1. November 2007 Jens Becker

Visionär und Realist

Am 8. November 2007 wird der neugewählte Vorsitzende der IG Metall, Berthold Huber, auf dem 21. ordentlichen Gewerkschaftstag der IG Metall in Leipzig die Verdienste Otto Brenners (1907-1972) würdigen. Den 100. Geburtstag ihres langjährigen Vorsitzenden angemessen zu begehen, der neben Hans Böckler zu den wichtigsten Gewerkschaftsführern der Nachkriegsgeschichte gezählt werden kann, kann für die IG Metall nützlich sein.

Ein Blick zurück verdeutlicht, welche Errungenschaften in der Ära Brenner (1953-1972) von der IG Metall erkämpft werden konnten und welche Schwierigkeiten damit verbunden waren. Berthold Huber wird Brenners Erbe beschwören, die IG Metall als Gestaltungslokomotive und Modernisierungsfaktor in einer sich wandelnden Welt bezeichnen und mit Zuversicht in die Zukunft schauen: Globalisierung gestalten, umweltfreundliche Technologien entwickeln, den Flächentarif modernisieren und dialogbereit gegenüber den anderen gesellschaftlichen Interessengruppen bleiben.

Gerne wird mit Brenner eine "Erfolgsstory" der IG Metall in der Bundesrepublik assoziiert: Gegen- und Ordnungsmacht, hohe Lohn- und Einkommensverbesserungen, schrittweise Wochenarbeitszeitverkürzung von 58 auf 40 Stunden, freies Wochenende ("Samstags gehört Vati mir"), mehr Urlaubstage, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Rationalisierungsschutzabkommen, Entwicklung einer modernen Strukturpolitik u.v.a.m. Andere Deutungen beklagen den klassenkämpferischen Furor der IG Metall und verbinden dies mit der marxistischen Prägung des "eisernen Otto". Ein Blick auf seine Biografie zeigt,[1] dass sämtlichen Etikettierungen nur bedingt zu trauen ist. Brenner verkörperte, wie Peter von Oertzen einmal schrieb, "mehr als irgendein anderer deutscher Gewerkschaftsführer jene Generation, die – ein Bindeglied zwischen den Alten der Weimarer Zeit und den nach 1945 herangewachsenen Jüngeren – die Brücke über den Abgrund der faschistischen Herrschaft geschlagen und die besten Überlieferungen der deutschen Arbeiterbewegung in die Gegenwart herübergerettet hat."[2]

Nach Brenner war es Aufgabe der Gewerkschaften, maßgeblich zur Errichtung einer freien und gerechten Gesellschaftsordnung beizutragen, die nur als demokratischer Sozialismus zu verstehen war. Sein durch den Faschismus und die Enttäuschung der unmittelbaren Nachkriegsjahre resultierendes gewerkschaftspolitisches Selbstverständnis lautete daher: "Es gibt keine demokratische Gesellschaft ohne freie Gewerkschaften! Es gibt keine Demokratie ohne soziale Gleichberechtigung der Arbeitnehmer! Wir Gewerkschafter haben uns immer für das gesellschaftliche Ganze verantwortlich gefühlt. Wir haben stets für die Verwirklichung der Demokratie und die soziale Gerechtigkeit gekämpft. Nach den furchtbaren Erlebnissen der zwölfjährigen Nazi-Diktatur werden wir nicht zulassen, dass die demokratischen Grundrechte jemals wieder in Frage gestellt werden!"[3] Insofern war Brenner kein Modernisierer, sondern ein "Traditionalist". Dem sich in der DGB-Programmdebatte Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre auch unter führenden Gewerkschaftern zunehmend durchsetzenden Sozialpartnerschaftsgedanken stellte er sich entgegen. Deutlich wird das in seiner Metapher, die er aus der – im heutigen Globalisierungszeitalter noch gängigen – Begründung "Wir sitzen doch alle in einem Boot" entwickelte: Ja man sitze in einem Boot, doch die einen halten das Ruder und weisen die einzuschlagende Richtung, die anderen hätten den Befehlen zu folgen und zu rudern. Das schließe gemeinsame Interessen nicht aus, doch unterscheide sich die von der jeweiligen Seite zu spielende Rolle grundsätzlich.

