25. April 2013 S. Dittes/K. König/M. Renner/C. Schaft/S. Trostorff/P. Wellsow

Was war der NSU?

Thesen zum rechten Terror und dem systembedingten »Versagen« der Behörden

Im November 2011 flog auf, dass eine Gruppe Thüringer Neonazis unter dem Namen »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) jahrelang unerkannt gemordet und gebombt hatte. Zehn Tote und zahlreiche Schwerverletzte hinterließ die Gruppe, die sich offenbar auf ein breites Unterstützungsnetzwerk stützen konnte. Seit 15 Monaten bemühen sich nun zahlreiche JournalistInnen, antifaschistische Initiativen und vier parlamentarische Untersuchungsausschüsse um Aufklärung der Fragen: Was war der NSU und warum wurde die Gruppe nie erkannt und gestoppt? Trotz intensiver Arbeit in den Ausschüssen, Info-Lecks in Behörden und guten Recherchen von Medien und Initiativen ist eine abschließende Bewertung des NSU, des rechten Terrors und vor allem des Agierens des Staates bisher nicht möglich. Um uns aber einer Erklärung des Geschehenen zu nähern, wollen wir Thesen zur Diskussion stellen:

1. Das Problem heißt Rassismus:
Nicht allein der mörderische Rassismus der Neonazis, sondern auch der in der Gesellschaft verbreitete Rassismus haben die Morde und Anschläge des NSU befördert. Immer wieder berichten Neo­nazis, dass sie sich als »Vollstrecker« einer »Volksmeinung« fühlten und von den rassistischen und nationalistischen Einstellungen in der Gesellschaft beflügelt wurden. Der – in Ost und West vorhandene – Alltagsrassismus endete in Anschlägen auf Heime für AsylbewerberInnen, der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl und dem Tod zahlreicher Menschen durch rechte und rassistische Gewalt. Aber auch der Staat und die Gesellschaft waren unfähig oder unwillig, die rassistischen Motive hinter den Morden und Anschlägen des NSU zu erkennen. Dass bei den Ermittlungen vor allem die Opfer, ihre Familien, ihre Angehörigen und ihr Umfeld grundlos ins Visier gerieten, ist Ausdruck von Rassismus in den Behörden. Medien übernahmen die Darstellungen der Behörden im Fall der so genannten »Döner-Morde« damals ungeprüft.

2. Rechter Terror ist in Deutschland nicht neu:
In der Geschichte der Bundesrepublik gab es immer wieder rassistische und rechte Gewalt. Bis zu 180 Tote und ungezählte Verletzte allein seit 1990 zeigen in aller Deutlichkeit die Dimension des Problems. Eine Reihe von Taten und Tatplanungen seit den 1950er Jahren – Morde, Anschläge, Attentatsplanungen oder Waffen- und Sprengstoffsammlungen – müssen als rechter Terror bezeichnet werden. Das Attentat auf das Münchener »Oktoberfest« 1980 durch einen Neonazi ist dabei wohl das bekannteste Beispiel. Auch die Vorgehensweise und die Strategie des NSU waren nicht neu. Taten ohne Bekennerschreiben, gezielte Morde an (männlichen) MigrantInnen oder der Einsatz von verheerenden Nagelbomben waren – auch international – wiederholt Tatmuster von Neonazis.

3. Neonazis propagierten offen den »Rassenkrieg«:
Schon zu Beginn der 1990er Jahre hatte sich im Umfeld des Neonazi-Netzwerkes »Blood & Honour« (B&H) mit »Combat 18« eine Terrorstruktur gebildet, die in Schriften wie »Der politische Soldat« den »bewaffneten Rassekrieg«, also den vermeintlichen Kampf um das Überleben der »weißen Rasse« gegen »Überfremdung« und »Multikulti«, in kleinen Zellen propagierten. Sie wollten »Furcht und Terror unter den Feinden« verbreiten. Auch in anderen Medien, Foren und Strukturen der Neonazi-Szene wurden immer wieder – auch öffentlich bekannt – der Gang in den Untergrund, politische Morde und Anschläge diskutiert, beworben, vorbereitet und zum Teil sogar praktiziert.

