1. Juli 2000 Bernd Riexinger

Von der Krise in die Sackgasse

Man kann trefflich darüber streiten, ob Verläufe und Ergebnisse der diesjährigen Tarifrunden (soweit sie abgeschlossen sind) der vorläufig traurige Höhepunkt einer längeren politischen Entwicklung oder der Beteiligung am Bündnis für Arbeit geschuldet sind. Man muss wohl beides annehmen. Das schnelle Ende der von Zwickel im letzten Jahr ausgegebenen Parole vom »Ende der Bescheidenheit« führt von der Krise der Gewerkschaften geradewegs in die Sackgasse, und auf diesem Weg zu weiterem Mitglieder- und Ansehensverlust.

Der von der IGBCE vorgezeichnete und von der IGM im Wesentlichen nachgezeichnete Weg steckte den Rahmen auch für die anderen Gewerkschaften ab. Dass es einigen kleineren Gewerkschaften – der NGG in der Baden-Württembergischen Getränkeindustrie oder der hbv für den Groß- und Außenhandel ebenfalls in BaWü – gelungen ist, reine Gehaltsabschlüsse von 3% und mehr mit einjähriger Laufzeit durchzusetzen, deutet an, was bei einer anderen Politik möglich gewesen wäre.

Verteilungsspielraum weit unterschritten

Der Verteilungsspielraum, der in diesem Jahr bei 5% liegt und nächstes Jahr kaum geringer werden wird, wurde deutlich unterschritten. Bei weiter ansteigender Konjunktur und je nach Entwicklung der Inflationsrate können nächstes Jahr sogar Reallohnverluste entstehen. Die Umverteilung zu Gunsten der Kapitalbesitzer und Vermögenden geht uneingeschränkt weiter. Sie ernten alleine die Früchte des Konjunkturaufschwungs. Da sich die Lohn- und Gehaltsabschlüsse an den Empfehlungen des Bündnisses für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit orientieren, wird den Mitgliedern und der Öffentlichkeit suggeriert, dass – entgegen besseren Wissens – niedrige Tariferhöhungen Arbeitsplätze schaffen und den Konjunkturaufschwung unterstützen würden.

Dass der Verteilungsspielraum nicht ausgeschöpft wurde, hat auf die Beschäftigten in den Niedriglohnbereichen (Handel, Gaststätten, Teile des öffentlichen Dienstes, usw.) die Auswirkung, dass die Möglichkeiten für eine nachholende Lohnpolitik eingeengt wurden. Auf der anderen Seite kommt z.B. der Abschluss der hbv im reichen und hochprofitablen Versicherungsgewerbe (kein Niedriglohnbereich) mit 2,5% einer Kapitulation gleich, und nicht viel anders ist der (inzwischen gescheiterte) Versuch der hbv im NRW-Einzelhandel zu bewerten, in vorauseilendem Gehorsam zu den Riesterischen Kahlschlägen bei der Rentenversicherung ein privates Vorsorgemodell abzuschließen.

Obwohl sich zum Beispiel die IG Metall nach Aussagen von Joachim Kreimer de Fries im europäischen Metallarbeiterverband darauf verpflichtet hatte, dass Tarifabschlüsse nirgendwo in Europa unterhalb des Verteilungsspielraums (Produktivität plus Preissteigerung) liegen sollte, hat sie sich im eigenen Land nicht daran gehalten; im Unterschied zu den Gewerkschaften in den meisten anderen europäischen Ländern. Das ist purer Wettbewerbskorporatismus, und die in Deutschland weiter fallenden Lohnstückkosten werden die Arbeit der Gewerkschaften in den anderen Ländern erschweren.

