1. Juni 2006 Redaktion Sozialismus

Wege aus dem Burnout?

Die SPD hat auf ihrem Parteitag Anfang Mai den Wechsel im Parteivorsitz von Matthias Platzeck zu Kurt Beck nachvollzogen – erneut mit einem überwältigenden Votum, erneut mit der Versicherung, dass keiner die Sozialdemokratie besser repräsentieren könne, als just dieser Vorsitzende. Aber was repräsentiert Kurt Beck?

Der neue Parteivorsitzende präsentierte sich mit einer biederen, mit Gemeinplätzen gespickten Rede. Gleichwohl ist eine Botschaft herausgehört worden: Die Sozialdemokratie will sich wieder auf ihre traditionelle Stammwählerschaft besinnen. "Ohne vernünftige Verteilungsgerechtigkeit, ohne eine vernünftige materielle Grundlage für die Menschen kann es letztendlich auch keine Chancengleichheit geben. Wir wissen, dass das so ist. Deshalb ringen wir um beides." (Beck) Also Schluss mit dem neusozialdemokratischen Unfug, soziale Ungleichheit als "Katalysator für individuelle als auch gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten"[1] zu legitimieren? Hinwendung zur Realität, dass es auch die SPD der Jahre nach 1999 war, die Parteienverdrossenheit und politische Apathie hervorgebracht und verfestigt hat? Immerhin: Führende SPD-Politiker sprechen neuerdings wieder von gerechten Arbeitslöhnen, vernünftigen Arbeitsbedingungen und von Mindestlöhnen.

Sicherlich ist das nicht die Ankündigung einer Linkswendung – zumal wenn Müntefering ergänzt: "Wer nicht arbeitet, braucht nichts zu essen." Aber die Einstellung jener Kritiker, die die SPD schon immer abgeschrieben haben, ist gleichermaßen oberflächlich. Unbestreitbar: Die Sozialdemokratie steckt – nicht nur in Deutschland – in einer politisch-programmatischen und organisatorischen Krise. Beleg sind die anhaltenden Mitgliederverluste und die geschrumpften Stimmanteile. Dem Juso-Chef Böhning ist schwerlich zu widersprechen: "Die SPD ist inhaltlich ausgebrannt, das Burnout-Syndrom nach wie vor existent. Deshalb müssen wir die Programmdiskussion vorantreiben. Außerdem brauchen wir eine ehrliche Wahlanalyse der letzten Jahre. Wir haben bei Arbeitern, Angestellten und Arbeitslosen weit über zehn Prozent verloren. Wer das nicht sieht, der wird das Profil einer linken Volkspartei nie wieder erreichen." (Vgl. auch Deml sowie Burmeister/Scholle in diesem Heft.)

Programmdebatte als Methode der speziellen Pathologie, der Regeneration ausgebrannter Zellstrukturen? Oder gelingt es, sich auf zeitdiagnostische Höhen emporzuarbeiten und künftig Politik wieder gesellschaftsstrategisch zu fundieren? Immerhin hatte die SPD noch im kurzen Platzeck-Intervall Thesen für ein Grundsatzprogramm verabschiedet und dürfte in den nächsten Monaten Diskussionen in Workshops und Gesprächskreisen inszenieren. Die Resonanz bleibt abzuwarten.

Bemerkenswert die Einordnung von Erhard Eppler, der lange Zeit keine Chance für ein neues Grundsatzprogramm sah, weil die große Welle des Neoliberalismus jeden linken Widerstand niederdrückte. Mittlerweile sieht er aus zwei Gründen einen Trendwechsel, was aber eher auf Schwächen neoliberaler Hegemonie als auf ein Wiedererstarken sozialdemokratischer Strategiediskussion verweist: "Erstens: Das Ziel, das diejenigen haben, die diese marktradikale Welle verstärkend tragen und radikalisieren, wird deutlicher. In den Vereinigten Staaten ist ein Bestseller erschienen ... von einem Präsidentenberater und Wissenschaftler namens Philip Bobbit, bei dem ... die gesamte Geschichte zuläuft auf das, was er den market state nennt – den Marktstaat. Und dieser Marktstaat ist nicht länger für die Menschen zuständig, sondern für die Märkte. Und die Märkte sind zuständig für die Menschen... Das heißt, der Staat ist nur noch dazu da, damit Märkte funktionieren... Und der zweite Grund, warum ich jetzt meine Zweifel zurückstelle, ist, dass der Widerstand gegen diese marktradikale Welle weltweit wächst. Angefangen hat das in Lateinamerika. Und jetzt geht es über nach Latein-Europa und schließlich sogar nach Deutschland, wie das letzte Bundestagswahlergebnis zeigt."[2]

