1. Januar 2010 Hartmut Reiners

Unsinn mit Methode

Horst Seehofer hat in seiner Zeit als Gesundheitsminister einmal festgestellt, dass man als Regierungspartei mit Gesundheitspolitik keine Wahlen gewinnen, aber sehr wohl verlieren kann.

Deshalb will die schwarz-gelbe Koalition dieses heikle Thema einer Arbeitsgruppe überlassen, die ihre Ergebnisse erst nach den Wahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 präsentieren wird.

Bis dahin wird man wie Angela Merkel in einem ARD-Interview (6.11.2009) herumeiern und betonen, man habe sich in der Reform der GKV noch auf gar nichts festgelegt. Ähnlich vage äußerte sich auch Gesundheitsminister Rösler in einem Interview mit der ZEIT (28.11.2009). Dabei lässt der Koalitionsvertrag bei aller Schwammigkeit, die solchen Programmpapieren immer anhaften, sehr wohl erahnen, wohin die Reise gehen soll:

  Der Arbeitgeberanteil wird auf 7% eingefroren, der Versichertenbeitrag soll angehoben bzw. auf eine Kopfpauschale mit einem aus Steuern finanzierten Sozialausgleich umgestellt werden.

  Der Ausgleich der Krankheitsrisiken unter den Krankenkassen wird zurückgefahren.

  Der Wechsel von der GKV zur PKV wird durch eine Verringerung der Wechselfrist von drei Jahren auf ein Jahr erleichtert.

  In der Pflegeversicherung wird eine Kapitaldeckung eingeführt.

Diese Politik der Umverteilung von unten nach oben und der Bedienung wirtschaftlicher Sonderinteressen wird mit abgedroschenen Phrasen vernebelt, die seit Jahren von ideologischen Apparaten wie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, ignoranten Leitartiklern sowie akademischen Mietmäulern verbreitet werden: Senkung der Lohnzusatzkosten, Bürokratieabbau, mehr Wettbewerb und Generationengerechtigkeit. Gleicht man diesen in den Medien breit getretenen Quark mit den Fakten ab, zerplatzen die Sprechblasen.

Geisterdebatte über Lohnnebenkosten

Bereits die rot-grüne Koalition ritt sich mit ihrer Parole "Lohnnebenkosten runter" in die Grütze. Die deren Agenda 2010 begründende und von Merkel gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung, hohe Sozialabgaben gefährdeten als Lohnzusatzkosten den Standort Deutschland und deren Senkung bedeuteten Wachstum, ist ohne jede empirische Basis. Schon der lächerliche Streit ums "Wording", ob es Lohnneben- oder Lohnzusatzkosten heißen müsse, macht den ideologischen Charakter dieser politischen Parole deutlich. Zunächst einmal ist das Gerede von "Lohnnebenzusatzkosten" (Kurt Kister) per se Unsinn. Ivan Nagel hat diesen Begriff einmal in der Süddeutschen Zeitung (30.5.2003) korrekt als "Falschwort" bezeichnet, weil es nur Lohnkosten gebe, aber keine imaginären Lohnnebenkosten. Sozialabgaben seien unverzichtbare Lebenshaltungskosten und damit ein genuiner Lohnfaktor. Das brachte ihm eine wütende Replik des SZ-Ressortchefs Wirtschaft Nikolaus Piper ein. Spätestens beim Erhalt einer Handwerkerrechnung werde er merken, dass es die Lohnnebenkosten sehr wohl gebe. Nun steht auf einer Handwerkerrechnung in der Regel die Mehrwertsteuer, aber nicht die mit dem Lohn verbundene Sozialversicherungsabgabe. Aber sei’s drum. Ein Beispiel der Handwerkskammern Bayern zeigt, welch geringe Dimension diese haben. Demnach kostete 2003 eine Handwerkerstunde 43 Euro. Davon entfielen bei einem Stundenlohn von 12,30 Euro auf die gesetzlichen Sozialaufwendungen der Arbeitgeber 4,70 Euro und 5,90 Euro auf die Mehrwertsteuer. Senkt man die Sozialabgaben um einen Prozentpunkt, sinken sie in diesem Fall um 12 Cent, was einer Senkung der Gesamtkosten um 0,29% entspricht – kein die Nachfrage nach Handwerkerleistungen wirklich anheizender Effekt. Absurd wird es, wenn man, wie die frühere rot-grüne Koalition, zur Senkung der Arbeitskosten die Beiträge für die Bundesagentur für Arbeit um einen Prozentpunkt senkt, um diese Maßnahme mit einer Anhebung der Mehrwertsteuer in derselben Relation zu finanzieren. Die Folge ist, wie unser Beispiel zeigt, per saldo eine Kostensteigerung.

