30. Juni 2023 Florian Weis: Anmerkungen zu Willy Brandt anlässlich einer neuen Biografie
Weder Falke noch Taube
Viele Biografien sind über den früheren SPD-Vorsitzenden und Bundeskanzler Willy Brandt (1913–1992) in den letzten Jahrzehnten erschienen, vorwiegend von Journalist*innen, weit seltener von Wissenschaftler*innen.[1] Bemerkenswert an dem aktuellen Buch des langjährigen ZEIT-Journalisten Gunter Hofmann[2] ist, wie stark es die vielen Publikationen verarbeitet, die Brandt selbst seit den 1930er-Jahren verfasst hat.
Ohne Hofmanns Arbeit darauf reduzieren zu wollen, lassen sich doch zwei Hauptmotive seines Buches herausstellen. Zum einen wägt Hofmann vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine seit dem Februar 2022 intensiv ab, welche möglichen Neubewertungen der Brandtschen »Ost«- und Entspannungspolitik gerechtfertigt oder zurückzuweisen sind. Zum anderen, und dies ist vielleicht der spannendste Impuls dieses Buches, kreist Hofmann um die Frage, wie die Bundesrepublik Deutschland mit dem vor den Nazis geflohenen Antifaschisten umging. Immer wieder kommt Hofmann nicht nur auf die Frage zurück, warum Brandt so für seine antifaschistische Haltung und Emigration geschmäht werden konnte, sondern auch, warum er sich dagegen über Jahrzehnte hinweg nicht härter und offensiver zur Wehr gesetzt hat.
Hofmann folgt keinem konventionellen chronologischen Verlauf, sondern greift in Rückblenden, zeitlichen Sprüngen und auch manchen Redundanzen zentrale Motive in Brandts Leben auf. Etwas für »Einsteiger*innen«, die weder als Zeitzeug*innen Teile von Brandts politischem Lebenslauf mitverfolgen konnten noch aus historischer Befassung mit seinem Wirken vertraut sind, ist dieses Buch somit ganz sicher nicht. Allerdings ermöglicht Hofmann originelle Zugänge, da seine Darstellung um Brandts Exil und sein komplexes Verhältnis zu Deutschland sowie um eine Neubetrachtung seiner Entspannungspolitik vor dem Hintergrund des Überfalls auf die Ukraine kreist.
In die Arbeiter*innenbewegung hineingeboren: Links und frei
Willy Brandt, als Herbert Frahm am 18. Dezember 1913 in Lübeck geboren, suchte nicht den Weg in die sozialistische Arbeiter*innenbewegung, er kam aus ihr und blieb ihr zeitlebens zugehörig, trotz vieler Häutungen und Veränderungen, die in einem langen politischen Leben von über 60 Jahren unvermeidbar sind. Er wurde in die Bebelsche Sozialdemokratie »hineingeboren« (S. 55). Im Vergleich etwa mit seinem schwierigen politischen Partner Herbert Wehner (1906–1990) oder mit seinem zeitweiligen »Lieblinksenkel« Oskar Lafontaine (geb. 1943) erscheinen die Brücke und Diskontinuitäten gering zu sein, trotz der dramatischen äußeren Umstände seines Lebens. Hofmann hat Recht, wenn er Brandt als lebenslangen demokratischen Sozialisten versteht, während Wehner Anarchist, stalinistischer Kommunist und in gewisser Weise autoritärer Sozialdemokrat war und es in Bezug auf Oskar Lafontaine in den letzten Jahren immer schwieriger geworden ist, ihn ideologiegeschichtlich einzuordnen.
Florian Weis ist Historiker und seit 1999 in verschiedenen Funktionen Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. In Sozialismus.de schrieb er zuletzt in Heft 2-2023 »Willy Brandt und das Jahr 1972. Vom Umgang mit Ambivalenzen in der Geschichte«.
[1] Erwähnt seien hier: Hans-Joachim Noack, Willy Brandt. Ein Leben, ein Jahrhundert, Berlin2013; Torsten Körner, Die Familie Willy Brandt, Frankfurt a.M. 2013; Gregor Schöllgen, Willy Brandt. Die Biographie, 2. Auflage, Berlin 2013; Peter Merseburger, Willy Brandt 1913–992. Visionär und Realist, Stuttgart –München 2002.
[2] Gunter Hofmann, Willy Brandt. Sozialist – Kanzler – Patriot. Eine Biographie, München 2023. Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf diesen Text.