1. Februar 2006 Maximilian Fuhrmann

Vom Kampf ums Trinkwasser in die Regierungsverantwortung

"Ab Morgen beginnt ein neuer Abschnitt in der Geschichte Boliviens. Eine Geschichte, in der wir Gleichberechtigung, Gleichheit, Frieden und soziale Gerechtigkeit sehen werden", rief Evo Morales am Wahlabend des 18. Dezember 2005 seinen Anhängern in Cochabamba zu. Ohne Zweifel hat der Sieg des Präsidentschaftskandidaten der "Bewegung zum Sozialismus" (MAS), die 53,7% der Stimmen erhielt, eine historische Dimension.

Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes bekleidet ein Vertreter der indigenen Bevölkerung, der sich 68% aller BolivianerInnen zugehörig fühlen, das höchste Staatsamt. Die Erwartungen in der Bevölkerung sind sehr groß, schnelle Reformen zur Verbesserung der miserablen Lebenssituation werden gefordert. Wie diese konkret aussehen, ist noch unklar. Morales beteuerte im Wahlkampf, sich von dem seit 1985 in Bolivien praktizierten neoliberalen Kurs zu verabschieden, um die Interessen der ärmeren Schichten, die ihn zum großen Teil gewählt haben, zu vertreten. Dieses Versprechen muss er in den sensiblen Konfliktfeldern Gas, Coca, Land und Wasser umsetzen. Viel zu verteilen hat das "Armenhaus Südamerikas" an seine 9,4 Mio. Einwohner zurzeit jedoch nicht.

Der Wahlsieg von Morales wird vorschnell mit der Revolution von 1952 verglichen, in deren Folge eine halbherzige Agrarreform durchgeführt wurde und sich eine starke Gewerkschaftsbewegung etablieren konnte. Der von der revolutionären nationalen Bewegung (MNR) angeführte Umsturz hatte jedoch keine Emanzipation der breiten Bevölkerung zur Folge. Von 1964 bis 1982 regierten nahezu durchgehend Militärs, die das Land gnadenlos ausbeuteten und die Verschuldung explodieren ließen, um ihre Lobbygruppen und Familiennetzwerke zu bedienen. So fand die 1982 gewählte Mitte-Links-Regierung ein wirtschaftlich zerstörtes Land vor. Auch wenn die Inflation die letzten Jahre stabil auf einem niedrigen Niveau blieb, ist Bolivien stärker denn je von internationalen Geldgebern abhängig, um die elementarste Versorgung der Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Wieso hat ein ressourcenreiches Land wie Bolivien Probleme, die Angestellten des öffentlichen Dienstes zu bezahlen? Die Hauptursache ist in den seit 1985 durchgeführten neoliberalen Strukturanpassungsmaßnahmen zu sehen.

Neoliberale Radikalkur

Mit der 1985 vom ehemaligen Revolutionsführer von 1952, Estenssoro (MNR), eingeleiteten "Neuen Wirtschaftspolitik" schlug Bolivien einen strikt neoliberalen Kurs ein, den das "Musterland der Reformen" bis zum heutigen Tag verfolgt. Durch die Schließung eines Großteils der staatlichen Minen, die Lockerung des Kündigungsschutzes und andere Liberalisierungsmaßnahmen, in deren Gefolge 65.000 Menschen ihren Arbeitsplatz verloren, wurde das soziale Gefüge des Landes nachhaltig verändert. So verlor der Gewerkschaftsbund (COB) viel an gesellschaftlichem Einfluss, während sich im östlichen Tiefland die relativ prosperierende Stadt Santa Cruz durch Zuzug aus dem verarmten Hochland rasch vergrößerte. Eine "Revolution von oben" erlebte das Land unter der Regierung Sánchez de Lozada (1993 bis 1997), der die "zweite Generation" der neoliberalen Reformen leitete. So veräußerte Bolivien innerhalb kürzester Zeit nahezu alle wichtigen Staatsbetriebe (Fluglinie, Telekommunikation, Elektrizität, Eisenbahn- und Ölgesellschaft). Sánchez de Lozada erfreute sich gleichwohl bis zum Ende seiner Amtszeit einer relativ hohen Anerkennung in der Bevölkerung, da er durch ein vergleichsweise progressives Gesetz der Volksbeteiligung und Dezentralisierung sowie die Ernennung eines Indigena zum Vizepräsidenten, die Sympathien vieler BolivianerInnen, aber auch des internationalen linksliberalen Spektrums genoss. Die hohen Kosten der kurzfristigen Stabilität, wie der Ausverkauf der nationalen Ressourcen und staatlichen Unternehmen, oder der Verlust des finanziellen Handlungsspielraums, wurden erst in der Regierungszeit des Ex-Diktators Hugo Banzer (1997-2002) deutlich. So war diese von Stagnation geprägte Regierungsphase durch innere Unruhen und das Erstarken der sozialen Bewegungen gekennzeichnet. Für den schwer erkrankten Hugo Banzer, der als Militärdiktator für den Tod von 200 Menschen verantwortlich war, übernahm der aktuelle Präsidentschaftskandidat der Konservativen, Jorge Quiroga, in den letzten Monaten der Legislaturperiode die Regierungsgeschäfte. 2002 trat Sánchez de Lozada seine zweite Amtszeit an, die jedoch nur ein Jahr dauern sollte.

