22. Februar 2015 Bernhard Sander

Vor den Regionalwahlen: Front National ist stärkste Kraft

In der Partei des französischen Staatspräsidenten wittert man wieder Morgenluft. Bei einer Nachwahl zur Nationalversammlung in Ostfrankreich konnte die Kandidatin des Front National (FN) knapp geschlagen werden.

Die rechtsbürgerliche UMP war im ersten Wahlgang nur auf dem dritten Platz gelandet, weil sie sich bis in die Parteileitung um Nicolas Sarkozy über den Umgang mit dem FN zerstreitet. Der Kurs des neuinstallierten Vorsitzenden Sarkozy, in Stichwahlen »Weder – Noch« zu votieren, hat einen empfindlichen Dämpfer erhalten und der sozialdemokratische Kandidat konnte sich durchsetzen.[1]

Das Wirtschaftswachstum wird im laufenden Jahr voraussichtlich wieder über der Null-Prozent-Marke liegen. Der Autobauer Renault hat die Schaffung von 1.000 neuen Arbeitsplätzen angekündigt.

Das Management der Staatskrise nach den Angriffen auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt Hyper Cacher und dem Tod der Attentäter hat das Ansehen des Präsidenten Hollande wieder steigen lassen, auch wenn nicht einmal die Hälfte der Franzosen seine Qualitäten wertschätzen.

Mit der Vermittlerrolle im Ukraine-Krieg will Hollande ebenfalls punkten. Die Rolle der Grande Nation als Weltmacht unterstreicht er damit ebenso wie mit der Intervention seines Gendarmen-Staates Tschad gegen die »islamistische« Privatarmee Boko Haram, die Teile Nigerias und Kameruns besetzt hat, um am dort erwirtschafteten Volkseinkommen mit Waffengewalt zu partizipieren.
Wirtschafts- und sozialpolitisch hat der Präsident allerdings nichts vorzuweisen. Die Radikalisierung auf der Umverteilungsebene, mit der die Regierung nach den Präsidentschaftswahlen gestartet war, stieß auf den Widerstand der Betroffenen (Steuerflucht nach Russland, Belgien, HSBC-Skandal), ohne die besitzlosen Schichten und die Mittelklassen mobilisieren zu können. Denen fehlte ein überzeugendes Programm zur Wiederherstellung und Sicherung der industriellen Basis. Die Reichensteuer von 75% wurde im Resultat nach zwei Jahren wieder abgeschafft.

Sehr viel deutlicher zeichnet sich der ungeliebte Pfad der »Reformen« ab, wie er von der deutschen Bundesregierung, der EU-Kommission und den professoralen Wunderheilern gefordert wird.[2] Mit einem umfassenden Gesetzespaket wollte die sozialdemokratische Regierung die Dienstleistungsmärkte liberalisieren. Niederlassungsfreiheit für Notare, Deregulierung anderer freier Berufe und vor allem die Zulassung der Sonntagsarbeit im Handel stehen auf der Agenda. Letztere war immer wieder auf Betriebsebene am gewerkschaftlichen Widerstand gescheitert. Auch das Gesetz scheiterte nun in der Nationalversammlung an den »Frondeurs«, der Gruppe aufständischer Abgeordneter innerhalb der PS-Fraktion, die sich dem Agenda-Kurs mit mehr Entschiedenheit widersetzen, als es seinerzeit in der SPD der Fall war. Das Gesetz musste mit einem Präsidialerlass Hollandes durchgesetzt werden, was für den sozialpolitischen Bereich ein Novum ist. Um diese Schwäche des PS bloßzustellen, wird die Opposition einen Misstrauensantrag stellen. Für die Kommunisten und Grünen, die den Kurs des Ministerpräsidenten Manuel Valls und seines Wirtschaftsministers Emmanuel Macron kritisieren, wird dies zur Nagelprobe ihrer Glaubwürdigkeit. Für die Frondeurs steuert diese Abstimmung auf eine Vertiefung des Bruchs in der Fraktion hin.

Jenseits dieser Niederungen in den ausgemergelten Institutionen sinniert man über eine strategische Grundorientierung, die es erlauben könnte, die Präsidentschafts- und in der Folge die Parlamentswahlen zu gewinnen. Die Nachwahlen scheinen Wasser auf die Mühlen der Kräfte um den PS-Vorsitzenden Jean-Christophe Cambadélis zu sein, die an einer Öffnung zu UMP-Wählerschichten basteln und die Unterordnung der Linken der Linken in der Konfrontation mit dem Front National erzwingen wollen.