Aber auch andere Untersuchungen fanden keine Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Standorts Deutschland durch zu hohe Sozialabgaben. Nach Berechnungen des DIW belastet die Anhebung der Sozialabgaben um einen Prozentpunkt die Arbeitskosten um zwischen 0,3 und 0,4% – keine die internationale Wettbewerbsfähigkeit nennenswert beeinflussende Größenordnung; zumal die Arbeitkosten im produzierenden Gewerbe nur ca. 25% der Gesamtkosten ausmachen, in export­intensiven Branchen wie der Automobilindustrie sogar nur 10 bis 15%. Da haben Wechselkursschwankungen eine größere Bedeutung. Hinzu kommt, dass Deutschland sowohl bei den Lohnnebenkosten als auch bei der Abgabenquote (incl. Steuern) in der OECD-Statistik unter dem Durchschnitt der EU 15-Staaten liegt. Zudem stellte die OECD in einer jüngst veröffentlichten Studie fest, dass in Deutschland die unteren und mittleren Einkommen eine im EU-Vergleich überdurchschnittlich hohe Abgabenlast zu tragen haben. So viel zum unerträglichen Geschwätz von ignoranten Modephilosophen und Feuilletonisten über die angebliche Ausbeutung des oberen Einkommensdrittels durch den Sozialstaat.

Aber all diese leicht zu recherchierenden Fakten können die Bundeskanzlerin und ihren Gesundheitsminister nicht davon abhalten, die Senkung der Lohnzusatzkosten zum Leitbild ihrer Politik zu machen. Im Kern geht es auch nicht um die Sicherung von Arbeitsplätzen, schon gar nicht um mehr Wachstum, sondern um die Aushöhlung des Solidaritätsprinzips unter dem Deckmantel angeblicher Sachzwänge der Globalisierung. Da dieses Sozialstaatsprinzip eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung hat, greift man es nicht direkt an, sondern erklärt die lohnabhängige Beitragsfinanzierung selbst für unsolidarisch und will sie durch eine Kopfprämie mit einem aus Steuern finanzierten Sozialausgleich ersetzen.

Kommt die Kopfprämie?

Man erinnere sich: 2003 und 2004 gab es, angestoßen durch die von der rot-grünen Koalition eingesetzte Rürup-Kommission sowie die im Gegenzug von der Union gebildete Herzog-Kommission, eine Debatte darüber, die lohnbezogene Beitragsfinanzierung der GKV auf eine einheitliche Kopfpauschale umzustellen. Diese Prämie sollte, je nach Modell bzw. Arbeitgeberanteil, zwischen 160 und 250 Euro pro Monat betragen und für alle erwachsenen Versicherten, also auch die jeweiligen Ehepartner, gelten. Kinder sollten beitragsfrei auf Kosten des Bundeshaushalts mitversichert werden. Auch sollte der Sozialausgleich vom Staat finanziert werden, damit kein Haushalt mehr als 15% seines Einkommens für die Krankenversicherung zahlen müsste. Das sei sozial gerechter, weil über die Steuern auch die Besserverdienenden voll in den Sozialausgleich einbezogen würden. Außerdem mache die Abkoppelung der Beiträge von den Arbeitskosten die GKV-Finanzierung unabhängiger von konjunkturellen Schwankungen. Beide Behauptungen sind falsch.

