor allem bei Frauen) inzwischen einen historischen Höchststand erreicht hat (allein 2003 stieg die Sterberate bei Frauen im Alter von 25 bis 34 um 18%), verweist darauf, dass in den kommenden Jahren die Kluft zwischen der Zahl produktiv Tätiger und jenen, die Sozialleistungen beziehen, enorm wachsen wird.

Dagegen hat die Dreierallianz offenbar zur Zeit keinerlei realitätsnahes Konzept. Dies ist umso bedenklicher, als sich auch auf anderen Gebieten die Probleme zuspitzen. Im zurückliegenden Jahr hat dabei insbesondere die Landfrage deutlich an Brisanz gewonnen. Hier wurden zehn Jahre nach Beginn der demokratischen Transition erst 4% der Rückforderungen von Land reguliert, wobei ein Spezifikum in Südafrika darin besteht, dass ein erheblicher Teil der Landforderungen auf Siedlungsland entfällt, die landwirtschaftliche Nutzung wird nur relativ selten beabsichtigt. Aber auch die wiederholt im ANC-Wahlprogramm versprochene Umverteilung von Land zu Gunsten der schwarzen Bevölkerungsmehrheit hat bisher nur höchst bescheidene Resultate gezeitigt. Nur 3% des Landes befinden sich heute im Eigentum der schwarzen Bevölkerung. Sollte der Landumverteilungsprozess in diesem Tempo fortschreiten, ist das Ziel, bis 2014 30% umzuverteilen, schiere Illusion. Um aber am bisher praktizierten Prinzip "willing seller, willing buyer" festhalten zu können und trotzdem die Planziele zu erreichen, müsste der dafür verfügbare Etat verzehnfacht werden. Würde diese Summe nicht aufgebracht, blieben zur Erreichung des Ziels nur drastischere Maßnahmen – insbesondere auch Enteignungen. Das Problem ist allgemein bekannt und wird sogar vom ANC inzwischen akzeptiert, eine Lösung ist indes nicht in Sicht – der ANC setzt offensichtlich auf ein Wunder.

Aber auch in anderen Bereichen wird immer klarer, dass die Verhältnisse ohne eine Vervielfachung der Budgetzuweisungen für die entsprechenden Ressorts nicht auf dem Status quo gehalten, geschweige denn gebessert werden können. Besonders prekär ist die Lage im Gesundheitswesen und im Bereich der Volksbildung. In beiden Sektoren werden die Anforderungen nicht zuletzt durch das Bevölkerungswachstum diktiert – 50% der Bevölkerung sind heute jünger als 25 Jahre, viele leben in extrem armen Familien.

Während die private Gesundheitsversorgung höchsten internationalen Standards genügt, ist das öffentliche Gesundheitswesen infolge von Unterbudgetierung inzwischen bis auf die Grundfesten ruiniert, und dies, obwohl paradoxerweise viele Nachbarländer froh wären, wenn sie selbst diese niedrigen Standards erreichen könnten. Zu konstanten Preisen wurden im südafrikanischen Gesundheitswesen im Jahr 2003 4,8% weniger investiert als 1996, obgleich die Bevölkerung seitdem um mindestens 10 Millionen gewachsen ist.

Das Bildungswesen kämpft nicht nur mit unzureichender staatlicher Finanzierung, sondern auch mit der Armut vieler Familien, insbesondere solcher, in denen die Großeltern ihre Enkel versorgen müssen, weil die Eltern entweder das Weite gesucht haben oder infolge einer HIV-Infektion verstorben sind. Schulgeld, Schuluniformen und Schultransport sind die wichtigsten Kostenfaktoren, die für Kinder aus armen Familien eine angemessene Schulbildung verhindern. Zudem wurden – vermutlich politisch motiviert, um dadurch den Anteil derer, die das Abitur (Matric – einziger anerkannter Schulabschluss in der RSA) bestehen, zu erhöhen – die Matric-Anforderungen offensichtlich abgesenkt. Das hat zwar den Anteil der erfolgreichen Matriculanten (Abiturientinn/en) auf 73% (2003) und 71% (2004) gesteigert, aber auch das Niveau gesenkt. So bestehen weniger als 10% das Mathematik-Matric im Higher Grade und in Naturwissenschaften weniger als 20%. Die Universitäten beklagen, dass 60% der Studenten den Anforderungen in Mathematik und in Naturwissenschaften nicht gerecht werden.