Das »Soziale« bestimme nicht länger die Agenda, sondern die »Identität«, heißt es in diesen Kreisen. Die Arbeiterklasse sei dauerhaft dem Ressentiment verfallen, wähle FN oder überhaupt nicht mehr. Aber denjenigen, die sich nun weiter für neoliberale Ideen der Modernisierung der kollektiven Sicherungssysteme und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte öffnen wollen, droht der weitere Aufstieg des FN als einziger hegemoniefähiger Zugriff auf die Krise. Und diejenigen, die sich intensiver dem Thema starker Staat, innere Sicherheit, Kontrolle der Migration usw. zuwenden wollen, drohen die liberalen Kräfte verloren zu gehen – und die Konkurrenz der UMP. So bleibt auch der PS in der Krise.

Die Zahlen in Tabelle 1 belegen, dass der Front National nicht nur Protest, sondern auch Anhängerschaft mobilisieren kann. Bei den 26 Nachwahlen zwischen 2006 und 2012 sank durchgehend die Wahlbeteiligung zwischen den beiden Wahlgängen. Dieser Trend scheint sich bei den letzten Wahlgängen umgekehrt zu haben.

Seit dem Amtsantritt Hollandes kann der FN mit Aussicht auf Erfolg zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang mehr WählerInnen gewinnen und sie aus der politischen Passivität holen. Gleichwohl ist die Enthaltung bei Nachwahlen erschreckend hoch. Landesweit wird für die kommenden Wahlen (21./29. März) zu den Generalräten der Departements eine Enthaltung von um die 45% erwartet. Sie ist Ausdruck der Enttäuschung über das Regierungshandeln unter Staatspräsident Hollande, dessen Ansehen zur Mitte der Amtszeit so niedrig wie bei keinem anderen Präsidenten der letzten 20 Jahre liegt. Gerade darum ist das FN-Votum zwar nicht repräsentativ für das Land, aber Ausdruck einer dominanten Meinungsführerschaft seit den Europawahlen.

Der Anteil derjenigen, die in der Partei eine Gefahr sehen, ist in den Umfragen von TNS Sofres von 75% im Jahr 1997 auf heute 54% zurückgegangen. Der Anteil, der »die Ideen des FN teilt«, ist seit der Übernahme des Vorsitzes durch Marine Le Pen kontinuierlich gestiegen (2011: 22%, 2012: 31%, 2013: 32%, 2014: 34% und 2015: 34% – lt. TNS Sofres). Dennoch findet keiner der programmatischen Eckpunkte des FN in den Umfragen eine Mehrheit unter den Franzosen, was durchaus auch mit dem Gespür der Befragten für »soziale Erwünschtheit« von Antworten zu tun haben mag.

Nur 53% der FN-Anhänger und 25% der Franzosen insgesamt befürworten die »Abschaffung des Euro und die Rückkehr zum Franc«. Die Befürworter sind seit 2010 (34%) deutlich zurückgegangen, was die Instrumentalisierung dieses volkswirtschaftlichen Diskurses zugunsten einer Aufwertung des nationalistischen Diskurses in Wahlkämpfen wieder deutlich unattraktiver macht.

Aber »dass man dem Islam und den Moslems zu viele Rechte einräume«, glauben 93% FN-Anhänger bzw. 48% insgesamt. Bei der Einschätzung, es »gibt zu viel Einwanderer« sieht es exakt gleich aus. Beide Statements finden seit 2010 kontinuierlich steigende Zustimmung unter den Befragten. Und hier ist noch Luft nach oben, denn sogar ein Viertel der Anhänger der linken Parteien »fühlt sich in Frankreich nicht mehr zu Hause«.

Zwischen der rechtsbürgerlich-neo­liberalen UMP und dem FN scheinen alle Dämme gebrochen zu sein. Vor allem in der Frage, ob »die Justiz nicht streng genug mit den Kleinkriminellen umgehe«, überflügeln die UMP-Anhänger die FN-Gefolgschaft (85% zu 81% bzw. beim Votum »voll und ganz« 37% zu 23%). Die Bedrohung der kleinen Vermögen, Lebensversicherungen, Eigenheime draußen vor der Stadt usw. kann durch die Parole von der »Verteidigung traditioneller Werte« durch den FN erfolgreich personalisiert und dem Feindbild »islamischer Einwanderer« entgegengesetzt werden.

Den verunsicherten Mittelschichten erklärt der FN, dass die einheimischen Migranten von Paris die fünfte Kolonne des internationalen islamistischen Terrorismus darstellen, dem Brüssel und die »Systemparteien« UMPS die Schleusen öffnen. Deren verfehlte Migrationspolitik und laxe Strafgesetzgebung habe die Attentäter von Paris erst aufgepäppelt.

