1. Januar 2006 Kilian Stein

Vom Niedergang bürgerlicher Werte

In der öffentlichen Debatte über das Verhalten der Bundesregierung zu Aktivitäten des CIA bleibt ein Umstand unbelichtet: die strafrechtliche Mitverantwortlichkeit der "rot-grünen" Regierung.

Es wird viel darüber gesagt und geschrieben, dass die Praxis der "Überstellung" von Terrorverdächtigen durch die CIA nach Afghanistan, Ägypten, Syrien und wo es sonst noch Subunternehmen der USA für Folter gibt, einen Bruch deutschen Rechts darstellt, soweit der CIA dafür deutsches Gebiet oder deutschen Luftraum nutzt. Die Staatsanwaltschaft Zweibrücken hat denn auch im Fall des Ägypters Abu Omar - von der CIA in Mailand gekidnappt, auf der Airbase Ramstein in ein anderes Flugzeug gebracht, um nach Ägypten, dem wohl brutalsten der von den USA in Dienst genommenen Folterstaaten, gebracht zu werden - ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannt, faktisch gegen CIA-Angehörige, eingeleitet.[1] Es wird auch erörtert, was die Bundesregierung gegen jene Praxis hätte unternehmen können oder gar müssen. Aber davon, dass zwingend gegen Mitglieder der Bundesregierung und andere Verantwortliche von Amts wegen ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren einzuleiten wäre, ist noch weniger die Rede als im Fall der Beteiligung der Bundeswehr an dem völkerrechtswidrigen Krieg in Jugoslawien.[2] Wie selbstverständlich findet sich keine Staatsanwaltschaft, die, dem Legalitätsgrundsatz folgend, diesen Schritt tun würde. Dabei gibt es massive sachliche Anhaltspunkte für schwerste strafrechtliche Verfehlungen von Ministern und anderen Amtsträgern. Die neue Bundesregierung bekennt sich zu den Rechtsbrüchen und lässt keinen Zweifel aufkommen, dass sie damit fortfahren wird.

Art. 104 Abs. 1 des Grundgesetzes enthält die Grundsatzentscheidung, dass auf deutschem Gebiet und Luftraum keine durch Parlamentsgesetz nicht geregelte Freiheitsentziehung stattfinden darf, gleichgültig welche Nationalität Täter und Opfer haben. Eine unmittelbare gesetzliche Befugnis für "Überstellungen" durch den CIA gibt es nach deutschem Recht selbstredend nicht. Sollte der BND oder eine andere Behörde in Einzelfällen oder allgemein ihr Einverständnis erklärt haben, ist das ohne rechtliche Wirkung, denn dafür gibt es keine Rechtsgrundlage. Es wird denn auch wohl von niemand in Zweifel gezogen, dass die "Überstellungen" auf deutschem Territorium durch den CIA den Tatbestand der Freiheitsberaubung erfüllen (§ 239 StGB). Es kommt sogar ein qualifizierter, mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren bedrohter Fall der Freiheitsberaubung in Betracht, da die Opfer des CIA länger als eine Woche ihrer Freiheit beraubt waren oder durch Folter während der Freiheitsberaubung eine schwere Gesundheitsschädigung, wenn nicht den Tod, erlitten haben dürften (§ 239 Abs. 3 und 4 StGB).