4. Die Gefahr des Neonazismus wurde verharmlost:
Trotz der bekannten Planungen und Taten wurde kontinuierlich die Gefahr von rechts verharmlost. Das zeigte sich unter anderem in einem Thesenpapier des Thüringer Geheimdienstes, in dem zur Frage des richtigen politischen Umgangs mit Neonazis »Gelassenheit und Akzeptanz« empfohlen wurde: »Empfehlung zur Gelassenheit und Akzeptanz der Ränder in vertretbarem Maße, ohne die eigenen Ziele aus den Augen zu verlieren. Aufrufe an die Öffentlichkeit, Zivilcourage nützen nichts, führen maximal zu einer Hypersensibilisierung, die zum ›Hexenjagdklima‹ führt und gegebenenfalls nicht existente Probleme im Sinne einer ›self fulfilling prophecy‹ herbeibetet.« Die von den Thüringer Behörden geforderte »Gelassenheit« im Umgang mit Neonazis endete für viele MigrantInnen, alternative Jugendliche und Linke mit dem Verlust der körperlichen Unversehrtheit und in einigen Fällen mit dem Tod. Annahmen von Behörden und politisch Verantwortlichen, es würde sich bei Neonazi-Überfällen allein um Gewalt zwischen rivalisierenden Jugendgruppen, um Taten unter Alkoholeinfluss oder von EinzeltäterInnen handeln, waren grobe Fehleinschätzungen und führten zu einer Entpolitisierung und Verharmlosung von Taten und TäterInnen.

5. Rechter Terror wurde geleugnet:
Die Existenz von organisierten Terrorstrukturen wurde durch Geheimdienste, konservative PolitikerInnen und »Extremismus-Experten« bis zum November 2011 – mit wenigen Ausnahmen – durchgängig und trotz besseren Wissens geleugnet. Allein die Möglichkeit organisierten rechten Terrors in der Bundesrepublik wurde regelmäßig in das Reich der braunen Fabeln verbannt. In »Verfassungsschutzberichten«, Studien und öffentlichen Stellungnahmen wurde Entwarnung gegeben und so die Bedrohung verharmlost.

6. Braune Kontinuitäten:
Eine Ursache dafür, dass in den Sicherheitsbehörden der Bundesrepu­blik und in Teilen der Politik die Gefahr von rechts tendenziell verharmlost und eine Bedrohung von links dagegen aufgebauscht wurde, mag auch in personellen Kontinuitäten nach 1945 aus dem Nationalsozialismus begründet sein. Die Netzwerke der »Alten Kameraden« konnten hier oftmals effektiv und lange wirken. Die braun durchsetzte Gründungsgeschichte von »Verfassungsschutz«, »Bundesnachrichtendienst« und »Militärischem Abschirmdienst« geben deutliche Hinweise.

7. Neonazi-Szene der 1990er Jahre: Aufbauhilfe aus dem Westen, Wurzeln in der DDR:
Anfang der 1990er Jahre entstanden in den neuen Bundesländern – so auch in Thüringen – Vorläuferorganisationen der heute als »Freie Kameradschaften« bekannten Neonazi-Gruppen. Aufbauhilfe erhielten sie über Jahre von bundesweit bekannten Neonazis. Andocken konnten die bundesweit aktiven Neonazi-Größen aus dem Westen (Michael Kühnen, Christian Worch, Manfred Roeder, Friedhelm Busse etc.) an bereits in der DDR vorhandene rechte Gruppen. Kühnen entwickelte 1990 das Papier »Arbeitsplan Ost«, in dem beschrieben wurde, wie militante Neonazi-Strukturen in Ostdeutschland aufgebaut werden sollten. Aufbauend auf ersten Organisationserfolgen folgte die zunehmende Strukturierung der Szene. Sie wurde unter anderem auch durch falsche Ansätze in der Jugendarbeit befördert. Die Zurverfügungstellung von Räumen für die Neonazi-Szene und Rechtsrock-Bands in Jugendclubs ermöglichte oftmals erst Treff- und Anlaufpunkte.