Über Griechenland wird dagegen in Frankreich wenig berichtet. Die beleidigenden Ressentiments, mit denen in Deutschland auch von Sozialdemokraten an der Regierung Politik gemacht wird, liest man dort nicht. Der Front National agitiert mit Griechenland für mehr nationale Selbstbestimmung. Man nutzt das Elend der ärmeren Volksschichten in Griechenland, dessen Schicksal durch dieselben europäischen Spardiktate und Austeritätspolitik besiegelt sei, unter denen angeblich auch die Franzosen leiden: zu hohe Steuern, zu hohe Sozialausgaben für Wirtschaftsflüchtlinge, Verlust nationaler Selbstbestimmung durch europäische »Harmonisierung«, Verlust des Heimatgefühls.

Der FN erklärt die neue griechische Regierung zur heroischen Vorkämpferin des Euro-Ausstiegs. Der vom FN zum Fetisch erhobene souveräne Wechselkurs ermögliche Steuersenkungen. Die Begrenzung von Sozialleistungen auf die wirklich bedürftigen Franzosen entlaste die Lohnnebenkosten. Beides stelle die Konkurrenzfähigkeit der französischen Industrie wieder her. Der Kampf um Weltmarktanteile wird nicht infrage gestellt.

Offenbar verfängt dieses Angebot zur Klärung der wichtigsten Schlagzeilen. Für die Departements-Wahlen im kommenden März sagen erste Umfragen voraus, dass der FN stärkste Kraft vor Ort werden wird.

Der Zulauf zu Le Pen erfolgt aus der UMP-Anhängerschaft, wo sich »das Gewicht der Verteidiger der Republikanischen Front verringert« (IFOP, Le Figaro), die im Zweifel eher Linksparteien als den FN im zweiten Wahlgang wählen. Ein Drittel der UMP-Anhänger würden den FN bevorzugen, jeder zweite befürwortet in einer anderen Umfrage Allianzen/Absprachen auf örtlicher Ebene (das ist ein Anstieg um 10% gegenüber dem Vorjahr). 58% gaben an, die »Feststellungen von Marine Le Pen zu teilen«.

Der Prozess um die Sexparties des ehemaligen PS-Präsidentschafts-Aspiranten Dominique Strauss-Kahn, die Liste der 6.300 HSBC-SteuerhinterzieherInnen, die Schlagzeilen über Pikettys Naturgesetze des Reichtums – all das wird die Motivation zur politischen Einmischung nicht erhöhen und damit wird dem Front National das Feld überlassen.

Dabei kann jeder wissen, wozu der FN fähig ist. Nach der Wiedereinführung von Schweinefleisch-Mahlzeiten an den Schulen in von ihnen verwalteten Städten folgt nun der komplette Austausch der Caterer. Das könnte den Spendenzufluss in die Parteikasse erhöhen. Der Bürgermeister von Béziers, ein ehemaliges Führungsmitglied von »Reporter ohne Grenzen«, bewaffnet die Mitarbeiter der Stadtpolizei (eigentlich eine Art Ordnungsamt) mit Schusswaffen und lässt diese Maßnahme plakatieren. Das liegt in der Eigenlogik der FN-Positionen: Da die sozial-ökonomischen Ursachen der Status-Verunsicherung im Land fortwirken, muss die Partei an der Macht beständig ihre Law & Order-Maßnahmen eskalieren, um ihre Glaubwürdigkeit bei den WählerInnen zu erhalten.

Bernhard Sander ist Redakteur von Sozialismus. In Heft 2/2015 erschien von ihm anlässlich der Attentate in Paris: »Frankreichs Gesellschaft am Scheideweg?«, S. 20-25.

[1] Gemeint ist mit der »Ni-ni«(=Weder-Noch)-Strategie: Wenn bei einer Stichwahl ein FN-Kandidat gegen einen Kandidaten antritt, der nicht zur Partei Sarkozys gehört, will letzterer seinen Anhängern keine Wahlempfehlung geben, also weder für den einen noch für den anderen eintreten. (vgl. Le Monde, 3.2.2015)
[2] Vgl. als Kritik dazu: Guillaume Duval, Modell Deutschland? Nein Danke! Französische Anregungen für die Zukunft Europas und seiner Industrie. Hamburg 2014 und die Besprechung von Thomas Nord und Peter Frigger in Sozialismus 2/2015, S. 13-16.

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