Vom Cocabauer zum Präsidenten Boliviens

Ende der 1990er Jahre betrat Evo Morales, erstmals die politische Bühne. 1997 wurde er als Direktkandidat der Cocaanbauregion "Chapare" ins Parlament gewählt wurde. Durch die repressive "Null-Coca-Strategie" der Regierung Banzer/Quiroga entstand eine starke Gewerkschaftsbewegung der Cocabauern, die sich vor allem aus ehemaligen MinenarbeiterInnen zusammensetzte, die sich nach den Strukturanpassungsplänen 1985 in den Tälern Cochabambas niedergelassen hatten. Etwa zur gleichen Zeit entwickelte sich im Hochland in der Region La Paz eine kampfstarke und radikale Bewegung der Aymara, die sich gegen die Diskriminierung und Armut der indigenen Bevölkerung erhob. Ihr Vorsitzender und ehemaliger Guerillakämpfer Filipe Quispe, der Anfang der 1990er Jahre fünf Jahre im Gefängnis saß, führt einen sehr polarisierenden ethnisch geprägten Kampf. Seine Partei, die "indigene Bewegung Pachacuti" (MIP), zog 2002 mit 6,1% der Stimmen ins Parlament ein.

Die vielen sozialen Organisationen der LehrerInnen, RentnerInnen, Nachbarschaftsorganisationen, indigene BäuerInnen sowie StudentInnen bündelten ihre Kräfte erstmals im April 2000, um gegen die Privatisierung des Trinkwassers von Cochabamba zu protestieren. Provoziert durch Preissteigerungsraten von 30 bis 300% sowie ein Verbot der Nutzung gemeinschaftlicher Brunnen, was einer Privatisierung des Regenwassers gleich kam, fanden in der drittgrößten Stadt des Landes Auseinandersetzungen zwischen bis zu 100.000 DemonstrantInnen und den staatlichen Repressionsorganen statt, die einen Toten und etliche Verletzte forderten. Auf Grund des großen Drucks musste die Regierung die Privatisierungsgesetze zurücknehmen, was die Aufstände zu einem positiven Identifikationspunkt der sozialen Bewegungen werden ließ. Der Soziologe Álvaro García Linera stellte fest, dass "Gesetze außerhalb des Parlaments von den sozialen Bewegungen annulliert oder modifiziert wurden", und wertet diese Ereignisse als Geburtsstunde einer starken sozialen Bewegung, die das Land nicht mehr zur Ruhe kommen ließ.

Einen weiteren Meilenstein in der Festigung der sozialen Bewegungen bildeten die Wahlen 2002. Die Hegemonie der "traditionellen Parteien" ADN, MNR und MIR, die seit 1985 ungefährdet regierten, geriet ins Wanken, als MAS und MIP zusammen knapp 30% der Wählerstimmen für sich gewannen und so eine ernstzunehmende oppositionelle Kraft im Parlament etablierten. Erstmals werden dort seitdem die indigenen Sprachen Aymara und Quetchua gesprochen.