8. Festigung militanter Neonazi-Strukturen:
In Thüringen trat ab 1994 die »Anti-Antifa Ostthüringen« in Erscheinung, ein Sammelbecken diverser Neonazi-Gruppen unter anderem aus Jena, Saalfeld-Rudolstadt, Gera und Sonneberg. Verstärkt kam es zu rechten Gewalttaten, Aufmärschen und Aktionen der Szene. Der 1996 gegründete »Thüringer Heimatschutz« (THS) führte zu einer weiteren Strukturierung und Vernetzung der Neonazi-Szene in Thüringen. In fast allen größeren Städten entstanden Sektionen des THS, nahm die Vernetzung der Szene, die Anzahl der AktivistInnen und die Zahl der Straf- und Gewalttaten deutlich zu. Der THS bot mit Aufmärschen, Kundgebungen, Konzerten und Gewalt all das, was das braune Herz begehrte. Die »Anti-Antifa-Ostthüringen« sowie der THS waren das direkte politische Umfeld, in dem die späteren NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe bis zu ihrem Untertauchen 1998 aktiv waren. Der überregional organisierte und bundesweit vernetzte, aktivistische und militante Zusammenschluss von Neonazis war nicht nur die politische Heimat des späteren NSU, sondern Quellorganisation und Geburtsort der mörderischen Ideologie der Terrorstruktur.

9. Die Entwicklung der militanten Thüringer Neonazi-Szene war eng mit dem V-Mann Tino Brandt verknüpft:
Zwei Monate nach der Anwerbung von Tino Brandt als Spitzel des Thüringer Geheimdienstes im Sommer 1994 trat erstmals die von Brandt mit aufgebaute »Anti-Antifa-Ostthüringen«, die Vorläuferorganisation des »Thüringer Heimatschutzes« (THS) öffentlich in Erscheinung. Brandt war bis zu seiner Enttarnung de facto wichtigster Aktivist und Chef des THS. Der Aufbau neonazistischer Strukturen geschah in Thüringen mit Wissen und Duldung des »Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz« (TLfV). Seinen hohen Spitzellohn will Brandt in die politische Arbeit gesteckt haben. Die Frage, ob der Thüringer Geheimdienst die Bildung des THS über seine »Topquelle« auch direkt befördert hat, ist noch offen. Dennoch gilt der THS als »Kind des Verfassungsschutzes«.

10. Der Thüringer Geheimdienst verstieß gegen Regeln der Verfassungsschutzbehörden:
Die Arbeit eines Nachrichtendienstes darf – laut eigenen Regularien – nicht durch die Beteiligung von V-Personen am Aufbau und der Leitung »extremistischer Organisationen« ins Gegenteil verkehrt werden. Nicht nur in Thüringen standen aber Führungskader der Neonazi-Szene – auch StraftäterInnen – kontinuierlich und nicht nur in Einzelfällen als V-Leute im Dienst des Geheimdienstes. Das Amt verstieß mit seinem Handeln so gegen Regeln der »Verfassungsschutzbehörden«. Der Fall des früheren NPD-Funktionärs und Spitzels Kai-Uwe Trinkaus zeigt, dass dieses Agieren offenbar bis in die Gegenwart praktiziert wurde.

11. Strafverfolgung wurde behindert:
Mindestens in einem Fall wurden Strafverfolgungsmaßnahmen der Polizei durch den Thüringer Geheimdienst be- oder sogar verhindert. Der Neonazi-Spitzel Brandt erhielt mindestens in einem Fall Informationen über bevorstehende Durchsuchungsmaßnahmen. Die Polizei fand bei der Razzia nur noch eine von möglichem belastenden Material »aufgeräumte« Wohnung vor. Insgesamt wurden gegen Brandt 35 Ermittlungsverfahren angestrengt, verurteilt wurde er nie. Auch in weiteren Fällen hatten in Thüringen und bundesweit Polizeibeamte den begründeten Verdacht, dass V-Leute durch den Geheimdienst vor Repressionen gewarnt wurden. Bei Ermittlungen und Strafverfahren hätte oftmals eine »schützende Hand« über ihnen geschwebt, kritisierten sie.