An seinen damaligen Feststellungen hat sich bis heute nichts geändert: Die Arbeitgeberseite verfüge über die Produktionsmittel, und ihr einziges Risiko bewege sich im Rahmen von Gewinn und Verlust. Das Risiko für die Arbeitnehmer hingegen, die lediglich über ihre Arbeitskraft verfügten, bewege sich auf einer ganz anderen Ebene, nämlich der der Existenzsicherung. Das sei, sozial gesehen, unabhängig davon, ob sie einen niedrigeren oder höheren Anteil am gesellschaftlichen Gesamtprodukt erkämpfen konnten oder wie engmaschig das staatliche soziale Netz geknüpft sei – was beides für sich ein Ziel innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise darstelle. Aus dieser Sicht heraus unterschied Brenner auch prinzipiell zwischen Streik und Aussperrung, weil die jeweiligen Akteure mit fundamental verschiedenen Konsequenzen zu rechnen hatten. Eng mit dieser Sicht hing aber auch Brenners Einsatz für den Erhalt des Streikrechts als demokratisches Grundrecht zusammen: Nicht die bloße Zulassung und Existenz von Gewerkschaften in einer Gesellschaft galt ihm als sichtbarer Ausdruck einer bestehenden Demokratie, sondern das Faktum, ob diese Gesellschaft den Gewerkschaften auch das Streikrecht als Mittel der kollektiven Einflussnahme und Mitbestimmung real zubilligte.

Die im deutschen Faschismus gemachten Erfahrungen (Widerstand, Haft, Krieg, Arbeit unter härtesten Bedingungen, Angst vor erneuter Verfolgung) machten Brenner gegenüber jeglichen autoritären und antidemokratischen Problemlösungen sensibel. Im Faschismus sah er eine – wenngleich keine notwendige – Antwort der kapitalistischen Produktionsweise auf ihre Krise: Was mit rein ökonomischen Mitteln nicht mehr aufrechtzuerhalten war, würde nun auf despotische Weise, nämlich durch Außerkraftsetzung der demokratischen Grundrechte, gerichtet. Zu diesem Vorbehalt gegen das kapitalistische System, der in den 1960er Jahren in seinem intensiven Kampf gegen die Notstandsgesetze kulminierte, kam ein weiterer, den er schon in seinen Gefängnisbriefen 1935 zum Ausdruck gebracht hatte, nämlich dass auch der Krieg ein der kapitalistischen Produktionsweise adäquates Mittel zur Krisenregulierung darstelle. Deshalb – schrieb er nur wenige Monate vor Kriegsende seiner Frau in seinem Neujahrsbrief – werde es den "wahrhaften Frieden" im Kapitalismus nicht geben.

Neben genuin gewerkschaftspolitischen Handlungsfeldern, etwa im Bereich der Lohn- und Arbeitszeitpolitik, aber auch im Kampf um die paritätische Mitbestimmung als Etappenziel zu einer "Demokratisierung der Wirtschaft" im Sinne Fritz Naphtalis, stellte Brenner den arbeitenden Menschen in den Vordergrund, der zunehmend mit den Umwälzungen in Technik, Wissenschaft, Atomenergie und Weltraumforschung konfrontiert werde. Ähnlich wie die Wirtschaft für den Menschen da sei, so lassen sich seine Gedanken auf dem 8. Gewerkschaftstag der IG Metall 1966 zusammenfassen, habe auch die Technik für den Menschen da zu sein und ihm das Leben zu erleichtern.

Aus dem reflektierten Traditionalisten wurde ein nachdenklicher Modernisierer, der zu den ersten Mahnern im Gewerkschaftslager bezüglich des technischen Fortschritts wurde. Die Aufgabe der Gewerkschaften sah er darin, das aktivste und dynamischste Element des Wandels zu sein und dabei die Interessen der arbeitenden Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns zu stellen: "Zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit sind uns die Mittel in die Hand gegeben, mit denen wir soziale Probleme lösen können. Gelingt uns das nicht, dann würde sich die paradoxe Situation ergeben, dass eine Zivilisation zerstört wird, für deren großartige Entfaltung der menschliche Geist alle Voraussetzungen geschaffen hat."[4] Diese und andere Reden, wie beispielsweise die auf der ersten Oberhausener Zukunftskonferenz der IG Metall, veranschaulichen, mit welcher Intensität sich Brenner mit dieser Thematik beschäftigte.