Zweijährige – bzw. im Fall der ÖTV nahezu dreijährige – Abschlüsse bedeuten, dass im kommenden Jahr keine Tarifbewegung stattfinden wird – und das in einer Phase, in der die Durchsetzungschancen für gewerkschaftliche Forderungen größer und nicht kleiner werden. Die damit verbundene Verlängerung der Laufzeit der Manteltarifverträge (vor allem bei der IG Metall) um mindestens zwei Jahre schreibt die bestehenden Arbeitszeiten fest und beerdigt (zumindest vorerst) Initiativen für eine weitere Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit. Die Koppelung der Kündigungsfristen von MTV und Altersteilzeittarifvertrag beinhaltet die Gefahr einer dauerhaften Spaltung zwischen »Jung« und »Alt« und erleichtert es nicht gerade, das Projekt Arbeitszeitverkürzung, das auch in den Köpfen der Mitglieder aktuell keine Konjunktur hat, wieder anzugehen. Welches Reformprojekt die Gewerkschaften im Zuge eines Konjunkturrückganges verbunden mit Arbeitsplatzabbau haben werden, wenn nicht rechtzeitig für Arbeitszeitverkürzung geworben wird, bleibt rätselhaft.

Verhältnis zu den Mitgliedern wird neu definiert

Die Art und Weise, wie viele Tarifabschlüsse zustande kamen, wird die Resignation und Ohnmachtsgefühle vieler Mitglieder verstärken. Noch in der Nacht des überraschenden Metallabschlusses in NRW mussten geplante Warnstreiks (in Baden-Württemberg) wieder abgeblasen werden. Es wurde nicht einmal der Versuch gemacht, die vorhandene Kampfkraft abzurufen. In einer Diskussion des Zukunftsforums Stuttgart wurde von einem verantwortlichen Funktionär in NRW diese Vorgehensweise u.a. damit begündet, dass es in ihrem Landesbezirk immer mehr Betriebe gibt, die aus dem Arbeitgeberverband flüchten oder nur noch eine OT-Mitgliedschaft (ohne Tarif) vereinbarten. Außerdem wäre es nicht nötig, Warnstreiks zu organisieren, weil ein Verhandlungsergebnis erzielt werden konnte, das von der Tarifkommission mit Jubel und Beifall aufgenommen wurde. Ein Kollege aus der IG Metall in Stuttgart entgegnete darauf, dass es bezeichnend wäre, dass wir unsere Tarifpolitik nicht mehr aus unseren Stärken heraus führen, sondern mit unseren Schwächen begründen. In dieser Logik wird es nicht ausbleiben, dass die heute noch kampfstarken Betriebe ihre Kampfkraft schleichend verlieren.

Die innergewerkschaftliche Diskussion und die Beteiligung der Mitglieder wird immer mehr durch die so genannte »Telekratie« (Heribert Karch, Leiter der Abteilung Tarifpolitik der IGM) [1] ersetzt: das Verkünden und Propagieren von Botschaften, Empfehlungen und Vorgehensweise über die Massenmedien. Dass diese Vorgehensweise nicht immer oder gar immer seltener die Meinung der Basis trifft, zeigen die Vorgänge in der ÖTV. Der vom Vorsitzenden Mai mitgetragene Schlichterspruch wurde von der Großen Tarifkommission mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. Viele TK-Mitglieder wussten, dass sie dieses Ergebnis den Mitgliedern ohne dauerhafte Konflikte nicht zumuten konnten. Das Urabstimmungsergebnis von knapp über 76% für Streik ist beachtlich gut, wenn man bedenkt, dass der Vorsitzende sich öffentlich gegen einen Arbeitskampf ausgesprochen hatte und in welcher Geschwindigkeit die Abstimmung durchgeführt worden ist. Das zeigt alles in allem – regionale Unterschiede in Rechnung gestellt – ein großes Potenzial an Mobilisierungsbereitschaft. Mit dem schließlich akzeptierten Tarifergebnis wird die ÖTV aller Voraussicht nach in eine Führungskrise geraten, die auch Auswirkungen auf ver.di haben wird.

