1. April 2007 Holger Politt

Von hoher Moral umstellt

Wenn Warschau im Spätherbst hin und wieder durch dichte Nebel heimgesucht wird, schließt Polens größter internationaler Flughafen seinen Betrieb – stunden- oder gar tageweise. Die Investition einer teuren nebelfesten Lande- oder Starttechnik lohne nicht, denn – so der Flughafenbetreiber – dichte Nebel seien an der Weichsel die große Ausnahme und immer nur von kurzer Dauer. Günstiger sei in jedem Fall, einfach die dann fälligen Vertragsstrafen zu zahlen.

So ähnlich verhielten sich die Kapitäne und Steuerleute des in schwere See geratenen Schiffes der polnischen Sozialdemokraten, denen alles, was nach den Parlaments- und Präsidentenwahlen des Herbstes 2005 an politischer Aktion durch die Kaczyñski-Brüder veranstaltet wurde, in einen plötzlich eingefallenen dichten Nebel getaucht schien. Sie lebten von der Hoffnung, derselbe möge sich alsbald lichten und einen klaren Weg freigeben. Sie rechneten also mit Wetterbesserung und wurden schnell eines besseren belehrt. Von Stund an galt wieder das ABC der Gesellschaftskritik, was einer Herausforderung gleichkam, der sie, die seit über einem Jahrzehnt nur mit dem Strom schwammen, nicht mehr gewachsen waren.

"Triumphzug der Zwillingsbrüder"

Der Triumphzug der Kaczyñski-Brüder beendete Polens Abschied vom Staatssozialismus, der in einem der gesellschaftlichen Kontrolle weitgehend enthobenen Privatisierungsprozess, in der Errichtung eines robusten repräsentativen demokratischen Systems und im Beitritt zu den EU-Strukturen gipfelte. Den Zwillingsbrüdern genügte eine Partei mit dem respektvollen Namen "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), ein scharfer konservativ-nationaler, mit weitgehend leerer sozialer Rhetorik gespickter Grundton, und das Versprechen, eine völlig neue Republik auf den Weg zu bringen. Der Start in diese neue Herrlichkeit fiel überraschend gut aus, sodass die Zwillingsbrüder sich ermutigt fühlten, die Dinge alleine in die Hand zu nehmen. Die propagandistisch vehement in Szene gesetzte Gegenüberstellung eines "solidarischen" und eines "liberalen" Polens sollte sich als ausreichend erweisen, um zunächst eine PiS-Minderheitsregierung auf den Weg zu bringen. Die fast gleichstarke rechtsliberale Bürgerplattform (PO) musste auf den harten Oppositionsbänken Platz nehmen. Im Mai 2006 wurde dann eine Regierungskoalition mit der agrarisch-kleinstädtischen "Samoobrona" und der nationalkatholischen "Liga der Polnischen Familien" (LPR) geschmiedet, die als Vorbote der neuen IV. Republik galt.

Seit Jaroslaw Kaczyñski sich im Sommer 2006 die Regierungsgeschäfte in die eigenen Hände legte, gab es kein zurück mehr. Dieser Schritt, bei dem der Staatspräsident seinen Zwillingsbruder zum Ministerpräsidenten ernannte, sollte als der dicke historische Trennungsstrich der Zeit von 1989 bis 2005 gegenüber verstanden werden, die fortan als Epoche des Runden Tisches und des Postkommunismus abgewertet wurde. Erst jetzt – so die PiS-Oberen – konnte daran gedacht werden, einen moralisch sauberen Kapitalismus aufzubauen, wie er in einer durch und durch katholischen Nation wie der polnischen zwar grundsätzlich möglich, aber in der bisherigen Konstellation aus Gründen eines staatstragenden Kompromisses mit moralisch fragwürdigen politischen Kräften von vornherein ausgeschlossen gewesen sei.

Im Land der "Solidarnosc" vollzog sich ein Kulissenwechsel, bei dem alles das in die Abstellkammer der Geschichte wandern sollte, was an die im Februar 1989 beginnenden Rundtischgespräche zwischen Vertretern der Macht in der Volksrepublik Polen und damaligen Oppositionellen erinnerte. Ein ehrgeiziges Unternehmen, das in dieser Radikalität und unter den geltenden Bedingungen eher zum Scheitern verurteilt war, denn schließlich waren die Kaczyñski-Brüder auf der Basis einer verfassungsmäßigen Ordnung in ihre Machtpositionen gekommen, die ganz dem Geist dieses Runden Tisches entspricht.

