19. Dezember 2019 Max Lill: Demokratisches Charisma und politisch-kulturelle Polarisierung
Vom Stigma zur Gegenmacht
Greta Thunbergs Rede auf dem UN-Gipfel am 23.9.2019 erlangte aus gutem Grund sofort ikonischen Status. Aus einer dem politischen Alltagsgeschäft weit enthobenen Perspektive epochaler Zeitlichkeit heraus vollzog sie einen Bruch, der nicht mehr zu kitten sein dürfte: »The eyes of all future generations are upon you. We will not let you get away with this. Right here, right now, is where we draw the line.«
Die Wirkung dieser Worte erklärt sich nicht allein aus ihrer rhetorischen Kraft oder der bebenden Unmittelbarkeit, mit der sie von einer bis zum Beginn des Schulstreiks im September 2018 buchstäblich sprachlosen Außenseiterin vorgetragen wurden. Ähnlich beeindruckende Auftritte, auch von Jugendlichen, hatte es bei vergleichbaren Anlässen durchaus schon früher gegeben. Was der kurzen Ansprache in der kalten Atmosphäre des New Yorker Konferenzsaales einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern dürfte, ist die Tatsache, dass sie wenige Tage nach den Massendemonstrationen des »global strike« präzise ein historisches Momentum traf: Für Viele im Umfeld von Fridays for Future, die anfangs geradezu habermasianisch auf die Macht des rationalen Arguments wissenschaftlicher Evidenz gehofft hatten, markierte Gretas Fluch (»we will never forgive you!«) eine politisch identitätsstiftende Erfahrung zwischen Fassungslosigkeit, wachsender Verzweiflung und kollektivem Selbstbewusstsein.
Und als sich Angela Merkel nur Minuten später an selber Stelle ungerührt für ihr in Expertenkreisen zu diesem Zeitpunkt bitteren Spott erntendes »Klimapaket« als Vorreiterin einer Nachhaltigkeitswende feiern ließ, während Trump hämisch twitterte, was für ein glückliches Mädchen die Schwedin doch sei, da war das Schauspiel der Dissoziation auch von der Gegenseite her abgerundet worden. Die Systemfrage stand im Raum – nicht bloß als sachlich begründete Forderung, sondern als Überlebensnotwendigkeit und moralisches Verdikt über jene, die sich für die falsche Seite der Geschichte entscheiden.
Der Wirbel um Greta, der sich auch während der COP25 in Madrid weiter aufschaukelte, ist Teil einer schon länger beobachtbaren Tendenz: Nicht nur die auftrumpfende Rechte, sondern auch die progressiven Gegenbewegungen bündeln ihre von Fragmentierung geschwächten Kräfte durch den Bezug auf verbindende Symbolfiguren, die starke kollektive Gefühle mobilisieren und mit deren Überraschungserfolgen sich signifikante Verschiebungen im öffentlichen Diskurs verbinden. Trump, Salvini, Bolsonaro und Johnson einerseits, Corbyn, Sanders, Ocasio-Cortez und Thunberg andererseits verkörpern – bei denkbar konträren Zielen und Haltungen – Gegenentwürfe zur technokratischen Verwaltung des Status quo durch Anti-Charismatiker*innen wie Merkel, Scholz und Kramp-Karrenbauer. Während letztere durch demonstrative Langeweile die Öffentlichkeit sedieren, entfesseln die neuen Charismatiker*innen politische Leidenschaften für radikalen Wandel.
Damit aktualisiert sich ein altes Muster: Charismatische Bewegungen treten verstärkt in Zeiten von Krise und Not, von latenter Anomie und Umbruch auf.[1] Während tradierte Institutionen, Machtblöcke und Lebensweisen erodieren, verdichtet sich die Polarisierung der Lager in besonders energisch agierenden Personen.[2] Diese handeln demonstrativ jenseits der etablierten politischen Kultur und verstärken damit rückwirkend auch langfristig gewachsene, bis dato aber eher untergründige Einstellungen und Praxen der jeweiligen Anhängerschaft – in Gretas Fall etwa die unter Jugendlichen wachsende Sorge über die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und eine gestiegene Bereitschaft zum Engagement bei gleichzeitiger Frustration über die Parteien. Charismatiker*innen wirken so als »katalytische Persönlichkeiten«: als symbolische Knotenpunkte in einem System mobilisierter Beziehungen, das latente Kritiken, Ansprüche und Solidaritäten in rituelles und politisches Handeln übersetzt.
Das kann historische Weichenstellungen entscheidend beeinflussen.
Max Lill ist Sozialwissenschaftler und lebt in Berlin.
[1] Vgl. Wilfried Nippel (Hrsg.): Virtuosen der Macht. Herrschaft und Charisma von Perikles bis Mao, München 2000.
[2] In der BRD ist dieser Prozess weniger vorangeschritten als etwa in Großbritannien und den USA. Das Zutrauen in die Handlungsfähigkeit von Regierung und Staat ist laut Institut für Demoskopie Allensbach in den letzten vier Jahren aber auch hier »erdrutschartig verfallen«. Es dominiert die Wahrnehmung eines beunruhigenden Machtvakuums angesichts von »Führungslosigkeit und Planlosigkeit« bei den etablierten Parteien. Vgl. Renate Köcher: Erosion des Vertrauens, in: FAZ, 20.11.2019: 10.