1. Juli 2004 Redaktion Sozialismus

Wahlen, Profit, Moral

Zehn Millionen Wähler, die bei der Bundestagswahl 2002 der Sozialdemokratie noch ein politisches Mandat erteilt hatten, haben sich bei den Europawahlen als aktive Nichtwähler verhalten und dem Kurs der Bundesregierung ihr Misstrauen ausgesprochen. "Desaster", "Allzeit-Tief", "Kanzler-Dämmerung" lauteten die Wahlkommentare. In der Tat: ein historisch beispielloser Niedergang der SPD – aber es ist noch nicht das Ende. Die Kaskade der Wahlniederlagen wird noch weitergehen. Wenn es denn so etwas wie einen Münte-Effekt gibt, dann wirkt dieser über eine verbesserte Kommunikation sozialdemokratischer Funktionäre bis heute sicherlich kaum hinaus.

Trotz vordergründiger Erfolge hat auch das bürgerliche Lager bei den jüngsten Wahlen einen Rückgang an Zustimmung zu verzeichnen. Wahlenthaltung und Erlahmen des politischen Engagements machen auch den Unionsparteien – wenn auch nicht in dem Umfang wie bei der Sozialdemokratie – zu schaffen. Nikolaus Piper ermahnt in der "Süddeutschen Zeitung" die wirtschaftliche und politische Elite: "Politiker und Wirtschaftsführer sollten die Wut sehr ernst nehmen. Die letzte Europawahl hat gezeigt, wie ein Protest gegen die Eliten in Unternehmen und Staat aussehen kann, wenn die Modernisierung über die Köpfe der Menschen hinweg geht."

Worin sieht Piper den Grund des Protestes? Der Pharmakonzern Schering, ein höchst profitables Unternehmen, will seine Eigenkapitalrendite von 14% auf 18% und mittelfristig auf den im internationalen Pharmageschäft üblichen Satz von 25% hinauf drücken. Der Weg zu diesem Ziel läuft über deutliche Produktivitätssteigerungen verbunden mit Lohnzurückhaltung und flexiblerem Arbeitskräfteeinsatz: rund 900 Arbeitsplätze sollen wegrationalisiert werden. Schering ist kein Einzelfall. Bei DaimlerChrysler sind rund 10.000 Arbeitsplätze von der Steigerung der Eigenkapitalrentabilität betroffen – ebenso viele sind es bei Siemens. Verlagerungsdrohungen in Billig-Lohn-Zonen grassieren in den Werkhallen.

Die Verlierer sind zahlreich: Langzeitarbeitslose und frisch Entlassene, Beschäftigte mit gekürztem Lohn und noch stressigeren Arbeitsbedingungen, aber auch die Sozialkassen, die mit weniger Beiträgen auskommen und gleichzeitig höhere Krisenlasten bewältigen müssen. Und als Sahnehäuptchen kommt das Ausnutzen von Steuerschlupflöchern oben drauf (siehe Vodafone). Ist das noch anständig, demokratisch, patriotisch? Piper meint: "Ja, die Gewinne müssen steigen, wenn es irgendwann wieder neue Jobs geben soll. Das bedeutet aber noch nicht, dass deshalb gleich alle Bosse mehr verdienen müssen."

Die Gewinner der allgemeinen Profitsteigerung sind die Aktionäre (d.h. die Vermögensbesitzer) und das Management. Zuletzt wurden sie massiv von der rot-grünen Steuerreform begünstigt. Getreu der Formel: "Wer seine Aktionäre reich macht, soll selbst reich werden können." Das Resultat bezeichnet Ex-Bundeskanzler Schmidt als "Raubtierkapitalismus". Seiner Meinung nach liegt die Wurzel der Missstände (Bereicherung der Vorstände, Bilanzfälschungen, Anstieg der Wirtschaftskriminalität, Abschreibungswahn etc.) im Verfall von Moral und Anstand in Teilen der wirtschaftlichen Elite. "Wo Kapitalismus und Moral sich gegenseitig ausschließen, dort stecken wir bereits tief im Sumpf." Am tiefsten ist dieser Sumpf in jenen "unpatriotischen Unternehmen", die ihre Unternehmenssitze aus Steuerersparnisgründen ins Ausland verlagern und im Inland Lohnzurückhaltung, längere Arbeitszeiten und Verzicht auf Sozialleistungen fordern.