Die wichtigsten gesellschaftlichen Strukturen des Landes gehen nicht über den Kompromisscharakter der seit 1997 geltenden Verfassung hinaus. Wenn es etwa um die in einem katholisch geprägten Land sensible Frage des in der Verfassung festgeschriebenen Rechtes auf Schutz des Lebens oder die Frage der Trennung von Staat und Kirche geht, neigt die Waage in der verfassungsmäßigen Praxis eher auf die konservative, in allen Fragen der wirtschaftlichen Freiheit aber auf die liberale Seite. Versuche, das in der Mitte der 1990er Jahre erreichte fragile Gleichgewicht weiter zugunsten eines erzkonservativen Weltbildes zu verändern, stoßen an objektive Grenzen. Die Verteilung der Wohnbevölkerung zu beinahe gleichen Teilen auf Großstädte, Klein- und Mittelstädte und auf das Land oder die demografische Struktur (die jüngeren Menschen überwiegen noch immer zahlenmäßig) sprechen dagegen. Auch der immer wieder von konservativen Soziologen beschworene Mythos einer so genannten Generation des polnischen Papstes (JP2-Generation) hilft tatsächlich nur wenig.

24-Stunden-Gerichte, Schwangerschaftsabbruch als "Barbarei" und ein Raketenabwehrschirm

Derzeit kann bereits ein anderes Schauspiel bewundert werden. Die zunächst rasante Aufstiegsphase der Zwillingsbrüder ist abgelöst worden durch einen in Umfragen mittlerweile erkennbaren Sinkflug. Zwar kann PiS die eigene Wählerschaft bei der Stange halten (um 25%, mit leichter Tendenz nach unten), doch hinsichtlich der Regierungsarbeit und der Rolle des Präsidenten gibt es außerhalb der eigenen Anhängerschaft durchweg schlechtere Noten. Und so wird Ballast abgeworfen, der ausreichend zur Verfügung steht, der aber in jedem einzelnen Fall nach erfolgtem Abwurf unwiederbringlich verloren ist. In der Tendenz wird es beim Sinkflug bleiben, auch wenn kräftiger Zündstoff in die Gesellschaft eingebracht wird.

Während nach den Wahlsiegen zunächst ganz offen von einer neuen Verfassung gesprochen wurde, die innerhalb der kommenden Jahre die moralische Revolution krönen sollte, müssen die PiS-Strategen sich derzeit mit einer ganzen Reihe von Einzelmaßnahmen begnügen, die jedoch eher nicht zu dem einst gewollten großen Szenario passen. Es sind Bruchstücke eines größeren Ganzen, die aber ohne Zweifel erheblichen Schaden anrichten können. Anfang des Jahres wurde lauthals verkündet, Präsident Kaczyñski wolle endlich historische Gerechtigkeit herstellen, indem er den Generälen, die 1981 für die Ausrufung des Kriegsrechts verantwortlich zeichneten, den Generalsrang aberkennen werde. Er fand lautstarken Beifall, doch die Mehrheitsmeinung sieht anders aus. Jüngst wurden so genannte 24-Stunden-Gerichte eingeführt, die auf frischer Tat ertappte Rechtsbrecher innerhalb von Tagesfrist ihrer gerechten Strafe zuführen sollen. Der Bürger brauche mehr Ordnung und Sicherheit. Erste Beispiele zeigen, wo da Ordnungsmacht präsentiert wird: Fahrradfahrer, die das Null-Promille-Gebot missachten, bekommen drastische Geld- oder gar Freiheitsstrafen auf Bewährung. Es wurden bereits Fälle publik, bei denen Polizisten vor einschlägigen Lokalen gezielt auf die Fahrradbesitzer warteten, um sie der Übertretung des Gesetzes zu überführen. Wer das Land kennt, weiß, dass Fahrradfahrer eine der ganz großen Herausforderungen für die Aufrechterhaltung der Ordnung in Polen sind.