Seit Gründung der Bundesrepublik gehörte Brenner auch zu den wichtigsten Kritikern des "CDU-Staates". Offenkundig wies Brenner der IG Metall, wenngleich eher implizit als explizit, ein politisches Mandat zu, das die aus seiner Sicht arbeitnehmer- und gewerkschaftsfeindliche Politik der CDU-geführten Bundesregierung heftig kritisierte und darauf baute, politische Alternativen aufzuzeigen. Der Widerspruch, einer privilegierten Oberschicht gesellschaftlichen Reichtum zuzugestehen und den breiten Massen Maßhalten und Mehrarbeit zuzumuten, verletzte Brenners Gerechtigkeitsgefühl und motivierte ihn, insbesondere Bundeskanzler Ehrhard mitunter heftig zu attackieren. Die Expansion des Kapitalismus in der Prosperitätsphase der 1950er und 1960er Jahre war für Brenner kein ehernes Gesetz. Er beharrte auf dessen Instabilität und ging von immer wieder aufkommenden Wirtschafts- und damit gesellschaftspolitischen Krisen aus. Die in der Bundesrepublik Deutschland zunächst hegemoniale Annahme, die neue soziale Marktwirtschaft garantiere "Wohlstand für alle", hielt er für ein Ammenmärchen. Noch 1971 gebrauchte er den Begriff "Klassengesellschaft", um die ungleichen Besitzverhältnisse und Verteilungsmechanismen innerhalb der "sozialen Marktwirtschaft" zu charakterisieren, und führte dazu auf dem 10. ordentlichen Gewerkschaftstag der IG Metall aus: Auch wenn manchen der Begriff des Klassenkampfes antiquiert erscheine, so bleibe doch unbestreitbar, dass es noch immer "Ungerechtigkeit und Ausbeutung, einseitige Verteilung von Macht und Besitz, ungleiche Lebenschancen und zahllose andere Widersprüche, gegen die man angehen muss", gebe. Dazu bedürfe es des gemeinsamen Handelns, der Solidarität, wozu sich die Gewerkschaften von Anfang an verpflichtet fühlten.

Brenner sah die Gewerkschaften bis 1966 in einer Abwehrstellung, mit der Etablierung der Großen Koalition hingegen in einer mitgestaltenden Funktion. Angesichts der Machtverhältnisse hätten gewerkschaftliche Neuordnungspläne nur einen Sinn, wenn sie von einer interessierten Öffentlichkeit ernst genommen würden. Die Kunst des Gewerkschafters sah er darin, trotz der geringen gesellschaftlichen Veränderungsmöglichkeiten "Vorschläge in Richtung auf eine sinnvollere und sozial gerechtere Ordnung unseres Industriezweiges" zu machen.[5] Durch die Zweckpartnerschaft mit der CDU/CSU wurde die SPD "regierungsfähig", die sozialliberale Koalition (1969-1982) führte zum eigentlichen Machtwechsel, der von Brenner begrüßt wurde. Er maß dem historisch gewachsenen Bündnis zwischen Gewerkschaften und SPD eine gewichtige Bedeutung bei, obwohl es zwischen den traditionellen Bündnispartnern nicht zu übersehende Interessengegensätze gab. Insbesondere der Kampf um mehr Mitbestimmung und gegen die Notstandsgesetze prägten Brenners gewerkschaftspolitisches Handeln, das mitunter das tarif- und organisationspolitische Kerngeschäft in den Hintergrund treten ließ.