Aber war dies nicht immer so im Kapitalismus? Ja, aber heute sind nicht nur die Maßverhältnisse verrückt, sondern die innerbetrieblichen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Nicht die Moral – die Orientierung am Begriff des "ehrbaren Kaufmanns" – bleibt auf Strecke, sondern das System von Kräften und Gegenkräften im Unternehmen und zu den öffentlichen Institutionen ist immer mehr auf die schiefe Ebene geraten. Der Shareholder value bestimmt die Unternehmensrealität.

Wenn nach der Ankündung von Personalabbau oder dem Drücken der Arbeitseinkommen die Börsenkurse positiv reagieren, dann ist dies nur der finanzpolitische Ausdruck einer erfolgreichen Steigerung der Eigenkapitalrendite. Die Machtverhältnisse im Unternehmen werden nicht mehr von den Eigentümerfamilien oder einer Allianz von Management und Unternehmerfamilien bestimmt, sondern die Investoren – Fonds, Vermögensverwalter, etc. – bestimmen die Ausgestaltung der Verwertungslogik. Die Wertschöpfung wird konsequent auf die Bereicherung der Investoren ausgerichtet. Die Ansprüche der wirklichen Produzenten und der öffentlichen Institutionen sind nachgeordnet. Seit Jahren dominiert die absurde Logik der Steuersenkung für Unternehmen und Vermögende mit dem Ziel, sie könnten ihre erfolgreiche Bereicherung in neue Arbeitsplätze umsetzen. Die Masseneinkommen stagnieren, die Belastungen durch Beschneidung von Sozialleistungen werden größer, der öffentliche Sektor wird durch die absurde Steuersenkungspolitik kaputt gespart und die Privatisierung von Gütern und Diensten sowie die Verlängerung der Arbeitszeiten verfestigen den Marsch in die gesellschaftspolitische Sackgasse.

Was tun? Einige der skizzierten Missstände könnten durch Gesetzesänderungen eingeschränkt werden, was von Unternehmerseite sofort als neue Investitionsblockade skandalisiert würde. Aber ein neues Gleichgewicht in den Unternehmen und im Verhältnis von Unternehmen zu sozialen Sicherungsinstitutionen und öffentlichem Sektor unterstellt mehr als einzelne Gesetze zur Begrenzung der aggressiven Logik des Shareholder value. Wir sind mit einer umfassenden gesellschaftspolitischen Herausforderung konfrontiert. Es geht um einen radikalen Kurswechsel in den Verteilungsverhältnissen, um die Rückeroberung des politischen Gestaltungswillens gegenüber der Wirtschaft und damit um eine umfassende Neuordnung der Unternehmensverfassung. Die Unternehmen entwickeln zu wenig Innovationen, die Wertschöpfung wird auf die Erfüllung der Ansprüche der Anteilseigner verengt, die Beteiligung der eigentlichen Produzenten des Reichtums wird auf ein Minimum beschränkt, was eine sozial-ökonomische Abwärtsspirale eröffnet. Die wirtschaftliche Elite ignoriert die zivilisatorischen, aufklärerischen Seiten des Verwertungsprozesses. Oder – wie die FAZ vermutet - Deutschland ist eine Nation ohne Elite. Natürlich gebe es in diesem Land eine Oberschicht, die eine gewisse Ausstrahlung habe, aber sie sei ohne gesellschaftliche Prägekraft und sie habe die "Nation" auf ein betriebswirtschaftliche Größe herabgestuft.

Gerne berufen sich die "Strategen" im Willy-Brandt-Haus auf Strukturveränderungen: Globalisierung, Demografie, Verschuldung, um ihre TINA-Formel zu legitimieren. Die entscheidenden Strukturveränderungen eines Finanzmarkt-getriebenen Kapitalismus haben sie selbst mit befördert. Egal, welche Ausweichmanöver – Mindestbesteuerung von Unternehmen, Erbschaftsteuer – in den nächsten Monaten möglicherweise noch gefahren werden: Es zeichnet sich ab, dass die SPD am Ende dieser Legislaturperiode als Volkspartei politisch am Boden liegt. Damit wird auch die Hoffnung vieler linker Sozialdemokraten illusionär, dass sich die Partei in der Opposition regenerieren könnte. Wir haben es nicht nur mit einem massiven Protest von Mitgliedern und WählerInnen an der sozialdemokratischen Regierungspolitik zu tun, sondern die langjährige Verzahnung von Gewerkschaften, Sozialverbänden und Sozialdemokratischer Partei ist aufgesprengt. Im aktuellen Niedergang wird handgreiflich, was Sozialforscher schon lange vermelden: Das sozialdemokratische Milieu des fordistischen Zeitalters hat sich verflüchtigt.