Die Verlagerung des Sozialausgleichs in den Staatshaushalt wäre nur dann sozial gerecht, wenn sie nur aus der Lohn- und Einkommenssteuer sowie aus Kapitalertrags-, Zins- und Körperschaftssteuern finanziert würde. Die machen jedoch nur ca. 45% des gesamten Steueraufkommens aus. Die restlichen 55% werden über Umsatz- und Verbrauchssteuern getragen, die keinen Sozialausgleich kennen. Überdies ist der Staatshaushalt mindestens ebenso von Konjunkturschwankungen betroffen wie die lohnbezogene Beitragsfinanzierung. Wirtschaftskrisen nehmen den steuerfinanzierten Sozialausgleich von zwei Seiten in die Zange. Die Zahl der Arbeitslosen und Geringverdiener mit einem Anspruch auf staatliche Zuschüsse steigt, zugleich sinken die Steuereinnahmen, aus denen diese finanziert werden sollen. Man steht dann vor dem Dilemma, entweder die Steuern anzuheben, oder die Sozialleistungen zu kürzen. Beides würde die verfügbaren Einkommen reduzieren, ein die Konjunktur noch weiter nach unten ziehender Effekt. Von Konjunkturneutralität findet man also keine Spur.

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hat errechnet, dass der bei der Kopfpauschale erforderliche Sozialausgleich ca. 38 Mrd. Euro umfassen würde. Das entspricht einer Fortschreibung der alten Schätzungen der Rürup-Kommission. Diese Summe ist angesichts der Steuersenkungen versprechenden Koalitionsvereinbarungen eigentlich ein Killerargument gegen die von Herrn Rösler faktenwidrig "solidarische Prämie" genannte Kopfpauschale. Zudem benötigte die Einführung eines über Steuern finanzierten Sozialausgleichs die Mehrheit des Bundesrates. Die aber ist nicht in Sicht, da CDU regierte Ost-Länder wie Sachsen und Thüringen, aber auch Nordrhein-Westfalen ihre Ablehnung der Kopfpauschale schon angekündigt haben.

Ein solcher Systemwechsel hätte aber auch noch andere Fallen. Die von Rösler in dem oben zitierten ZEIT-Interview angekündigte beitragsfreie Mitversicherung von Ehegatten und Kindern kann in einem Kopfpauschalen-System nur über Steuern finanziert werden, wenn man nicht Monatsprämien von 250 Euro und mehr in Kauf nehmen will. Dann müsste man diese Subventionen aber aus verfassungsrechtlichen Gründen auch den PKV-Mitgliedern gewähren, es sei denn, alle Kinder und mitversicherten Ehegatten werden Pflichtversicherte der GKV. Das aber könnte ebenso der Anfang vom Ende des PKV-Systems sein wie die angestrebte Prämie von höchstens 150 Euro, mit der die PKV-Unternehmen kaum konkurrieren könnten. Genau deshalb hat sich der PKV-Verband schon immer vehement gegen ein Kopfprämiensystem in der GKV ausgesprochen und angedeutet, man werde sich unter solchen Umständen aus dem Krankenversicherungsgeschäft zurückziehen.

Hätte das Kopfpauschalensystem nicht so große soziale Kollateralschäden, könnte man ihm unter diesen Voraussetzungen sogar als listigem Schleichweg in die Bürgerversicherung etwas abgewinnen. Das haben Union und FDP zwar noch nicht kapiert, aber ihre Klientel in der PKV wird sie schon noch darauf hinweisen. Auch deshalb ist es wenig wahrscheinlich, dass die Kopfprämie wirklich kommt.