Der Höhepunkt der Auseinandersetzungen fand im Oktober 2003 im Regierungssitz La Paz und der angrenzenden Armenstadt El Alto statt, als der ehemals hoffnungsvolle Reformer Sánchez de Lozada aus dem Land gejagt wurde. Seine Pläne, Erdgas über Chile – das seit dem Salpeterkrieg 1879/1880, durch den Bolivien seinen Meerzugang verlor, als Erzfeind gilt – zu exportieren, führte zur Explosion der angestauten Wut der Bevölkerung. So entwickelte sich über die national bedeutungsvollen und aufgeheizten Themen "Gas" und "Chile", eine große soziale Bewegung, die ausgehend von der 800.000 Einwohner zählenden Stadt El Alto durch Straßenblockaden und Streiks das Land lahm legte. Als sich Sánchez de Lozada entschloss, die Blockaden mit Waffengewalt aufzulösen, forderten neben den indigenen Bewegungen auch die Mittelschichten und Städter den Rücktritt des Präsidenten, der dann am 17. November 2003 mit seiner Privatmaschine das Land verließ. Der "Schwarze Oktober" forderte mehr als 70 Tote. Da die "traditionellen Parteien" bis zuletzt zu Sánchez de Lozada hielten, verloren sie endgültig ihren Rückhalt in der Bevölkerung, lösten sich auf oder versanken in der Bedeutungslosigkeit. Viele ihrer Ideen und Mitglieder fanden jedoch in der konservativen Sammelpartei "Demokratische und Soziale Kraft" (PO.DEMO.S) von Jorge Quiroga, die erstmals zu den Wahlen 2005 antrat, eine neue politische Heimat.

Nach der Flucht Sánchez de Lozadas übernahm der parteilose Carlos Mesa die Amtsgeschäfte und startete mit einer "Oktoberagenda", die ihm die sozialen Bewegungen auferlegten. Darin wurden die sofortige Verstaatlichung der Erdgasreserven und die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung gefordert. Zu Beginn gelang es Mesa die MAS von Evo Morales einzubeziehen, was das Erstarken einer konservativen-separatistischen Bewegung im östlichen Tiefland Boliviens zur Folge hatte. Die protestierenden Gruppen aus Großgrundbesitzern und Unternehmern befürchteten durch eine Änderung der Verfassung einen Verlust ihrer jahrelangen Privilegien und setzten sich an die Spitze einer Bürgerbewegung für mehr Autonomie der reichen Provinzen Tarija und Santa Cruz. Auf der anderen Seite blockierten indigene Gruppen im Hochland die Straßen mit der Forderung nach sofortiger Verstaatlichung der Gasreserven. Mesa versuchte den Spagat zwischen den polarisierten gesellschaftlichen Blöcken, was dazu führte, dass er kaum nennenswerte Reformprojekte voranbrachte, bis die Geduld der sozialen Bewegungen im Juni 2005 erschöpft war und auch Mesa unter dem Druck der Straße zurücktreten musste.

Morales übernimmt nach seiner Vereidigung am 23. Januar 2006 ein tief gespaltenes, mit fast 5 Mrd. US-Dollar verschuldetes und im höchsten Maße vom Ausland abhängiges Land. Drei zentrale Problemfelder gilt es dabei zu beachten.

Druck aus dem eigenen Lager

Die Linke Boliviens stellt ein sehr heterogenes Feld mit vielen einflussreichen FührerInnen dar, die versuchen werden, ihr Profil und ihren Einfluss zu wahren, indem sie die neue Regierung unter Druck setzen. Zusätzlich steht die MAS intern unter Spannung, da ihr Spektrum von eher sozialdemokratisch-städtischen Mitgliedern der "Bewegung ohne Angst" (MSM) des Bürgermeisters von La Paz bis hin zu radikalen Gruppen reicht. Letztere konnten durch die Nominierung des aus Mexiko stammenden Soziologen und Mathematikers Álvaro García Linera zum Vizepräsidenten, der gemeinsam mit Filipe Quispe in der indigenen Guerillabewegung kämpfte, eingebunden werden. Die kritischen Kräfte, wie die Nachbarschaftsorganisation in El Alto (FEJUVE), die sich vor der Wahl entschlossen gegen Morales gestellt hat, könnten schnell weiteren Zulauf finden, wenn Morales den Forderungen nach einer Verstaatlichung der Erdgasreserven nicht glaubhaft nachkommt. Jaime Solares, der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes COB hat ihm bereits ein Ultimatum von 100 Tagen für die Enteignung aller Gasunternehmen gestellt. Wegen seiner Zusammenarbeit mit Carlos Mesa und der Unterstützung des unhaltbaren Referendums über das Gas in Juni 2004, stehen viele VertreterInnen der sozialen Bewegungen dem neuen Präsidenten sehr misstrauisch gegenüber.