Mitte März schließlich trat ein Lustrationsgesetz in Kraft, nach dem alle Personen mit öffentlicher Bedeutung sich selbst zu durchleuchten haben, in dem sie schriftlich gerichtsverwertbar erklären, ob sie mit den Geheimdienst- und Staatsschutzorganen der Volksrepublik Polen zusammengearbeitet haben oder nicht. Bei fehlerhaften Angaben drohen Gefängnisstrafen und sofortiger Arbeitsplatzverlust, bei Selbstanzeige oder Verweigerung nur das letztere. Derartige Angaben müssen nun künftig alle Schuldirektoren, alle Journalisten, alle praktizierende Juristen bis hinunter zum Notar an die polnische Gauck-Behörde, das IPN, abliefern. Zwar wird regelmäßig auf das erfolgreiche Beispiel in Deutschland verwiesen, wo mit der DDR-Vergangenheit rigoros aufgeräumt worden sei, doch auch das hilft nicht viel, denn schon regt sich prominenter Widerstand unter den Betroffenen, die des Ministerpräsidenten Idee, endlich ein moralisch sauberes Polen den untragbaren Zuständen in der Ära des Postkommunismus gegenüberzustellen, als politischen Kreuzzug und als eine gewaltige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für das IPN bezeichnen.

Und schließlich wurde durch den Auftritt des Bildungsministers Roman Giertych in Heidelberg, bei dem er – Johannes Paul II. folgend – das Ausmaß der legalisierten Schwangerschaftsunterbrechungen in Europa als neue Barbarei bezeichnete, ohne Not eine neue Abtreibungsdiskussion losgetreten, die ganz und gar nicht nach dem Geschmack der Zwillingsbrüder ist. Erstmals müssen sie eine bestehende Verfassungsregelung, die in ihrer bevorzugten Lesart eine postkommunistische sein muss, beinahe schon spektakulär in Schutz nehmen. Während LPR und der ganz rechte PiS-Flügel im Bunde mit dem Episkopat sofort für ein grundsätzliches Abtreibungsverbot und für den Schutz des Lebens von der Befruchtung an eintraten, hielt eine PiS-Mehrheit die derzeitige Regelung für ausreichend. Sie ermöglicht noch Schwangerschaftsunterbrechungen in geprüften Einzelfällen und in vorgegebener Frist.

Man verwies auf den hohen moralischen Standard, den die Gesetzeslage in Polen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ohnehin bereits habe. Die Präsidentengattin ging höchst selbst in die Bütt und nahm Partei für die geltende Regelung. Der rechtskatholische Sender "Radio Maryja", der bisher eine wichtige Rolle in den Kaczyñski-Plänen spielte, legte dies als ein Zeichen des Verrats an den eigenen Positionen und als unüberlegtes Zugeständnis an eine überkommene Mehrheitsmeinung aus.

Auch in anderen, für die Regierungsarbeit wichtigen Fragen, sehen sich die Zwillingsbrüder mittlerweile auf verlorenem Posten. Die Pläne zur Stationierung von Teilen eines US-amerikanischen Raketenabwehrschirms in Polen werden nach den Erfahrungen mit dem Engagement im Irak in der Öffentlichkeit zunehmend skeptischer bewertet, befürchtet man doch erneut eine Brüskierung wichtiger EU-Partner. Des Staatspräsidenten ausgeklügelte Argumentation, es handle sich bei diesem Rüstungsschritt nicht um eine gesamteuropäische, sondern allenfalls um eine dreiseitige Angelegenheit zwischen Polen, Tschechien und den USA, findet im eigenen Land keine Mehrheit.

Einfallslose und kritikunfähige Opposition

Die PiS-geführte Regierung hat aber andererseits Glück, denn zu großen Taten hat sich die Opposition noch immer nicht aufraffen können. Die rechtsliberale PO, die in Umfragen seit Monaten deutlich vor PiS liegt, rechnet bereits mit dem zukünftigen Erfolg, gibt sich leutselig und staatstragend. Verglichen mit PiS will sie eigentlich dasselbe in grün, nur etwas moderater, ohne LPR und Samoobrona und, wenn möglich, ohne die Kaczyñskis. Sie glaubt, das Gleiche besser machen zu können. Die vorhandenen Differenzen, etwa in Fragen der Innenpolitik und Justiz, verschwinden bisher immer dann, wenn es um die Abrechnung mit der Volksrepublik oder mit der Zeit von 1989 bis 2005 geht. So wird das aberwitzige Lustrationsgesetz voll und ganz mitgetragen.