Kassenwettbewerb über Risikoselektion

Stattdessen wird man eher einen anderen Weg wählen. Das Kernstück des Gesundheitsfonds soll zurückgefahren werden: der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (M-RSA). Dieses bürokratische Monster müsse man stutzen, damit es zu mehr Wettbewerb unter den Krankenkassen kommt. Union und FDP können dabei auf Beifall von vielen Journalisten hoffen, von denen nur wenige den im Prinzip einfachen Mechanismus des M-RSA verstanden haben. Stattdessen macht man sich lieber über dieses wie eine Übungseinheit aus der logopädischen Rehabilitation von Schlaganfallpatienten klingende Wortungetüm lustig, was per se schon als Beleg für ein bürokratisches Monster betrachtet wird.

Nun, dieses vermeintliche Ungetüm besteht aus nur 21 Mitarbeitern eines Referates im Bundesversicherungsamt (BVA) und ist ein unverzichtbares Instrument zur Steuerung des Kassenwettbewerbs. Es wurde eingeführt, weil man die Erfahrung gemacht hatte, dass es ohne einen gezielten Ausgleich der Krankheitsrisiken zu schweren Wettbewerbsverzerrungen im GKV-System kommt. Kassen mit einer höheren Zahl von alten bzw. chronisch kranken Versicherten müssen dann höhere Beiträge erheben als die mit vielen jungen Versicherten gesegneten Konkurrenten. Das heißt, Kassen werden bestraft, wenn sie ihre gesetzlichen Aufgaben erledigen, und belohnt, wenn sie sich durch Risikoselektion davor drücken. In wettbewerblichen Krankenversicherungssystemen, die es in Europa außer in Deutschland nur in der Schweiz und den Niederlanden gibt, ist ein solcher M-RSA daher zwingend erforderlich, wie man u. a. im von Culyer und Newhouse herausgegebenen "Handbook of Health Economics" nachlesen kann.

Der alte, 1994 eingeführte RSA bot gleich zwei Einfallstore für Risikoselektion: Zum einen umfasste er nur 92% der Beitragseinnahmen, was Kassen mit einem hohen Anteil von Versicherten mit Einkommen im Bereich oder jenseits der Beitragsbemessungsgrenze (2009: 3.560 Euro p. m.) Vorteile brachte. Zum zweiten basierte der Ausgleich der Krankheitsrisiken auf den Kriterien Alter und Geschlecht, wodurch die Morbiditätsunterschiede innerhalb derselben Altersjahrgänge nicht erfasst wurden. Unter diesen Mängeln des RSA litten insbesondere die großen Versorgerkassen (AOK, BEK, DAK), während die Techniker Krankenkasse und viele Betriebskrankenkassen schon wegen des relativ hohen Durchschnittseinkommens ihrer Mitglieder davon profitierten. Es kam zu massiven Abwanderungen vor allem jüngerer Versicherter hin zu den "Rosinenpickern" mit günstigen Beitragssätzen, was die Versorgerkassen immer stärker benachteiligte.

Der Gesundheitsfonds bereitete dieser unsinnigen Risikoselektion ein Ende, die nun aber nach den Vorstellungen von schwarz-gelben Gesundheitspolitikern wieder zum Leben erweckt werden soll. Der den Gesundheitsfonds speisende allgemeine Beitragssatz soll für Arbeitgeber und Versicherte auf jeweils 7% eingefroren und der seit 2004 geltende alleinige Versichertenbeitrag von 0,9% mit dem ggf. fälligen Zusatzbeitrag zu einem "Wettbewerbsbeitrag" zusammengelegt werden. Dadurch würden Ausgabensteigerungen der GKV nicht nur einseitig auf die Versicherten abgeladen. Sie würden auch aus dem Gesundheitsfonds und damit aus dem RSA ausgekoppelt, was den gerade eliminierten Wettbewerb über Risikoselektion wieder anheizen würde. Erste Modellrechnungen des BVA haben ergeben, dass dies insbesondere die AOK stark benachteiligen würde. Sie müsste in 2010 einen "Wettbewerbsbeitrag" von zwischen 2,1 und 2,8% des beitragspflichtigen Einkommens erheben. Mit einem an den Interessen der Versicherten orientierten Wettbewerb hat das nichts zu tun. Vielmehr würde die solidarische GKV ausgehöhlt und für freiwillig Versicherte zunehmend unattraktiv. Ein Schelm, wer dahinter Absicht vermutet? Allerdings ist auch für diesen Weg eine politische Mehrheit fraglich. Die CDU geführten Regierungen in den neuen Ländern haben sich bereits dagegen ausgesprochen, weil er zulasten ihrer Bürger geht. Sie könnten für diese Position zudem in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und im Saarland Verbündete finden, deren Regionalkassen auch benachteiligt würden.