Druck von rechts

Mit Zurückhaltung und Distanz haben die konservativen Schichten der Großstädte und der östlichen Landesteile den Wahlsieg der MAS zur Kenntnis genommen. Jorge Quiroga, der mit seiner neuen Partei PO.DEMO.S als Kandidat der Rechten 28,6% der Stimmen auf sich vereinen konnte, hat Morales sofort zum Sieg gratuliert. Die Spannung zwischen den gesellschaftlichen Blöcken ist damit aber noch lange nicht aufgelöst. Allerdings sind die Stimmen, die noch im Juni 2005 einen Militärputsch prophezeiten, leiser geworden. Die Autonomiebestrebungen der rohstoffreichen Regionen Santa Cruz und Tarija werden sicherlich zunehmen. Mit einer Demonstration im Januar 2005, an der 300.000 Menschen teilnahmen, zeigte die Rechte ihr enormes Mobilisierungspotenzial, auch wenn Unternehmen durch die Entsendung ihre kompletten Belegschaften die Zahl der DemonstrantInnen nach oben getrieben haben. Eine Konsequenz der Januarproteste ist, dass die Provinzen ihre Präfekten nun erstmals selbst wählen können. Und: In den neun Regionen haben mehrheitlich KandidatInnen der oppositionellen Kräfte gewonnen. Gerade im Tiefland stehen Morales nun starke RegionalvertreterInnen und einflussreiche gesellschaftliche Gruppen gegenüber. Auch wenn die MAS den Versuch unternommen hat, die Unternehmerschichten durch ihr Konzept eines "andinen Kapitalismus" zu beruhigen, gilt ein Auseinanderbrechen des Landes als reale Gefahr, die zu verhindern von Morales viel Geschick und Durchsetzungsvermögen verlangt. Er beteuert, Unternehmen nicht enteignen zu wollen, weiß aber, dass ihm bei einer Erfüllung des Wahlversprechens zur Verstaatlichung der Erdgasreserven ein starker Ostwind ins Gesicht blasen wird.

Schlüsselfrage Gas

Das Thema Gas ist durch die Aufstände im Oktober 2003 mit den über 70 Todesopfern sehr aufgeladen und von großer Bedeutung für die ganze Bevölkerung. Zu Beginn der Amtszeit von Carlos Mesa zeigte sich Morales als verlässlicher Partner und forderte eine Erhöhung der Abgaben von 18% auf 50% für das Gas ab Bohrloch. Ein sehr ähnlicher Gesetzesentwurf (Ley de Hidrocarburos 3058) wurde nach langem Hin und Her vom Parlament am 19. Mai 2005 verabschiedet. Bis zum 15.11.2005 hätten alle 71 laufenden Verträge nachverhandelt werden müssen, was aber bisher in keinem der Fälle tatsächlich geschehen ist. Im Wahlkampf gab Morales der Forderung der Bevölkerung nach und nahm die Verstaatlichung des Erdgases in sein Regierungsprogramm auf. Wie wird Morales weiter verfahren? Während seiner Europareise Anfang Januar beteuerte er: "Wir werden keine Unternehmen konfiszieren, hinauswerfen oder enteignen." Er möchte die transnationalen Konzerne "als Mitgesellschafter und nicht als Eigentümer der natürlichen Ressourcen und des Schicksals Boliviens" mit ins Boot holen. Die spanische Regierung warnt Morales vor illegalen Enteignungen, da der spanische Konzern Repsol fast 50% der Förderrechte in Bolivien besitzt. Wahrscheinlich baut der zukünftige Präsident auf die Einführung gemischter Unternehmen, an denen die Konzerne mit laufenden Investitionen und ihrem Know-how beteiligt sind, jedoch weniger als 50% der Anteile besitzen. Erste Signale kamen von einem Treffen mit Vertretern der brasilianischen Ölgesellschaft Petrobras, die 46% der Erdgasreserven und 100% der bolivianischen Benzinproduktion kontrolliert, dem brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio "Lula" da Silva, sowie Morales am 13. Januar 2006 in Brasilia. Morales garantierte die Sicherheit der Investitionen und versicherte, keine Gesetze ohne Verhandlung zu kündigen. Auf der anderen Seite versprach der Vorsitzende von Petrobras José Sergio Gabrielli die laufenden Verträge dem neuen Gesetz anzuspassen: "Ich glaube nicht, dass Unternehmen Bolivien verlassen werden … Alle werden sich an den Verhandlungstisch setzen". Des Weiteren ist die Gründung einer gemischten Firma aus dem staatlichen bolivianischen Öl- und Gasunternehmen YPFB und Petrobras geplant. Diese Verhandlung könnte richtungweisend sein und andere Unternehmen zwingen, ihrem Beispiel zu folgen. Wie sich das neue gemischte Unternehmen zusammensetzt, ob sich, wie in der Vergangenheit, unternehmensfreundliche Klauseln in den Verträgen verbergen, dies zu kontrollieren, bleibt die Aufgabe wachsamer PolitikerInnen und kritischer Bewegungen auf der Straße. Noch ist nicht klar, wie sich die Gewerkschaften und Organisationen in El Alto zu dem relativ zuvorkommenden Kurs von Morales gegenüber den Unternehmen, verhalten werden.