Für diese Taten ist die deutsche Regierung und der BND strafrechtlich mitverantwortlich. Mitglieder eines staatlichen Organs, die von einer "Überstellung" wussten und diese nicht verhindert haben, obwohl sie dazu in der Lage waren - notfalls durch Unterbinden des Fluges - sind nach der bestehenden Strafrechtsdogmatik Mittäter der Freiheitsberaubung, da sie als Garant der grundgesetzlich geschützten Freiheit der Person zu einem Einschreiten verpflichtet waren. Die gegenseitige militärische Beistandspflicht nach dem Nato-Vertrag kann die Bundesrepublik nicht von dieser Verpflichtung befreien. Der Vertrag ist nicht einmal einschlägig, weil der CIA für die Verbringung von Gefangenen gecharterte Zivilflugzeuge benutzt. Die Regierung beruft sich auf Unwissen. "Was die Amerikaner auf ihren Air Bases machen, ist ganz weitgehend ihre Sache", sagt der SPD-Politiker Wiefelspütz. Deutschland übe keinerlei Kontrolle aus, "wer da an Bord ist und was die Ladung ist. Das ist von uns auch so gewollt."[3] Die Devise ist also: nichts fragen, nichts sagen. Die US-Dienststellen informieren offiziell nicht über ihre Aktivitäten. Die Bundesregierung tut so, als sehe und wisse sie nichts, stellt offiziell keine Fragen und will auch gar keine Antworten hören. Anders gesagt: Sie ist über die einzelnen Fälle von "Überstellung" wohl tatsächlich nicht informiert, wusste und weiß aber mit großer Gewissheit – vermittelt über die immer wieder hervorgehobene vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen BND und CIA – von der Praxis der "Überstellungen" auf deutschem Hoheitsgebiet. Durch den genannten Fall Abu Omar ist sie zudem durch Augenschein davon unterrichtet. Für einen dringenden Verdacht auf vorsätzliche Freiheitsberaubungen und unterlassene Hilfeleistungen müsste das jedem Staatsanwalt genügen. Aber nichts geschieht. Wenn deutsche Ermittlungsbeamte in einer syrischen Folteranstalt den Gefangenen Zammar und in Guantanamo einen anderen Verdächtigen unter der Bedingung drohender weiterer Folterung vernahmen, so müssten sich sie und ihre Auftraggeber wegen Körperverletzung im Amt und Nötigung von Rechts wegen strafrechtlich verantworten. Stattdessen rechtfertigt Innenminister Schäuble – trotz formellem Festhalten am Folterverbot – diese Vernehmung von Gefolterten und demonstriert damit, wie weit der Verfall bürgerlicher Werte auch bei den Christdemokraten bereits vorangeschritten ist: "Wenn wir sagen würden, Informationen, bei den wir nicht sicher sein können, dass sie uns unter vollkommen rechtstaatlichen Bedingungen zu erlangen waren, nutzen wir unter keinen Umständen – das wäre völlig unverantwortlich." Gegen diese Sichtweise erhebt selbst die FAZ Protest.[4] Aber auch hier werden die Strafverfolgungsbehörden untätig bleiben. Diese Fälle markieren eine bereits im Zusammenhang mit der so genannten Folterdiskussion erkennbare Tendenz, Foltern bei bestimmten Umständen akzeptabel zu machen. Schließlich ist die Folterroutine der USA nicht durch eine moralische Verkommenheit des politischen Führungspersonals verursacht, auch nicht dadurch, dass es in diesem Land besonders viele üble Menschen gibt. Sie ist vielmehr Teil der Logik einer auf Gewalt setzenden Außenpolitik, die Gegengewalt erzeugt, zum Teil auch perverse und irrationale Gegengewalt, die wiederum Gewalt hervorbringt, einen förmlichen "Krieg gegen den Terror" inklusive massenhaft praktizierter Folter seit dem 11. September 2001. Auf dieser schiefen Ebene bewegt sich auch die Republik (siehe Schäuble).

Durch den Umgang mit der untergegangenen DDR erhält das alles eine besondere Pikanterie. "Unrechtsstaat" war gewiss eine demagogische Charakterisierung des Staates DDR. Aber richtig ist, dass die DDR kein sozialistischer Rechtsstaat war. Die politischen Instanzen scherten sich nicht um verfassungsrechtliche und gesetzliche Vorgaben, wenn es ihnen politisch nicht passte. Diese Bindung an Verfassungsrecht und Gesetz macht, neben inhaltlichen Vorgaben, auch den liberalen Rechtsstaat und die bürgerliche Demokratie aus. Die Bundesrepublik zieht nach. Zusehends zerbröckelt im "Kampf gegen den Terror", wie der Generalnenner der Sicherheitspolitik heißt, das rechtsstaatliche Gefüge.[5] Die bürgerlichen Grundwerte werden peu à peu zur Disposition gestellt und der Aufschrei gegen den Demokratieabbau hält sich in Grenzen. Die bürgerlichen Parteien, ob christdemokratisch oder "liberal", marschieren dabei mit immer neuen Vorschlägen voran: So soll jetzt auch der Einsatz der Bundeswehr im Inneren möglich und Migranten der Eid auf die freiheitlich demokratische Grundordnung in "öffentlichen Einbürgerungsfeiern" abverlangt werden. Die Affäre um die Aktivitäten des CIA in Deutschland gehört in diesen Zusammenhang.

Kilian Stein, ehem. Richter, lebt in Berlin.

[1] Der Spiegel vom 12.12.05, 126ff.
[2] Ein Beispiel für das Ausklammern dieser Frage ist der an sich informative Artikel von Georg Nolte, "With a little help from my friends?", FAZ vom 17.12.05
[3] Spiegel Online, 25.11.05
[4] FAZ vom 15.12.05
[5] Vgl. Rolf Gössner, "Sieben magere Jahre für die Bürgerrechte", in: Joachim Bischoff u.a., Schwarzbuch Rot-Grün. Von der sozial-ökologischen Erneuerung zur Agenda 2010, Hamburg 2005, S. 52-66.

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