12. Behörden agierten als Aufbauhelfer des Neonazismus:
Durch die Alimentierung von Funktionären durch Spitzelhonorare, die auch in die Szene flossen und Neonazis erst ermöglichten, politische Arbeit zu leisten, und durch die Be- oder gar Verhinderung von Strafverfolgung haben Geheimdienste zumindest in den 1990er Jahren militante Neonazi-Strukturen gestützt, die sie in der Logik eines als Nachrichtendienst institutionalisierten »Verfassungsschutzes« eigentlich als Gefahr hätten bekämpfen sollen. Der Fall Trinkaus lässt es als wahrscheinlich erscheinen, dass an dieser Praxis wenig bis nichts verändert wurde.

13. Das Umfeld des NSU war von Spitzeln durchsetzt:
Der THS und das spätere Unterstützer­Innen-Umfeld des NSU war mit mehreren V-Leuten verschiedener Geheimdienste durchsetzt. Bis zu 24 Personen werden heute in diesem Zusammenhang genannt. Mehrere V-Leute hatten Kontakt zu den Abgetauchten und berichteten darüber auch den Ämtern. Angesichts der daraus zwangsläufig folgenden Informationsdichte ist die Erfolglosigkeit der Behörden kaum mehr als fehlerhaft zu bezeichnen, sondern offenbar Folge des absichtsvoll falschen Umgangs mit Informationen.

14. Das »Versagen« der Geheimdienste war systemimmanent:
Es ist falsch, im Fall des NSU und des Umgangs mit militanten Neonazi-Organisationen von »Fehlern« oder dem »Versagen« des Geheimdienstes und einzelnen (prominenten) Mitarbeitern der Dienste zu sprechen. Das in weiten Teilen kontrollfreie und verselbstständigte Agieren der Dienste, das Selbstverständnis eines geheimen Nachrichtendienstes, die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Neonazis als InformantInnen und ein »heiliger« Schutz von Quellen (»V-Leute«) sind wichtige Gründe für die Unfähigkeit eines Nachrichtendienstes zur Auseinandersetzung und Bekämpfung des Neonazismus. Somit ist das »Versagen« der Behörden dem System eines Geheimdienstes immanent.

15. Der NSU ist keine »Zelle«, sondern ein Netzwerk:
Der NSU hatte zwar in Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe seinen Kern. Doch die große Zahl bekannter UnterstützerInnen des NSU zeigt, dass er keine von der übrigen Neonazi-Szene abgeschottete »Zelle« war oder ist. Es gab einen größeren, offenbar mehr als 100 Personen zählenden Kreis von direkten oder indirekten UnterstützerInnen und Kontaktpersonen, die das Leben der drei im Untergrund abgesichert oder unterstützt haben und selbst auf vielfältige Weise in legale Strukturen der Szene und neonazistische Parteien, wie der NPD, eingebunden sind oder waren. Ob mit dem Tod zweier Personen und der Verhaftung des engsten Kreises der NSU vollständig zerschlagen ist, bleibt unklar.

16. Die Behauptung, der NSU hatte keine Unterstützung vor Ort, scheint unglaubwürdig:
Die von Behörden als Tatsache dargestellte Behauptung, die Täter des NSU hätten vor Ort an den Tatorten keine HelferInnen gehabt, ist aufgrund der lange bestehenden engen und guten Verbindungen der späteren NSU-Mitglieder, zum Beispiel zu Städten ihrer Taten wie Nürnberg oder Stuttgart/Heilbronn, unglaubwürdig. Das belegt allein die bei der Razzia 1998 gefundene Telefonliste. Dass sich die Täter dieser Kontakte bei ihren Mord- und Überfall-Touren nicht bedient haben, um Tatorte auszukundschaften, Opfer auszuwählen und sichere Fluchtwege und Rückzugsräume zu organisieren, ist kaum wahrscheinlich.