Folgen für Lateinamerika

Die internationalen Reaktionen auf den überraschend klaren Wahlsieg Morales waren – wie zu erwarten – sehr gemischt. Aus Washington gab es nur eine kurze förmliche Erklärung, während der venezolanische Präsident Hugo Chávez frohlockte und seinem Freund Evo Morales monatliche Diesellieferungen und ein Geschenk von 30 Mio. US-Dollar nach seiner Vereidigung in Aussicht stellte. Die erste Auslandsreise nach der Wahl führte Morales zunächst zu den Neujahrsfeierlichkeiten in Kuba, anschließend flog er nach Venezuela. Auf seiner Europareise Anfang Januar hatte er einen schwereren Stand. Die spanische Regierung kündigte Evo Morales während seines Besuchs zwar die Streichung von 120 Mio. US-Dollar Auslandsschulden an, forderte aber zugleich Garantien für spanische Unternehmen. Während ihn Jacques Chirac und Javier Solana ermahnten, die Rechtssicherheit der Unternehmen zu wahren, ließen sich höhere Diplomaten in Brüssel urlaubsbedingt entschuldigen. Freundlichere Worte tauschte Morales mit VertreterInnen der Regierung in China aus, die er als "politisch und ideologisch verbündet" erachtete. Auch in Kapstadt warb er für die Ausdehnung der bilateralen Beziehungen.

Schon vor seiner Vereidigung machte Morales klar, auf welche Partner er in Zukunft baut: Mit der Unterstützung Argentiniens, Brasiliens, Venezuelas und Uruguays wird er versuchen, die lateinamerikanische Zusammenarbeit zu forcieren, um sich aus der Abhängigkeit von den USA zu lösen. Die immer wichtiger werdenden Süd-Süd-Beziehungen zwischen Lateinamerika, Südafrika, Indien und China werden Teil dieses Plans sein. In Europa sieht man die Entwicklung hingegen skeptisch. Wolfram Klein, stellvertretender Referatsleiter für Zentralamerika im Bundesministerium für Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), kündigte auf einer Konferenz im November 2005 in Köln an, dass "man überlege im Falle eines Wahlsieges von Evo Morales, die Zusammenarbeit mit Bolivien einzustellen". Über wirtschaftliche Konsequenzen wurde auch schon im europäischen Parlament beraten, als im Januar 2005 Präsident Mesa nach heftigen Protesten ankündigte, den Vertrag mit "Aguas de Illimani", Teil der französischen Suez-Gruppe, aufzulösen. Mehr als je zuvor ist Bolivien von externer Finanzhilfe abhängig, die 10% des BIP und 70% der Sozialausgaben ausmacht. Ein Großteil davon fließt aus den USA, Japan und Europa. Dies wird Morales dazu zwingen, die europäischen Mahnungen ernst zu nehmen. International für Aufsehen sorgte seine Ankündigung, den Anbau des Cocablattes zu legalisieren. Die USA befürchten einen gleichzeitigen Anstieg der Kokainproduktion, während Morales die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten als Heil- und Nutzpflanze vermarkten möchte.

Auch wenn Bolivien ein wirtschaftlich nicht sehr gewichtiges Land ist, stellt der deutliche Sieg der MAS eine wichtige Etappe auf dem Weg zu einer neuen Qualität lateinamerikanischer Integration dar. Genau 20 Jahre nach der Einführung der "Neuen Wirtschaftspolitik", die den Beginn der neoliberalen Strukturanpassungen markierte, hat Bolivien die große Chance, aus dieser Logik auszubrechen. Morales muss sich an der Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung messen lassen, denn sonst könnten ihm neben den konservativen Bewegungen auch Teile der Linken Probleme bereiten.

Maximilian Fuhrmann ist Student der Soziologie und Friedens- und Konfliktforschung an der Uni Marburg; 2004/2005 längerer Forschungsaufenthalt in Bolivien; letzte Veröffentlichung: Fuhrmann, Max: "Bolivien: Soziale Bewegungen brechen den neoliberalen Konsens", in: Boris, Dieter/Tittor, Anne/ Schmalz, Stefan (Hrsg.): Lateinamerika: Verfall neoliberaler Hegenomie?, Hamburg 2005.

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