Aus dem Gesamtbild eines chronisch unterfinanzierten Sozialsektors wird die besondere Brisanz der wachsenden Forderungen nach einer Vervielfachung des Budgets für die Landreform deutlich. Würde dieser Etat entsprechend erhöht, könnten auch die Forderungen anderer Ressorts nur schwerlich abgewiesen werden. Insgesamt, wenn zusätzlich zum Sozialbereich noch die bedenkliche Unterfinanzierung bei Erhaltung und Rehabilitierung der Infrastruktur in Rechnung gestellt wird, sieht sich die südafrikanische Regierung offenbar mit einer Zeitbombe konfrontiert, deren Uhr schon soweit abgelaufen scheint, dass eine Explosion nur noch schwerlich verhindert werden kann.

In besonderer Weise von der Bevölkerungsentwicklung betroffen und damit investitionsaufwendig ist zudem die Versorgung mit öffentlichen Gütern. Hier setzt der ANC seit Jahren auf Kommerzialisierung und Privatisierung. Allerdings bedeutet die Monetarisierung des Zugangs zu öffentlichen Gütern über eine Strategie des "Cost Recovery", dass Menschen, die über kein regelmäßiges Geldeinkommen verfügen (und das sind in manchen Siedlungen bis zu 70% der Haushalte), faktisch vom Zugang zu öffentlichen Gütern und Dienstleistungen abgeschnitten werden. Und so verwundert es kaum, dass der Protest der Betroffenen anhält. Gleichzeitig scheint aber auch das Privatisierungspotenzial erschöpft. Es wird immer deutlicher, dass der Privatsektor inzwischen kaum noch Interesse an einem Engagement im Bereich der Strom- und Wasserversorgung hat, weil sich dort selbst mittelfristig kaum Profitaussichten abzeichnen. Ähnliches gilt auch für Auslandsinvestitionen – der große Hoffnungsträger der neoliberalen Wirtschaftsstrategie. Die Fixierung auf die Inflationsrate, die zu einer Art Hochzinspolitik geführt hat und dadurch die wirtschaftliche Entwicklung nahezu strangulierte, hat sich nicht ausgezahlt. Solange ca. 50% der Bevölkerung von der bunten Welt des Warenkonsums faktisch ausgeschlossen sind, muss der Binnenmarkt infolge des Nachfragemangels (trotz des momentanen Konsumbooms) als weitgehend gesättigt angesehen werden, wodurch der wichtigste Investitionsanreiz – wachsender Profit – faktisch sistiert ist; da kann die Regierung noch so viele neoliberal inspirierte Programme zum Anlocken von Auslandsinvestitionen ins Werk setzen – wie zum Beispiel den Versuch, ein entrechtetes Billiglohnsegment im Arbeitsmarkt zu schaffen, der in einem neuerlichen "Diskussionspapier" aus dem Finanzministerium vorgeschlagen wird.

Geändert werden könnte die Situation, wenigstens graduell, durch die Einführung von BIG – Basis Income Grant (allgemeines Grundeinkommen). Obwohl führende Wirtschaftswissenschaftler die praktische Machbarkeit bestätigt haben (so könnten zum Beispiel pro Kopf 100 Rand monatlich ausgezahlt werden, die von den formell Beschäftigten über die Einkommenssteuer wieder in die Staatskasse zurückfließen würden), weigert sich das Finanzministerium hartnäckig, BIG überhaupt zu erwägen. Damit würde nur der Hang zu Faulheit und Mitnahmementalität begünstigt, ließ der Finanzminister, Trevor Manuel, die Öffentlichkeit wissen – und basta!

Damit wäre das wirtschaftlich-soziale Mosaik faktisch komplett, wären da nicht die ersten Unterentwicklungsrevolten. Am Montag, den 30. August 2004, brachen im Township Intabezwe (nahe Harrismith, Free State) spontan Proteste gegen das andauernde und bedrückende Elend los. Vor allem Jugendliche blockierten die Autobahn von Durban nach Johannesburg mit brennenden Autoreifen und bewarfen die heranrückende Polizei mit Steinen. Die Polizei antwortete mit dem Einsatz von Gummigeschossen und verletzte einen 17-jährigen Schüler tödlich. Das öffentliche Entsetzen war entsprechend, und richtete sich insbesondere gegen die ANC-geführte Provinzregierung. Der ANC – offenbar von den Ereignissen völlig überrascht – reagierte entsprechend nervös und verstört. Mit den ANC-Kommunalabgeordneten wurden zwar rasch die Sündenböcke, die es versäumt hätten, den Menschen die Lage zu erklären (ein typisches "Vermittlungsproblem" also), identifiziert, aber die Verunsicherung ist doch seitdem anhaltend und spürbar; nicht zuletzt, weil auch die Dinge in anderen Provinzen – insbesondere im Eastern Cape und in KwaZulu-Natal – offenbar aus dem ANC-Ruder laufen.