Von neusozialdemokratischen "Reformern" wurde diese Entwicklung immer als "Modernisierung" begriffen. Sie beschleunigen diesen Strukturwandel, indem sie die Zersetzung und Fragmentierung der Lohnarbeitsgesellschaft zu ihrem eigenen Programm erhoben haben. Während Arbeitslose und Beschäftigte in prekären, temporären Beschäftigungsverhältnissen von einem sozial zynischen Arbeitsmarkt- und Sozialamtsregime kujoniert werden, geraten diejenigen Arbeiter- und unteren Angestelltengruppen, die noch auf eine relativ stabile Erwerbsbiographie zurückblicken, aufgrund der generellen Arbeitsplatzunsicherheit unter den Druck eines zunehmend disziplinierenden Unternehmensregimes. Demgegenüber ist das politische Angebot für die lohnabhängigen Mittelklassen derart ausgelegt, dass die Stiftung von Solidarität systematisch eingeschränkt wird, indem die Verteidigung der sozialen Lage zunehmend an "Vermögenseffekte" gebunden wird – betrifft dies nun den Zahnersatz, die private Altersvorsorge oder die Ausbildung der Kinder. Mit der Privatisierung und Herabstufung sozialer Sicherung auf Armutsfürsorge (man denke an die Effekte der Hartz IV-Gesetze, die wachsende Alters- aber auch Kinderarmut) wird die historische Fortschrittsleistung der modernisierten Arbeiterbewegung der Nachkriegszeit demontiert, die für sozialen Ausgleich und die im Alltag erfahrbare Perspektive gesamtgesellschaftlicher Solidarität gesorgt hatte.

Hier liegt der Kern dessen, was man als "Parteienverdrossenheit" oder – weiter gefasst – als "Krise der politischen Repräsentanz" bezeichnet. Harmlose Begriffe, wenn man sich vergegenwärtigt, dass seit ungefähr Mitte der 1980er Jahre Arbeitslosigkeit das absolut dominante Problem der Menschen in dieser Republik ist – und sich nichts ändert als der Druck, der von ihr ausgeht. Man muss schon mit Blindheit geschlagen sein, um nicht zu erkennen, wie stark der Druck im Kessel mittlerweile geworden ist. Wahlenthaltung oder Wahlverweigerung sind legitime politsche Optionen. Gleichwohl führen eine geringe Wahlbeteiligung und hohe Mitgliederverluste zur Erosion gesellschaftlicher Willensbildung. Die weitere Entwicklung ist vorzeichnet: Zersplitterung der Parteienlandschaft, immer stärkerer Rückgriff auf machtpolitische Tricksereien, wenig Aufklärung, immer schwierigere Konsensbildung. Die Entfremdung zwischen der Zivilgesellschaft und dem politischen System wird zum Markenzeichen vermeintlich entwickelter demokratischer Gesellschaften. Diese labile Konstellation kann immer durch rechtspopulistische Manöver aufgebrochen werden, wie wir es schon verschiedentlich in Europa erlebt haben.

Wir müssen das Engagement der BürgerInnen für und in der Politik fördern, wir brauchen neue politische Formationen und wir brauchen sicherlich den berühmten langem Atem, wenn eine Trendwende erreicht werden soll. Es liegt aber auch an den neuen Formationen: Wenn lediglich der Niedergang der Sozialdemokratie kompensiert werden soll, dann hat ein solcher Ansatz wenig Erfolgsaussichten. Die Zerstörung des sozialdemokratischen Milieus ist eine Tatsache; wer das Projekt der politischen und sozialen Emanzipation weiterführen will, muss eine neue politische Kultur unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts entwickeln.

Der Parteivorsitzende der PDS, Bisky, hat angekündigt, "auf gleicher Augenhöhe" mit den Neuformierungsansätzen "Wahlalternative" und "Initiative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit" über die Aufstellung der Linken zu den nächsten Bundestagswahlen in 2006 oder vorgezogen in 2005 diskutieren zu wollen. Initiativen, die dazu beitragen, dass sich die politische Linke nicht zersplittert, sondern ihre Kräfte bündelt, sind wichtig. Aber sie können nur funktionieren, wenn sie im Sinne gesellschaftlicher Aufklärung wirken – wenn sie der Profilierung und Verbreitung von überzeugenden Alternativen zur Agenda 2010 mit der weitergehenden Perspektive sozialer Emanzipation dienen. Hier besteht zur Zeit der größte Diskussions- und Klärungsbedarf.

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