Kapitaldeckung: mehr Generationengerechtigkeit?

Die schwarz-gelbe Koalition will die soziale Pflegeversicherung teilweise auf Kapitaldeckung umstellen. Die Bürger sollen für die zukünftig zu erwartenden Steigerungen der Pflegeausgaben in einem besonderen Fonds Geld ansparen. Das führe zu mehr Generationengerechtigkeit als das bestehende Umlageverfahren. Keine Frage, die Pflegebedürftigkeit wird spätestens ab 2030, wenn die geburtenstarken Jahrgänge 1955 bis 1969 ein entsprechendes Alter erreichen, zunehmen. Aber kann dieses Problem ein Kapitalstock besser lösen als das Solidaritätsprinzip? Letzteres führe, so die von notorischen Talkshowgästen wie Meinhard Miegel oder Bernd Raffelhüschen verbreitete These, zu einer Verschuldung der heutigen Generation bei ihren Nachkommen. Diese werde bis zum Jahr 2050 allein durch die dann fälligen Gesundheitsausgaben auf 25% des Bruttoinlandsprodukts anwachsen, behauptet das von Raffelhüschen geleitete Forschungszentrum Generationenverträge in Freiburg.

Derartige Generationenbilanzen sind nichts weiter als Argumentationskrücken für die Geschäftsinteressen der Versicherungswirtschaft. In gesellschaftspolitischer wie ökonomischer Hinsicht sind sie grober Unfug. Sie basieren zudem auf hoch spekulativen Annahmen über die zukünftig zu erwartenden Gesundheitsausgaben. Diese müsste man, wenn man eine wirkliche Generationenbilanz aufstellen will, mit den von der heute aktiven Generation bezahlten Ausgaben für Bildung und andere Infrastruktureinrichtungen sowie den privaten intergenerativen Transfers über Erbschaften etc. saldieren.

Dann dürfte von einer Verschuldung gegenüber künftigen Generationen wohl kaum noch etwas übrig bleiben. Eine solche buchhalterische Aufrechnung sozialer Beziehungen ist aber nicht nur mangels geeigneter Daten nicht leistbar, sie hätte auch verhängnisvolle Auswirkungen auf das Zusammenleben in der Gesellschaft.

Raffelhüschen & Co. ignorieren des weiteren mit ihrer Forderung, die Altersrisiken der Gesellschaft durch kollektives Sparen abzusichern, das 1952 von Gerhard Mackenroth formulierte Gesetz, wonach Sozialausgaben immer aus der Wertschöpfung der jeweils laufenden Periode finanziert werden müssen. Eine Volkswirtschaft kennt keinen Geldspeicher wie den von Dagobert Duck, der sie bei Bedarf mit akkumuliertem Geld versorgt. Sowohl die gesetzliche als auch die private Alterssicherung basieren auf Rechtsansprüchen auf Teilhabe am Volkseinkommen zukünftiger Zeiten. Während diese Verpflichtungen in der gesetzlichen Sozialversicherung per Umlage bedient werden, benötigt die Kapitaldeckung ein ausgewogenes Verhältnis von Sparen und Entsparen. Lösen privat Versicherte mehr Rückstellungen im Alter auf, als die nachwachsende aktive Generation in den Versicherungsfonds einzahlt, führt dies zwangsläufig zu einer Entwertung des angesparten Kapitals. Dieses als "asset meltdown" bekannte Phänomen droht nach vorliegenden Berechnungen der Versicherungswirtschaft dann, wenn auf einen Entsparer weniger als 1,2 Sparer kommen. Nach Schätzungen der Hypovereinsbank wird diese heute bei 1:1,7 liegende Relation bis 2040 auf mindestens 1:1 sinken.