Seit Harrismith haben sich die Namen vieler weiterer Orte – Inanda Road, Masiphumele und Kennedy Road in Durban, Gugulethu, Nyanga und Khayelitsha in Kapstadt – in den Presseberichten über Armutsaufstände wiedergefunden. Die jüngsten Straßenschlachten lieferten sich Bürger und Bereitschaftspolizei in Ocean View (Kapstadt) Ende Mai. Überall stehen die Beschwerden von einfachen Menschen, die seit mehr als einem Jahrzehnt ausgeharrt und auf die Umsetzung der wiederholten Versprechen gewartet haben, im Zentrum der Auseinandersetzungen. Es geht um die Bereitstellung von Wohnraum, um Zugang zu Trinkwasser und Elektrizität – um menschenwürdige Lebensbedingungen überhaupt. Der Staat reagiert hypernervös vor allem mit Polizeigewalt und Diffamierung der Protestierer, denen "sedition" – versuchter gewaltsamer Umsturz, das zweitschwerste Vergehen nach Hochverrat – zur Last gelegt wird. Falls Urteile unter dieser Anklage ergingen, würden diese lange Haftstrafen zur Folge haben. COSATU hat ultimativ die Rücknahme derartiger Anschuldigungen gefordert und "Teile der Regierung" als nicht mehr "zurechnungsfähig" bezeichnet. Nur ganz allmählich beginnt in den Medien eine ernsthafte Diskussion der Hintergründe und Zusammenhänge.

Insgesamt lassen sich im Augenblick drei Interpretationsmuster identifizieren, die vorzugshalber von verschiedenen Gruppen vertreten werden.

Das machtfixierte Regierungslager erklärt sein Unverständnis – "Was uns am meisten besorgt ist, dass wir gar nicht verstehen, was wir unterlassen hätten, dass Menschen zu solchen (Protest)Aktionen greifen" (ANC Generalsekretär Kgalema Motlanthe) – und wittert hinter alledem eine "dritte Kraft", der es mit geheimdienstlichen Mittel auf die Spur zu kommen gelte. Zwar wird eingeräumt, dass es offensichtlich Verzweiflungstaten sind, mit denen Menschen auf sich aufmerksam machen wollen, die sich von der Gesellschaft ausgeschlossen und vergessen fühlen, aber deshalb müsse man ja nicht zu den Methoden des Anti-Apartheidkampfes zurückkehren.

In der ANC-Mitgliedschaft werden unfähige und korrupte Abgeordnete und Angestellte lokaler Verwaltungsbehörden für die extrem schleppende und unbefriedigende Bereitstellung von öffentlichen Dienstleistungen verantwortlich gemacht. Deshalb hat das ANC-Exekutivkomitee kürzlich verkündet, dass der ANC mit aller Härte gegen korrupte und träge Amtsinhaber vorgehen will – einschließlich der Abgeordneten des nationalen Parlaments, die in die Reisekostenaffäre verwickelt sind, die 2004 einen geschätzten Schaden von 17 Millionen Rand zulasten des Steuerzahlers verursacht hat. Damit soll offenbar die Stimmung im Vorfeld der eigentlich für 2005 anstehenden Kommunalwahlen wieder zurechtgerückt werden.

Politikanalysten und Vertreter zivilgesellschaftlicher Gruppen sehen jedoch noch einen weiteren Grund für die Unruhen – die Entfremdung von Amtsinhabern und Regierten. Insbesondere auf der Provinzebene wurden durch die ANC-Zentrale nach den Wahlen Funktionäre eingesetzt, die keine Verankerung in den lokalen Strukturen haben. Dies geschah maßgeblich, um machthungrige Provinzgrößen, die nach mehr Unabhängigkeit von der Zentralregierung streben, zurückzudrängen. In der Realität hat dies allerdings zu andauernden Machtkämpfen in den Provinzregierungen geführt die insbesondere im Free State und im Eastern Cape faktisch zur weitgehenden Paralysierung des Regierungshandelns geführt haben. Schließlich und nicht zuletzt hat die andauernd hohe Arbeitslosigkeit, kombiniert mit einer wachsenden Ungleichverteilung von Einkommen und Lebenschancen, zu einer Verschärfung der sozialen Spannungen beigetragen.

Zehn Jahre nach der "nicht verhandelbaren" Einführung eines neoliberal inspirierten Wirtschaftsprogramms steht Südafrika – und die ANC-geführte Dreierallianz – wahrscheinlich vor einer Herausforderung, die viele nach dem erstaunlich friedlichen Ende der Apartheidära so nicht erwartet hätten. Die Regierung sieht sich mit dem Ende der Geduld der verarmten Massen und mit Protestformen konfrontiert, die dereinst vom ANC selbst angewandt wurden. Ohne eine radikale Änderung des politischen Konzepts wird eine Rückkehr zu vereinten und konfliktarmen Entwicklungsanstrengungen wohl nicht zu haben sein.

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