26. Oktober 2022 Christine Morgenstern: Frauenpolitik für eine gerechte Gesellschaft

Was ist zu tun?

»… eine Welt, die so ungerecht bleibt, wie sie ist, nur dass das Verhältnis von Frauen und Männern überall fifty-fifty beträgt (…), ist kein Fortschritt (…) Ungerechte Geschlechterverhältnisse (…) sind lediglich Symptome von Ungerechtigkeiten, die viel tiefer liegen. Deshalb können sie auch nicht mit oberflächlichen Gleichstellungsinitiativen gelöst werden, sondern verlangen radikale, an die Wurzel gehende Analysen und Aktionen.« (Antje Schrupp)


Eine offensive Gleichstellungspolitik

Die alte und die Neue Frauenbewegung haben maßgeblich dazu beigetragen, dass scheinbar rein private Bereiche wie Ehe und Familie, Sexualität, Schwangerschaft, Kindererziehung und Gewalt zu gesellschaftlichen und politischen Themen geworden sind. Sie haben das Bewusstsein dafür geschärft, dass diese Bereiche im Lichte der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu sehen sind und dass strukturelle Verbesserungen für Frauen in Richtung Gleichberechtigung nur mit strukturellen Maßnahmen erreicht werden können. Dazu ist eine Politik notwendig, die insgesamt auf eine gerechte Verteilung von Arbeit, Macht, Geld und Zeit abzielt.

Für die Frauen- und Gleichstellungspolitik bedeutet das: Die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern, die noch immer prägende Kraft hat, muss im Lichte der gesellschaftlichen Verhältnisse gesehen und grundlegend verändert werden. Sie sichert die volle Arbeitskraft der männlichen Erwerbstätigen, die von Haus- und Familienarbeit lange Zeit vollkommen entlastet waren und den Nachwuchs an Arbeitskräften. Diese »Reproduktionsarbeit«, die auch heute noch überwiegend von Frauen geleistet wird und die essenziell für die Familie und für die Gesellschaft (auch für die Wirtschaft!) ist, blieb und bleibt quasi unsichtbar, weil sie nicht als »Arbeit« wahrgenommen wird, sondern als Ausdruck von Liebe und Fürsorge.

Dort, wo sie auf dem Arbeitsmarkt sichtbar ist, in den sozialen Berufen (typischerweise »Frauenberufen«), wird sie skandalös schlecht bezahlt, nicht zuletzt, weil sie keinen »Marktwert« hat. Dahinter steht ein Menschenbild, das »einen Finanzberater oder einen Waffenproduzenten besser (honoriert) als einen Menschen, der tatsächlich einen Wert für die Gesellschaft erzeugt, also zum Beispiel gesunde Kinder großzieht oder alte Leute versorgt. Ein Frauenthema ist Care-Arbeit nur deshalb, weil sie als weiblich gilt – und Frauen nach wie vor häufiger und mehr Care-Arbeit verrichten als Männer«, wie Ina Praetorius, die in der Schweiz 2015 den Verein »Wirtschaft ist Care« gegründet hat, feststellt.[1]

Viele Hürden wurden bereits genommen, um die geschlechtsspezifische Rollenverteilung aufzubrechen: Im Ehe- und Familienrecht, mit dem Ausbau der Ganztagsbetreuung und den Gleichstellungsgesetzen, mit dem Ausbau des Hilfesystems für von Gewalt betroffenen Frauen und Mädchen und mit wichtigen Gesetzen und Kampagnen. Gleichstellung im Sinne von echter Emanzipation ist aber mehr als moderne Familienpolitik, mehr als Schutz vor Gewalt, mehr als Quoten und Parität. Zur Gleichstellung von Frauen und Männern im Sinne echter Emanzipation gehören ebenso Schutz vor Armut, vor Ausbeutung, vor Diskriminierung und vor Marginalisierung. Nur, wenn die Gleichstellungspolitik auch diese sozialen Themen in den Blick nimmt, und auf die politische Tagesordnung setzt mit dem Ziel einer gleichberechtigten und sozial gerechten Gesellschaft, wird die Emanzipation aller Frauen nachhaltig zu erreichen sein.

Christine Morgenstern hat viele Jahre in der Landesregierung Rheinland-Pfalz die Frauenabteilungen in den jeweils zuständigen Ministerien geleitet. Vom Mai 2015 bis zu ihrem Ruhestand im Februar 2019 war sie Leiterin der Abteilung Gleichstellung im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Bei diesem Beitrag handelt es sich um das Schlusskapitel ihres gerade im VSA: Verlag erschienenen Buches »Gleichstellung. Impulse aus der Frauenbewegung und Erfahrungen aus einem Vierteljahrhundert Frauenpolitik«.

[1] Ina Praetorius: »Care-Arbeit: ›Wer hat eigentlich verdient, gut zu leben?‹«, 11.2.2019; www.zeit.de/arbeit/2019-01/care-arbeit-pflege-kinder-eltern-ina-praetorius

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