26. September 2024 Benjamin-Immanuel Hoff
Wahlen in Zeiten der Unsicherheit
Rund acht von zehn Bundesdeutschen, so ermittelte Infratest dimap im Januar 2024, sahen verunsichert auf das vor ihnen liegende Jahr. Nur für 13% von ihnen lieferten die Verhältnisse in Deutschland Anlass zur Zuversicht, wohingegen 83% sich beunruhigt äußerten. So wenig zuversichtlich waren die Bundesdeutschen laut dem DeutschlandTREND zuletzt vor rund 20 Jahren.
Das tiefenpsychologisch arbeitende rheingold Institut in Köln kommt in einer Untersuchung für die Identity Foundation aus dem Sommer des vergangenen Jahres »Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit« (rheingold Institut 2023) zu ähnlichen Erkenntnissen. Weniger als ein Viertel der Befragten findet beim Blick auf die Politik Zuversicht, während jeder Sechste sich von den Krisenlagen der Gegenwart überfordert fühlt. Während zwei Drittel der Überzeugung sind, dass man in Deutschland den Lebensstandard wird nach unten korrigieren müssen, vertraut ein Drittel darauf, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse wieder verbessern. Ein Anteil von gerade einmal 39% informiert sich laut rheingold Institut noch ausführlich über das Weltgeschehen. Dies deckt sich mit den Januar-Daten von Infratest dimap, laut denen mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten den Nachrichtenkonsum häufig oder gelegentlich vermeidet.
Auf das als bedrohlich wahrgenommene Grundgefühl im Sinne einer gesellschaftlichen »Endzeitstimmung« reagieren die Bürger*innen mit Strategien der Verdrängung und dem Rückzug ins Private: »Der Krieg in der Ukraine, der Klimawandel oder die Migrationskrise werden von den meisten Menschen in ihrem Alltag ausgeblendet. […] Das wirkt wie ein Vorhang der Verdrängung, der das private Leben zusehends von der öffentlichen Sphäre trennt. Lediglich die für den persönlichen Alltag relevanten Themen wie Inflation, die Energiekrise oder die zunehmende Entzweiung der Gesellschaft kommen noch in die Wahrnehmung. […] Der Fokus der Bürger wird auf die Stabilisierung der eigenen Lebenswelt gerichtet. Die drängendsten Ängste haben die Menschen daher vor einem persönlichen Autonomieverlust. Die am Beginn der Coronakrise und des Ukrainekrieges erlebten Ohnmachtsgefühle sollen sich nicht wiederholen.« (rheingold Institut 2023)
Bereits im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 diagnostizierte das Kölner Institut (»Rückzug ins Schneckenhaus statt Aufbruch-Stimmung vor der Bundestagswahl«, rheingold Institut 20921) ein »Machbarkeits-Dilemma«: Angesichts einer nur als ausgesprochen gering eingeschätzten Selbstwirksamkeit, zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme beitragen zu können, konzentrieren sich die Wahlberechtigten darauf, ihren privaten Alltag zu gestalten und darin Erfüllung und Selbstwirksamkeit zu finden. Die globalen und nationalen Probleme, Jahrhundertereignisse wie Hochwasser etc. werden zwar wahrgenommen als Ausdruck von notwendigen Veränderungen. Doch wird aus unterschiedlichen Gründen vor den damit verbundenen Einschränkungen und Zumutungen zurückgeschreckt. Gesucht wird deshalb einerseits nach der charismatischen Persönlichkeit, »die sich der bevorstehenden Herkulesaufgabe annimmt und sie [die Wählerinnen und Wähler] kraftvoll aus den Problemen herausführt, andererseits konstatieren sie mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung, dass es solch eine Führungsgestalt eben nicht gibt. Die vermeintliche Schwäche der Kandidat*innen entbindet die Wähler*innen davon, selbst Stärke und Konsequenz angesichts der riesigen Herausforderungen zeigen zu müssen.«
Erfolgreich sind angesichts dieser Grundstimmung mit der AfD und dem BSW diejenigen politischen Kräfte, deren Geschäftsmodell in der Bewirtschaftung von Angst besteht und die eine Vergangenheit beschwören, die als Zukunft wiederherzustellen wäre. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder sieht, bei großer Distanz und Unterschieden, fünf Gemeinsamkeiten zwischen beiden Parteien. Eine davon besteht in der Inszenierung als Anti-Grünen-Partei.
Benjamin-Immanuel Hoff ist Sozialwissenschaftler, war ab 2014 Chef der Thüringer Staatskanzlei. Sein Blog heißt »Nachdenken im Handgemenge«, sein Podcast »Viertelstunde Thüringen«. Im VSA: Verlag gab er 2023 den Band »Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird« heraus.