Wenn zwei Rechtsgruppierungen mit zusammengenommen 50-60% Wählerzuspruch sich um die Spitzenposition streiten und im anderen jeweils den Hauptgegner sehen, so könnten andere politische Optionen eigentlich optimistisch in die Zukunft schauen. In Polen beträfe das in erster Linie das liberale und das linksgerichtete Lager. Aber weit gefehlt: Die Situation ist hier erst recht außerordentlich kompliziert. Die "Demokratische Linksallianz" (SLD), die sich in den letzten Jahren vor 2005 zunehmend als eine linksliberale Kraft verstand, leckt – so scheint es – noch immer die Wunden des Machtverlusts. Ein großer Teil der einstigen, an umfangreiche Machtteilhabe gewöhnten Träger des SLD-Projektes hofft auf ein baldiges Ende der Kaczyñski-Zeit, auf eine Rückkehr zu den ihrer Meinung nach normalen, nicht autoritären Verhältnissen. Der Bürger müsse doch irgendwann einmal einsehen, dass Polen mit der Politik der Zwillingsbrüder ins Abseits gerate. Übersehen wird aber, dass deren Wahl im Herbst 2005 für viele eine Verzweiflungstat bzw. ein dramatischer Appell an die politischen Entscheidungsträger war: Tut etwas gegen die sozialen Verwerfungen der zurückliegenden 16 Jahre! Diese Verwerfungen sind in einem Land, in dem es offiziell eine Arbeitslosenquote von 17% gab, in dem 89% aller registrierten Erwerbslosen keine Lohnersatzleistungen erhielten, in dem nach Angaben des staatlichen Statistikamtes über 50% der Erwachsenen mit weniger als dem sozialen Minimum von 210 Euro auskommen mussten, keine eingebildete Sache.

Das Rezept der damaligen SLD-Führung, alles auf Europa zu setzen und dem Ziel eines hohen Wirtschaftswachstums unterzuordnen, erwies sich als ein falscher Weg. Das Land hatte mit 38 Millionen Einwohnern bei EU-Beitritt ein Bruttoinlandsprodukt in der Höhe Dänemarks. Diskussionen über Perspektiven einer sozialstaatlichen Entwicklung wurden mit dem Argument abgewürgt, dass ein Land wie Polen in Zeiten, da in wesentlich reicheren Gesellschaften angestrengt über einen radikalen Umbau der alten Sozialstaatsmodelle nachgedacht werde, sich nicht den Luxus erlauben könne, überholte und nicht finanzierbare Umverteilungsmechanismen einzuführen. Darüber neu zu befinden, sei eine Aufgabe künftiger Generationen. Höhepunkt dieser Linie war das Konzept, das Land mit einem einheitlichen linearen Einkommenssteuersatz zu beglücken. Polens SLD dürfte die einzige sozialdemokratische und linksgerichtete Partei in Europa gewesen sein, die ihrer Gesellschaft eine solche Rosskur zumutete.

Bis heute fehlt in der SLD eine tiefgehende Auseinandersetzung mit diesen Vorstellungen. Kaczyñskis Regierungsstil leistet diesem unkritischen Umgang mit der eigenen Vergangenheit Vorschub, denn es finden sich immer wichtige Felder der Auseinandersetzung. Doch nirgends ist eine klare Handschrift der SLD zu finden – nicht im Umgang mit der Volksrepublik, nicht in der Abtreibungsfrage, nicht bei den 24-Stunden-Gerichtsurteilen, nicht bei der Lustration, nicht bei dem geplanten Raketenschild. Es ist so, als ob es so etwas wie einen vorauseilenden Gehorsam und Rücksicht auf einen möglichen Bündnispartner gibt, mit dem einige einen großartigen neuen Anfang erhoffen.

Als der dramatische Niedergang der SLD, die 2001 bei den Parlamentswahlen knapp 40% der Stimmen gewann und einen haushohen Sieg einfuhr, absehbar wurde, brachte der damalige Präsident Aleksander Kwasniewski (1995-2005) einen Mitte-Links-Block ins Gespräch. Gedacht war an einen Zusammenschluss von SLD-Strukturen mit den Freidemokraten, die als Demokratische Partei (PD) das politische Erbe der einstigen liberalen "Solidarnosc"-Intellektuellen angetreten hatten, zuletzt aber ziemlich erfolglos blieben. Sie hatten Reputation, die SLD Geld und die für den Einzug in das Parlament notwendigen Stimmen. Kwasniewskis Vorschlag hatte 2005 keine Chance auf Umsetzung, blieb aber auch danach im Gespräch. Im Herbst 2006 trat zu den Regional- und Lokalwahlen, die als wichtige Testwahlen angesehen wurden, ein Bündnis unter dem Namen "Die Linke und Demokraten" (LiD) an, hinter dem sich in erster Linie SLD und PD, dazu aber auch zwei weitere linksgerichtete Gruppierungen verbargen. Man erreichte gemeinsam einen Achtungserfolg (landesweit etwa 15% der Stimmen), musste aber bitter zur Kenntnis nehmen, dass gegenüber den Einzelergebnissen bei den Parlamentswahlen 2005 weitere Stimmen verloren wurden. Von einem Durchbruch wollte dann keiner der LiD-Konstrukteure sprechen, auch wenn man sich für die Zukunft weiterer gemeinsamer Wahlantritte versicherte.