17. Die Gefährlichkeit der drei Rechtsterroristen war früh erkennbar:
Die drei späteren Mitglieder des NSU Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe waren alle frühzeitig als gewalttätige Neonazis in der Öffentlichkeit und bei den Behörden bekannt und zum Teil einschlägig verurteilt. Der Grund für ihr Untertauchen 1998 war der Fund ihrer Bombenwerkstatt inklusive fertig gebauter Sprengsätze. Sie waren prononcierte AktivistInnen des THS sowie der »Kameradschaft Jena« und galten als AnhängerInnen von B&H. Die Neonazi-Strukturen, in denen sie jahrelang in der Legalität agierten, waren für ihre Militanz und ihre Gewaltbereitschaft sowie für den Umgang mit Waffen bekannt. Zschäpe war dabei nicht lediglich Mitläuferin, die in die Szene hineingezogen wurde. Sie war bereits in den 1990er Jahren überzeugte und in der Szene eigenständig aktive und gewalttätige Neo­nazistin.

18. Kontakte des Trios wurden von den Behörden nicht beachtet:
Zu den ersten HelferInnen der drei Abgetauchten gehörten »Kameraden« der Sächsischen Sektion von »Blood & Honour«. Die Organisation warb für den »Rassenkrieg« und baute rechtsterroristische Strukturen auf. Gute Kontakte unterhielten sie zu Personen, die sich in der Tradition des rassistischen und gewalttätigen »Ku-Klux-Klans« sahen, der mit Gewalt und Mord den vermeintlichen Untergang der »weißen Rasse« abwenden will. Diese Kontakte waren frühzeitig und problemlos unter anderem durch Erkenntnisse aus der Durchsuchung der Bombenwerkstatt 1998 in Jena erkennbar. Eine damals gefundene Telefonliste von Mundlos liest sich aus heutiger Sicht wie das Who-is-Who des NSU-Netzwerkes. Konsequenzen für die Ermittlungen wurden aus der seit 1998 bekannten Kontaktliste nie gezogen.

19. Die Sicherheitsbehörden hätten von der Bedrohung wissen können:
Die verschiedenen Sicherheitsbehörden hätte von den Vorgängen in der Neo­nazi-Szene wissen können und waren sich der Bedrohung zumindest partiell bewusst: Der damalige Thüringer Präsident des Thüringer Landeskriminalamtes warnte 1997 beispielsweise öffentlich: »Die Rechte löst sich ganz bewusst in eine Art brauner Zellen auf. Sie schotten sich ab und sind dabei, Befehls- und Kommandostrukturen aufzubauen.« Es scheint weder in der Politik noch in den Behörden den Willen gegeben zu haben, die Gefahr des Rechtsterrorismus ernst zu nehmen und auf solche Entwicklungen angemessen zu reagieren.

20. Ungeklärt ist, warum die Fahndung nie Erfolg hatte:
Obwohl die drei Flüchtigen umfangreiche Spuren hinterlassen haben, konnten sie angeblich von den Behörden nie gefunden werden. Auch die so genannten »Döner-Morde«, die Bombenanschläge und die Banküberfälle konnten trotz zahlreicher Spuren weder geklärt noch den drei 1998 abgetauchten Neonazis zugeordnet werden. Den Behörden lagen zahlreiche Informationen zum Aufenthalt, zu Unterstützerstrukturen sowie zur Lebenssituation der Drei vor. Man wusste, dass sie sich bewaffnen, man wusste von Waffen, man wusste von (illegalen) Geldbeschaffungen und man wusste, dass sie ab einem gewissen Zeitpunkt im Untergrund keine Geldsorgen mehr hatten. Zusammengeführt wurden diese Informationen angeblich nie.

