24. Februar 2022 Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Veränderungen im Alltagsbewusstsein[1]

Vor einem neuen sozialdemokratischen Jahrzehnt?

Drei Monate nach der Regierungsübernahme durch die Ampelkoalition bestimmt weniger die im Abklingen befindliche Corona-Pandemie die politische Agenda, als vielmehr der Ukraine-Russland-Konflikt und die hohen Inflationsraten. Das zentrale Projekt der sozial-ökologischen Transformation ist weiterhin nur in Umrissen erkennbar. Das Agieren der Ampel-Parteien wird in der Wahlbevölkerung zunehmend kritisch beurteilt und schlägt sich in den Meinungsumfragen in einem Akzeptanzverlust vor allem bei der SPD nieder.

Vordergründig profitiert davon die christdemokratische Union. Allerdings sind die bürgerlich-konservativen Parteien noch weit entfernt davon, ihren politischen Kompass wiedergefunden zu haben.[2]

Das Projekt »Mehr Fortschritt wagen« litt zudem von Anfang an daran, dass die ins Auge gefasste sozial-ökologische Transformation und die Kompensation der durch die Corona-Pandemie entstanden enorme Schäden am gesellschaftlichen Reproduktionsprozess nur durch einen erheblichen Einsatz öffentlicher Mittel zu bewältigen sind, deren Finanzierung durch den gelben Koalitionspartner eher kritisch beäugt wird.

Umverteilung der Belastungen, Steuern auf große Vermögen und Steuererhöhungen auf höhere Einkommen waren im Wahlkampf ein Thema, sind aber durch die FDP ausgeschlossen worden. Im Ergebnis des Koalitionsvertrages sind wir also mit einem historisch spezifischen Klassenkompromiss konfrontiert: In einigen Segmenten werden soziale Schieflagen korrigiert (Lohneinkommen, Belastungen durch Wohnungsmangel, Kinderarmut, Migration), eine Neujustierung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse findet aber nicht statt. Es wird dank der von der FDP gezogenen roten Linie keine Korrektur der Verteilungsverhältnisse geben. Von der von SPD und Grünen versprochenen Umverteilung des Reichtums hin zu den Geringverdienern ist keine Rede mehr.

Unter diesen Bedingungen soll eine Beschleunigung des Transformationsprozesses in Richtung einer sozial-ökologischen, digitalisierten Produktions- und Lebensweise gestemmt werden. »Wir werden im Rahmen der grundgesetzlichen Schuldenbremse die nötigen Zukunftsinvestitionen gewährleisten, insbesondere in Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung und Forschung sowie die Infrastruktur, auch um die deutsche Wirtschaft zukunftsfest und nachhaltig aufzustellen und Arbeitsplätze zu sichern.« Deutschland soll die Quadratur des Kreises akzeptieren: Milliarden Euro mehr ausgeben für Klimaschutz, quasi eine Revolution der Wirtschaft. Gleichzeitig keine Schulden machen – und weder von Bürger*innen noch von Unternehmen mehr Steuern verlangen.

Eine neue Dynamik der SPD?

Die neue SPD-Parteispitze will die SPD weiter voranbringen. Das Ergebnis der Bundestagswahl sei nur der Anfang. »Ein Sieg bei der Bundestagswahl, das reicht mir nicht, ich will mehr«, sagte der neue SPD-Co-Vorsitzende, Lars Klingbeil. Der Wahlsieg sei eine große Chance, ein »sozialdemokratisches Jahrzehnt« zu gestalten. Gute Führung sei gegeben und die Zeit innerparteilicher Auseinandersetzungen beendet. Die SPD dürfe sich nicht mehr um sich selbst drehen. »Wir sind stark, wenn wir Haltung zeigen, wenn wir Orientierung geben«, so der SPD-Chef.

In der SPD gibt es nach der Bundestagswahl die Erwartung, auch die Landtagswahlen in NRW, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und im Saarland zu gewinnen. Die Partei sieht sich in Phase zwei des Projektes eines »sozialdemokratischen Jahrzehnts«.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Bernhard Müller Redakteur von Sozialismus.de.

[1] Vgl. dazu Joachim Bischoff/Gerd Siebecke, Linke Sonderungsideen für Rot-Grün-Rot, in: Sozialismus.de Aktuell, 6.9.2021; Joachim Bischoff/Bernhard Müller, Der blinde Fleck der Fortschrittskoalition: soziale Spaltung, in: Sozialismus.de, Heft 2022/1.
[2] Vgl. Redaktion Sozialismus, Runderneuerung der CDU mit Friedrich Merz? In: Sozialismus.de Aktuell 19.12.2021.

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