26. Oktober 2022 Peter Wahl: Das Brüsseler Management der Energiekrise und sein geopolitischer Kontext

Von der Kunst, sich selbst ins Knie zu schießen

Die Energiekrise lässt in der EU neue Konflikte aufbrechen. Nachdem die ökonomischen Effekte von Corona – die Störungen der Lieferketten und der Nachholbedarf bei Gas und Öl mit Abklingen der Pandemie – bereits einen enormen Inflationsschub verursacht hatten, führt der Wirtschaftskrieg gegen Russland jetzt zu einer noch stärkeren Preisexplosion.

Nach der Devise »Rette sich wer kann« beschafften sich in einer ersten Phase die einzelnen Mitgliedsländer ihr Gas und Öl auf dem Weltmarkt. Das trieb prompt die Nachfrage dermaßen nach oben, dass der nächste Preisschub folgen musste – zumal die Energiemärkte nach wie vor enorm spekulationsgetrieben sind. Deutschland, durch die Abkopplung von russischem Gas am stärksten getroffen, hat regelrechte Mondpreise für das besonders klimaschädliche Fracking- und Flüssiggas bezahlt, um seine Speicher vollzukriegen. Im August lag der Gaspreis an der Leipziger Börse bei 300 Euro/mwh – gegenüber 60 Euro Ende Oktober. Die Gaslieferanten darunter die Fracking-Branche verdienten sich goldene Nasen, sodass der französische Präsident in Richtung USA und Norwegen klagte, »dass wir das Gas nicht viermal so teuer bezahlen können, wie ihr es an eure Industrie abgebt«. (Le Monde vom 9./10.10.2022, S. 17)

Als dann noch Berlin in seinem »Doppelwumms« mit 200 Mrd. Euro für das deutsche Krisenmanagement eine Summe locker machte, von der man anderswo nur träumen kann, war selbst bei dem ansonsten so maßvollen Mario Draghi das Maß voll. In einer Attacke gegen die deutsche EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen forderte er, sie solle »nicht länger vage Vorschläge, sondern etwas Klareres, Konkreteres, und wenigstens zum Teil Vorschläge für Vereinbarungen« machen. (Ebd.) Der polnische Regierungschef sprach sogar von einem »Diktat Deutschlands«, das schon bei der Finanz- und Coronakrise »andere belehrt und sich sehr arrogant verhalten« habe, wie Die Welt berichtete. Da scheinen bei einigen die Nerven jetzt doch blank zu liegen.

Für weniger finanzkräftige und zugleich bereits hochverschuldete Länder wie Italien drohte aber in der Tat bei der Preisrallye die Puste auszugehen. Befürchtet wird zudem, dass unter dem Druck der Energiekrise die Wettbewerbsfähigkeit der schwächeren Volkswirtschaften ins Hintertreffen geraten und die Zinssätze in der Eurozone auseinanderdriften. Da die strukturellen Probleme der Gemeinschaftswährung nie grundlegendend, sondern mit Hilfskrücken, wie die inzwischen auslaufenden Rezepte der EZB, nur überbrückt worden waren, kommt jetzt die Angst vor einer neuen Eurokrise auf.


Kern der energiepolitischen Kontroverse

Beim informellen EU-Gipfel am 7. Oktober in Prag stand das Thema zwar auf der Tagesordnung, allerdings wurden keine konkreten Maßnahmen beschlossen, sondern lediglich verschiedene Ideen geäußert, darunter ein Gaspreisdeckel und eine gemeinsame Einkaufsplattform.

Peter Wahl ist Sozialwissenschaftler, Mitbegründer und langjähriges Vorstandsmitglied der Nichtregierungsorganisation Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung (WEED) sowie Mitbegründer von Attac Deutschland.

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