21. »Pleiten, Pech und Pannen« als Erklärung greifen zu kurz:
In Bezug auf die Ermittlungen zu den Verbrechen des NSU ist oft die Rede von »Pleiten, Pech und Pannen«. Die­se Erklärung greift jedoch angesichts der Vielzahl von »Fehlern«, »Versäumnissen«, der auffälligen Häufung von »Fehleinschätzungen« und der offenbar gezielten Vernichtung von Akten nach dem Auffliegen des NSU zu kurz. Bisher ist eine bewusste Unterstützung des NSU durch Teile der Sicherheitsbehörden nicht bewiesen. Doch allein mit dem Verweis auf »Fehler« und »Pannen« lassen sich die Vorgänge und vor allem der Versuch mancher Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder, sich der Aufklärung zu entziehen, nicht erklären.

22. Keine Alternative zur ersatzlosen Abschaffung des »Verfassungsschutzes«:
Der als Konsequenz aus dem NSU-Skandal gegenwärtig diskutierte Umbau der Sicherheitsarchitektur hin zu mehr Zentralisierung, mehr Kompetenzen für die Behörden und der Aufhebung des Trennungsgebotes zwischen Geheimdienst und Polizei geht in die falsche Richtung und steht demokratischen und rechtsstaatlichen Vorstellungen entgegen. Die einzige Antwort auf die system­immanenten »Fehlleistungen« und Skandale der Geheimdienste kann nur dessen ersatzlose Abschaffung sein. Ein Geheimdienst ist bei der Auseinandersetzung mit Neonazismus kontraproduktiv und selbst Teil des Problems.

23. Antifa und Zivilgesellschaft statt »Geheimdienst«:
Antifaschistische Initiativen, zivilgesellschaftliche Akteure, Bündnisse gegen Rechts, engagierte PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen sowie fundiert recherchierende JournalistInnen informieren die Öffentlichkeit umfassender und kompetenter über rechte Einstellungen, die Bildung extrem rechter Strukturen oder neonazistische Aktivitäten, als es der »Verfassungsschutz« tut. Sie entwickeln die notwendigen Impulse zum Kampf gegen Rechts. Um die Grundlage für die notwendige Auseinandersetzung mit Neonazismus und mit den in der Gesellschaft verbreiteten rechten Einstellungsmustern (Antisemitismus, Antiziganismus, Homophobie, Islamophobie, Nationalismus, Rassismus ...) zu schaffen, leisten (zivil-)gesellschaftliche Akteure unverzichtbare Arbeit. Statt antifaschistische Initiativen mit »Extremismusklauseln« oder der »Extremismustheorie« zu bekämpfen, müssen sie gezielt gefördert werden.

Der Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem von Bodo Ramelow herausgegebenen Band Schreddern, Spitzeln, Staatsversagen. Wie rechter Terror, Behördenkumpanei und Rassismus aus der Mitte zusammengehen (VSA: Verlag 2013), der am 8. Mai im Thüringer Landtag vorgestellt wird.
Steffen Dittes ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag, Katharina König ist Abgeordnete im Thüringer Landtag, Sprecherin der Fraktion DIE LINKE für Jugendpolitik, Netzpolitik und Antifaschismus sowie Mitglied im Thüringer Untersuchungsausschuss 5/1 zum NSU und rechten Terror, Martina Renner ist stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag, innenpolitische Sprecherin der Fraktion und Mitglied im Thüringer Untersuchungsausschuss 5/1 zum NSU und rechten Terror, Christian Schaft studiert an der Universität Erfurt Kommunikationsforschung mit dem Schwerpunkt politische Kommunikation, Steffen Trostorff ist Jurist und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag zur Begleitung des Untersuchungsausschusses 5/1 zum NSU und rechten Terror, Paul Wellsow ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag, Mitarbeiter im Untersuchungsausschuss 5/2 »V-Leute gegen Abgeordnete« und schreibt unter anderem für das antifaschistische Fachblatt »der rechte rand«.

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