Das demografische Risiko trifft also auch die Kapitaldeckung. Deren Sicherheit hängt zudem von den internationalen Finanzmärkten ab – keine beruhigende Aussicht, wie wir mittlerweile wissen. Im Krisenfall setzt auch das Finanzkapital bekanntlich auf den Staat als "weißen Ritter", der ihm aus der Patsche hilft.

Welchen Grund sollten dann die Bürger haben, ihre soziale Grundsicherung nicht gleich dem über Steuern und Beiträge finanzierten Sozialstaat anzuvertrauen? Dieser ist in Verbindung mit einem eine steigende Produktivität der Wirtschaft sichernden öffentlichen Bildungssystem allemal das besser funktionierende kollektive Sparschwein.

Versorgungsdefizite: Koalitionsvertrag ohne Konzept

Die im Koalitionsvertrag aufgelisteten Maßnahmen werfen die gesundheitspolitische Debatte um Jahre zurück. Nicht Zukunftsfragen des Gesundheitswesens stehen auf der Agenda, sondern das Aufwärmen eigentlich erledigter Fälle. Die politische Opposition und die Gewerkschaften tun gut daran, nicht nur einen Abwehrkampf gegen die Kopfpauschale zu führen. Klar, dieses Vorhaben muss verhindert werden. Das ist den Bürgern auch gut zu vermitteln. Wo Norbert Blüm Recht hat, hat er Recht: "Wenn der Chef den gleichen Beitrag zur Krankenversicherung zahlt wie sein Chauffeur und der Meister den gleichen wie der Hausmeister, dann musst du nicht Plato, Aristoteles oder Kant gelesen haben, um das für ungerecht zu halten. Es genügt der gesunde Menschenverstand." (Tagesspiegel, 26.10.2009) Aber dabei darf man es nicht bewenden lassen. Es muss deutlich gemacht werden, dass die Politik der Bundesregierung nicht nur sozial ungerecht, sondern auch perspektivlos ist. Die eigentlich wichtigen Probleme bleiben liegen. Hier ein paar Beispiele:

  In vielen ländlichen Regionen besteht ein empfindlicher Ärztemangel. Dort kann die medizinische Versorgung nur durch integrierte Versorgungsnetze und neue Formen der Kooperation von Gesundheitsberufen gesichert werden.

  Die immer noch starren Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung müssen endlich beseitigt werden.

  Die demografische Entwicklung erfordert eine bessere Vernetzung von sozialer Betreuung und medizinischer Versorgung.

  Auch Veränderungen bei den Gesundheitsberufen machen neue Organisationsformen und Arbeitsabläufe im Gesundheitswesen erforderlich. Nur ein Hinweis: 70% der Absolventen des Medizinstudiums sind Frauen.

  Das traditionelle System der Kassenärztlichen Vereinigungen ist faktisch in Auflösung begriffen, ohne dass dafür eine tragfähige Alternative in Sicht ist. Die Sicherstellung der medizinischen Versorgung muss neu organisiert werden.

Diese Themen müssen in den Fokus gestellt werden mit der Botschaft: Union und FDP betreiben ideologische Spiegelfechterei und Klientelpolitik, anstatt sich um die wirklichen Versorgungsprobleme zu kümmern.

Hartmut Reiners ist Ökonom und Publizist, lebt in Berlin. Alle Zahlen und Quellen sind, soweit nicht anders erwähnt, seinem Buch "Mythen der Gesundheitspolitik" (2009, Huber Verlag) entnommen.

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