Dieser Umgang mit den Mitgliedern, aktiven Funktionären und der innergewerkschaftlichen Demokratie enspricht einer Vorstellung, die im Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit angelegt ist. Hans-Jürgen Urban (Leiter bei der Abt. Sozialpolitik der IGM) hat die wissenschaftliche Theorie der Apologeten des Bündnisses aufgearbeitet. [2] Diese besagt in Stichworten: Die Gewerkschaften schließen mit Kapital und Regierung einen wettbewerbskorporatistischen Deal, mit dem Ziel, die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft zu verbessern. Dabei bleiben ihre reformpolitischen Optionen auf der Strecke. Diesen Preis müssen sie jedoch bezahlen, um (weiterhin) als Partner des Kapitals und der Regierung anerkannt zu werden, um z.B. in der Steuerpolitik Vergünstigungen für einen Teil ihrer Klientel herauszuholen. Dabei müssen sie jedoch ihr Verhältnis zu den Mitgliedern neu definieren. Statt in konfliktreichen Auseinandersetzungen die Interessen ihrer Mitglieder wahrzunehmen und durchzusetzen, müssen sie die im Bündnis ausgehandelten Kompromisse ihrer Basis vermitteln und nahebringen.

Man wird das Gefühl nicht los, dass hier das Regiebuch für den Verlauf der aktuellen Tarifrunden geschrieben wurde und dass sich ein großer Teil der Gewerkschaften an die Regieanweisungen gehalten hat. Die Mitglieder und Aktiven werden so immer mehr in eine Objektrolle hineingedrängt. Die eigentlichen Akteure gehen immer mehr unter.

Ich bin weit davon entfernt, das Bild einer ständig kampfbereiten Basis und einer laschen Führung zu zeichnen. Trotzdem scheinen die Erfahrungen der Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben mit denen großer Teile der Apparate nicht mehr übereinzustimmen. Der eine Teil macht die Erfahrung, dass für die stagnierenden Reallöhne immer härter und stressiger (häufig auch wieder länger) gearbeitet werden muss, der andere denkt immer mehr in Kategorien von Globalisierungszwängen und Wettbewerbsfähigkeit.

Diese Politik muss gestoppt werden

Obwohl die Politik der »Modernisierer«, die sich offensichtlich überall durchgesetzt haben, weder materielle noch organisatorische Erfolge verzeichnen kann (noch niemals in der Nachkriegszeit haben die Gewerkschaften so viele Mitglieder verloren, wie in den letzten zehn Jahren), wird sie nicht geändert, im Gegenteil. Ein sicheres Reformkonzept zur Beschleunigung des Mitgliederschwundes bietet uns z.B. der ehemalige IG Metall-Bezirksleiter in NRW, Harald Schartau, an. Dieser hatte »eine grundlegende Reform des Tarifsystems gefordert. Er sagte, der Verdienst werde künftig ›stärker widerspiegeln, was der Beschäftigte für die Zufriedenheit der Kunden geleistet hat und wie er zuvor vereinbarte Ziele erfüllt hat‹. Der Tarifvertrag werde künftig nur noch das Grundentgelt festlegen und einen Rahmen für die erfolgsabhängigen Verdienstbestandteile vorgeben... Dazu gehörten ›Art und Umfang des künftigen Leistungslohns und die Kriterien, nach denen der Erfolg gemessen wird‹.« [3]

Die Aussagen von Klaus Zwickel, dass ein neues Verhältnis zur Frage des Aktienbesitzes gesucht und die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen über die Ausgabe von Stock-Options angestrebt werden soll, sowie die Aussagen des DGB-Vorsitzenden Schulte zur 50-Stunden-Woche runden das Bild ab. Die von der neoliberalen Politik begonnene Zerschlagung der kollektiven Zusammenhänge wird von den »Modernisierern« in einem Prozess ständiger Anpassung nachvollzogen. Wofür die Beschäftigten in diesem Prozess Gewerkschaften brauchen, ist immer schwerer zu vermitteln.