Bei der Gegenüberstellung von zwei weiteren gesellschaftspolitischen Prozessen, der Konzertierten Aktion und der breit geführten Auseinandersetzung um die Notstandgesetze, verschwimmen die sonst scharfen Konturen Brenners etwas: Im Rahmen der Konzertierten Aktion verfolgte er einen pragmatischen Politikansatz. Aufgrund der Gesprächsbereitschaft zwischen Arbeit, Wirtschaft und Staat war das opportun, es hätte sonst dem Ruf der IG Metall als gesellschaftspolitischem Akteur geschadet. Um die Kritiker in den eigenen Reihen zu besänftigten, die hinter der Konzertierten Aktion Lohn- und andere Absprachen vermuteten, verwies Brenner vielfach auf die Tarifautonomie. Als marxistisch geschulter Gewerkschafter sah er die Vorzüge des keynesianischen Steuerungsmodells, das auf einem Konsenskapitalismus beruhte und eine von ihm gewünschte staatliche Struktur- und Investitionspolitik ermöglichte, wie im Falle der Salzgitter AG, die Brenner sehr am Herzen lag, aufgezeigt wurde. Für ihn war die Zurückdrängung der Wirtschaftsliberalen ein großer Pluspunkt. Er teilte die in den 1960er und frühen 1970er Jahren vorherrschende Erkenntnis, die Finanz- und Wirtschaftspolitik, staatliche Haushaltsdefizite und staatliche Nachfragepolitik könnten auch im Krisenfalle dazu beitragen, ein hohes Beschäftigungsniveau zu sichern.

Was bleibt? Als "linker" Gewerkschaftsfunktionär und Sozialdemokrat verkörperte Brenner den Typus jenes Arbeiterführers der Nachkriegszeit, der selbst proletarischer Herkunft war und "von der Pike auf" als Funktionär für die Interessen der Arbeiter eintrat. Als Marxist war er dabei überzeugt, dass das unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise nur bedingt möglich und damit nur über grundsätzliche Gesellschaftsveränderung zu erreichen war. Die entscheidende gesellschaftliche Kraft dafür sah er in den Arbeitnehmerorganisationen. Brenners Biografie ist insofern auch ein Stück Organisationsgeschichte der IG Metall, des DGB und anderer Arbeitnehmerorganisationen, durch das sich Schnittstellen zur deutschen Politik- und Gesellschaftsgeschichte ergeben. So kann auch sein rascher, innerhalb weniger Jahre erfolgter Aufstieg vom Bezirksleiter zum gleichberechtigten und schließlich alleinigen Vorsitzenden der IG Metall erklärt werden. Der gewerkschaftliche Kontext (Mitbestimmung, Arbeitszeitverkürzung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und so weiter) und Brenners Eingriffe in die politischen Debatten der Bundesrepublik machen ihn zu einer historischen Persönlichkeit, die Spuren hinterlassen hat. Er war Visionär und Realist, der die Gesellschaft verändern wollte – eine soziale Demokratie jenseits des Kapitalismus.

Jens Becker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt a.M. Er ist – gemeinsam mit Harald Jentsch – Autor einer Biografie über Otto Brenner. 2001 hat er zudem eine Biografie über Heinrich Brandler (Hamburg 2001) vorgelegt.

[1] Jens Becker/Harald Jentsch, Otto Brenner. Eine Biografie, Göttingen 2007; Dies. (Hrsg.), Otto Brenner, Ausgewählte Reden und Schriften 1947-1971, Göttingen 2007.
[2] Peter von Oertzen, Zwischen Tradition und Modernisierung – Otto Brenner und die moderne Gewerkschaftsbewegung, in: Visionen lohnen. Politisch-wissenschaftlicher Kongress der Otto Brenner-Stiftung und Festveranstaltung der IG Metall zu Ehren Otto Brenners in Hannover, 6.-8. November 1997, Frankfurt am Main 1997, S. 95-122 (95f.)
[3] Otto Brenner, Maiansprache 1963 in Berlin, in: FES/AdsD, 5/IGMA45072151.
[4] Otto Brenner, Gewerkschaftliche Dynamik in einer sich wandelnden Welt, Frankfurt am Main 1971, S. 210.
[5] Otto Brenner, Allgemeine gewerkschaftspolitische Lage, Rede vor dem IGM-Beirat, Frankfurt am Main, 12.10.1966, in: FES/AdsD, 5/IGMA45072171.

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