30. Juni 2023 Witich Roßmann: Wilder Streik bei Ford 1973

Verhandlungs- versus Aufstandslogik

Der siebentägige wilde Streik in den Kölner Ford-Werken vom 24. bis 31. August 1973 lebt im kollektiven Gedächtnis als »Türkenstreik«, als »wichtigster Arbeitskampf in der Geschichte der ›Gastarbeiterzuwanderung‹« (so eine zeitgenössische Analyse) fort. Sein 50-jähriges Jubiläum regt erneut Veranstaltungen, Konferenzen und Tagungen an.

Er steht als Aufbruchssignal der migrantischen Bewegung, obwohl dieser Ford-Streik nahezu der letzte von 440 »wilden Streiks« im Sommer 1973 war. Er ist der am besten schon zeitgenössisch dokumentierte und inzwischen auch vielfältig historisch aufgearbeitete Streik. Die Perspektive aller linksradikalen Akteure dominieren die zeitgenössischen Diagnosen und Dokumentationen, die migrantische Perspektive reflektieren jüngere historische Forschungen. Die gewerkschaftliche Aufarbeitung blieb vor der Öffentlichkeit weitgehend verborgen. Ihr gilt neben den gegenüber 1969 völlig veränderten Arbeitskampfstrategien des Kapitals meine besondere Aufmerksamkeit.

Dechiffrierung des Mythos

An den Ford-Streik 1973 knüpfen sich zahllose Legenden und Mythen, die gleichermaßen den parteiisch inspirierten zeitgenössischen Dokumentationen wie dem Schweigen relevanter gewerkschaftlicher Akteure zu verdanken sind, denen das Desaster peinlich war, und die zudem bis zum Ende der 30-jährigen Verjährungsfrist unter dem Damoklesschwert von Ford angedrohter Zivilschadensersatzforderungen in mehrfacher Millionenhöhe standen. Die nachfolgende Analyse unterzieht die gängigen Streikanalysen einer historisch-kritischen Überprüfung. Ausgewertet werden hierzu Materialien aus dem Archiv der Kölner IG Metall, des Ford Betriebsrates sowie zahlreiche Zeitzeugeninterviews.

Meine erste Ausgangshypothese geht davon aus, das wir es nicht mit einem wilden Streik, sondern mit zwei sozialen Bewegungen zu tun haben: einer spontanen Arbeitsniederlegung nach dem Muster gewerkschaftlicher Verhandlungslogiken analog den meisten wilden Streiks des Jahres 1973 und einer migran­tischen Bewegung, die der Logik des »Aufstands«, der »direkten Aktion«, einer »autonomen Selbstorganisation« folgt. Beide Bewegungen gehen ineinander über, folgen aber je eigenen inneren Logiken und prägen Aktionen, Handlungsmuster und Konflikte der unterschiedlichen Akteure. Erst diese Unterscheidung eröffnet eine Interpretation des Streikverlaufs jenseits moralisierender und diffamierender Bewertungen der Akteure wie der kurz- und langfristigen Ergebnisse des Ford-Streiks.

Witich Roßmann, Politikwissenschaftler, von 1987 bis 2017 Gewerkschaftssekretär und Erster Bevollmächtigter der IG Metall Köln-Leverkusen, aktuell Vorsitzender des DGB-Stadtverbands Köln.

In der Printausgabe dieses Beitrags wurde aus Platzgründen auf die Quellennachweise verzichtet. In dieser Leseprobe machen wir sie – zusammen mit Zeitungsausschnitten und weiteren Fotos – zugänglich.

Die komplette Leseprobe als pdf-Datei!

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