Das ist weniger als erhofft, denn eigentlich sollten in diesem Block die bisherigen Strukturen von SLD und PD aufgehen, sozusagen als Rettungsanker für Formationen, die ihren Zenit weit überschritten haben. Ein fester Mitte-Links-Block (also mehr als LiD) mit entschieden marktwirtschaftlichem Einschlag, mit freiheitlicher Ausrichtung (bei allerdings strikter Achtung traditioneller Eigenarten Polens), pro-europäisch und pro-atlantisch, möglichst unbelastet von unnötigen sozialen Versprechungen, sollte rechtzeitig zu den kommenden Parlamentswahlen geschaffen werden. Ein solcher Block wäre in erster Linie eine liberale Herausforderung für die PO in den Großstädten – attraktiv vor allem für junge, sich gesund fühlende, die Zukunft suchende und in sozialer Hinsicht sich noch relativ frei fühlende Wählerschichten. Attraktiv also für jene, die derzeit in deutlicher Mehrheit ihre Stimmen den Rechtsliberalen geben würden.

Chancen für eine Neue Linke auch in Polen?

Die Situation ist unentschieden und bietet so jenen eine Chance, die aus dem dramatischen Niedergang der SLD einen anderen Schluss ziehen und die Zukunft linker Gruppierungen in einer Stärkung sozialer Positionen sehen. Sie halten die WählerInnen, die den Kaczyñskis 2005 in erster Linie aus Gründen der schreienden sozialen Ungerechtigkeit ihre Stimme gaben, nicht für verloren. Während der sich nach links orientierende Gewerkschaftsdachverband OPZZ anfänglich dem LiD-Projekt fast verschämt seine Zustimmung gab, sind jetzt andere Töne zu hören, die ein ganz anderes Selbstverständnis zum Ausdruck bringen. Der OPZZ-Vorsitzende Jan Guz gab jüngst deutlich zu verstehen: "Die Gewerkschaftsbewegung muss sich mit Politik befassen. Von Politik flieht keiner. Ich möchte aber Politik von der Kungelei mit Parteien unterscheiden. Schauen sie in den Westen, dort gehen die Parteien auf die Gewerkschaften zu und nicht umgekehrt. Auch wir werden so verfahren. Partnerschaft, aber auf gleicher Grundlage… Wir werden derzeit keine Verständigung mit Parteien unterschreiben. Wir schauen auch sehr kritisch auf das, was sich als LiD versteht." (Fakty i mity, 11/2007).

Im März hat die OPZZ eine Kampagne gestützt, bei der demonstrativ folgende Zahlen auf Plakaten in die Öffentlichkeit gehalten wurden: "Polen 2000-2005: Zunahme der Arbeitsproduktivität 43%, Reallohnsteigerung 7%. Wo sind deine 36% geblieben?" In den Jahren 2001 bis 2005, in denen die SLD regierte, hat sie den OPZZ immer als einen ehernen Partner verstanden. Davon kann nun umstandslos nicht mehr die Rede sein. Die kommenden Monate werden zeigen, ob angesichts der komplizierten, ja durchaus dramatischen politischen Situation und der großen sozialen Herausforderungen – die augenblicklich vor allem durch eine millionenfache Auswanderung vornehmlich jüngerer und qualifizierter Arbeitskräfte ins EU-Gebiet etwas entschärft werden – neue Konstellationen in Polens Linken reifen können. Die Lage ist nicht hoffnungslos, auch wenn noch einiges Wasser die Weichsel hinunterfließen wird, bis dies neue Früchte tragen dürfte.

Holger Politt ist Leiter des Warschauer Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Zurück