Widersprüche nehmen zu

Es fällt auf, dass die beschriebene Politik stärker als in der Vergangenheit auf Protest und Gegenwehr von Teilen der Basis stößt. So hat z.B. eine deutliche Mehrheit der Baden-Württembergischen Tarifkommission den Pilotabschluss in NRW kritisiert. Zahlreiche Vertrauensleutegremien haben Resolutionen verabschiedet und die IGM zu einer anderen Tarifpolitik aufgefordert. In der ÖTV wird der nächste Gewerkschaftstag im November kritisch verlaufen.

Wenn diese Reaktionen nicht in Resignation umschlagen sollen, müssen die diesjährigen Tarifrunden in der Mitgliedschaft diskutiert und ausgewertet werden, muss die wachsende Kritik offen formuliert werden. Eine breite innergewerkschaftliche Diskussion beinhaltet die Chance, die Gewerkschaften wieder aus der Sackgasse herauszuführen.

Dabei wird es auch darauf ankommen, Alternativen für die künftige Tarifpolitik zu entwickeln und diese mit unserer Kritik zu verbinden. Dabei spielen folgende Fragen der Tarifpolitik eine große Rolle:

  In der Lohn- und Gehaltspolitik muss die Verteilungsfrage wieder in den Vordergrund gestellt werden. Nach einer langen Phase der Umverteilung von unten nach oben müssen wir wieder zu einer offensiven Lohnpolitik kommen, die nicht nur den Verteilungsspielraum ausschöpft, sondern Komponenten der Rückumverteilung enthält. Gleichzeitig müssen die sich daraus ergebenden Möglichkeiten genutzt werden, die immer größeren Einkommensunterschiede zwischen den Beschäftigen innerhalb und zwischen den Branchen einzuebnen und das Abgleiten eines wachsenden Teils der Beschäftigten in Niedriglohnsektoren zu verhindern.

  In der Arbeitszeitfrage wird es darum gehen, wie wir die Forderungen nach kollektiver Arbeitszeitverkürzung (vor allem der Wochenarbeitszeit) wieder mit Leben erfüllen können und die Gewerkschaften auf diesem Feld wieder handlungsfähig werden. Entscheidend ist dabei das Interesse wachsender Beschäftigten-Gruppen nach mehr Selbstbestimmung und die Begrenzung von zunehmendem Arbeitsdruck und Stress.

  In diesem Zusammenhang wird es auch eine Aufgabe sein, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und aktiven Gesundheitschutz wieder verstärkt in die Tarifpolitik einzubeziehen.

  In die Tarifpolitik muss ebenfalls der rasante Formationswandel der Konzerne (Fusionen und Ausgliederung) einbezogen werden. Hier können Beschäftigungstarifverträge auf Konzernebene eine fortschrittliche Handlungsebene sein. Erste größere Kämpfe, wie der aktuelle der Opel-Belegschaft gegen die Folgen von Ausgliederung oder von Werner und Pfleiderer in Dinkelsbühl deuten an, dass wir uns den Entscheidungen der Konzernlenker nicht ohnmächtig ausliefern müssen.

  Der verhängnisvolle Zusammenhang zwischen der Zerschlagung der sozialen Sicherungssysteme und einer Tarifpolitik, die die Privatisierung der Alterssicherung durch die tarifliche Regelung privater Altersvorsorge nachvollzieht, muss herausgearbeitet werden, ebenso wie der Ausbau eines Niedriglohnsektors.

Es besteht durchaus ein realistische Chance, die Diskussion so zu führen, dass sie über den kleinen Kreis von Foren der Gewerkschaftslinken hinausgeht und die Entscheidungen um die künftige Tarifpolitik beeinflussen kann. Wie gesagt, der Weg des Mainstreams ist bisher weder materiell, noch politisch, noch organisatorisch erfolgreich. Ihn zu korrigieren, ist nicht nur notwendig, sondern auch möglich.

Bernd Riexinger ist Geschäftsführer der hbv-Bezirksverwaltung, Stuttgart.

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