Der Einwand, dass der Vorsitzende Beck Beharrung verkörpert, statt Neuverständigung zu signalisieren, liegt auf der Hand. Aber auch ein Mann wie Erich Ollenhauer, in dessen Zeit als Vorsitzender das Godesberger Programm durchgedrückt wurde, und selbst Willy Brandt waren nicht die maßgeblichen Akteure bei der programmatischen Profilsuche der Sozialdemokratie. Beck müsste also nicht mehr als die Rahmenbedingungen schaffen. Doch wer agiert dann hinter seinem Rücken? Einer derjenigen, die sich berufen fühlen, ist Peer Steinbrück. Die mittlerweile abgegriffene Formel vom "aktivierenden Staat" ersetzt er durch eine neue: "Empowerment". Auch dies der Versuch, auf einem Dritten Weg vorzustoßen: jenseits des "starken Staates" der Linken und des "market state" der Rechten. Mit dem Versprechen, die BürgerInnen sollten ihr Leben (Arbeit, Einkommen, Familie, Erziehung) eigenverantwortlich gestalten. Dafür soll ihnen der "vorsorgende Staat" zur Seite gestellt werden. Was ist davon zu halten?

Dass in der Sozialdemokratie der Nach-Schröder-Ära auch wieder über soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit diskutiert werden soll, zeigt, dass der Prozess der Selbstsuggestion der SPD als Regierungspartei noch nicht so weit vorangeschritten ist, dass die offenkundigen Widersprüche des Neoliberalismus nicht mehr zur Kenntnis genommen würden. Parteitagsdelegierte wissen um das grandiose Scheitern der letzten Arbeitsmarkt"reformen", wissen um die Kujonierung der Langzeitarbeitslosen, wissen um die Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit, die statt für Arbeit schaffende und der Qualifizierung der Arbeitslosen zuträgliche Maßnahmen im kommenden Jahr für Beitragssatzsenkungen verwendet werden sollen. Aber welche Folgerungen werden daraus gezogen? Worin besteht die Substanz eines "vorsorgenden Staates", dessen sozialdemokratische RepräsentantInnen die Minister Müntefering, Steinbrück und Schmidt sein müssten? Woher holt man Ressourcen für eine Politik gegen verfestigte Ungleichheit? Im Vorfeld des SPD-Parteitages war dies eine der untergründigen Streitfragen. Die SPD-Linke hätte es mehrheitlich bereits als großen Erfolg verbucht, wenn man den eigenen Ministern und Landesvätern abgerungen hätte, dass die bevorstehende Unternehmenssteuerreform aufkommensneutral ausgestaltet wird, statt die Umverteilung von unten nach oben hemmungslos fortzusetzen. Selbst daraus ist nichts geworden.

Am Systemwechsel in der gesetzlichen Krankenversicherung wird auf Hochtouren gearbeitet. "Empowerment" heißt in diesem Fall, dass die BürgerInnen statt auf die Solidargemeinschaft vielmehr auf ihren eigenen Geldbeutel vertrauen sollen. Die Beteiligung der Unternehmensseite – von einer Parität kann schon lange keine Rede mehr sein – wird tendenziell zu einem Auslaufmodell. Gegen eine Politik der Förderung der aktiven Teilnahme aller BürgerInnen an den Belangen des Gemeinwesens gäbe es an sich wenig einzuwenden. Es ist aber jede Menge einzuwenden, wenn in der Bildung die Klassenschranken herunter geklappt werden, wenn Gesundheit eine Ware ist, die sich eine wachsende Zahl von Menschen nicht mehr kaufen kann, wenn die Beteiligungswünsche am Erwerbsleben ins Leere laufen, wenn Altersarmut programmiert wird. Und es ist noch keineswegs abgemacht, ob nicht auch die sozialdemokratisch konzipierte "Marktbefähigungsstrategie" hinter dem Rücken ihrer Akteure aus den SPD-geführten Ministerien am Ende doch nur auf mehr staatliche Repression und Ausgrenzung hinausläuft.

Ein Problem der Programmdebatte in der SPD ist der tiefe Graben zwischen der Politik ihrer RepräsentantInnen in der Großen Koalition und dem Elend des gesellschaftlichen Alltags. Ein weiteres besteht in der Verselbständigung auch eines großen Teils der sozialdemokratischen Mitglieder der politischen Klasse. Und schließlich wird auch die Hürde immer höher, die darin besteht, dass das Vertrauen in die Ernsthaftigkeit programmatischer Verständigung und ihre Relevanz für praktische Politik wie Langnese-Eis geschmolzen ist. Diese Probleme sind keine Äußerlichkeiten. Programmdebatte ist nur dann etwas wert, wenn sie als umfassender Beteiligungs- und Verständigungsprozess organisiert werden kann. Diese Hürde hat in jüngerer Zeit keine Partei mehr erklimmen können.

Ob es zu einer Stabilisierung der Sozialdemokratie kommen kann, hängt auch vom Prozess der Neuerfindung der Linken jenseits der Sozialdemokratie ab. Auch hier hat sich mittlerweile – in nahezu allen westeuropäischen Ländern – die Einsicht Bahn gebrochen, dass die Auseinandersetzung mit dem entfesselten Kapitalismus und seiner flexiblen Arbeitsorganisation ein langwieriger Prozess ist. Die Linke muss sich entscheiden zwischen ihrem gewohnten "weiter so", was sie noch tiefer in ihre gesellschaftliche Marginalität führen wird, oder der Anstrengung zu einem wirklichen politisch-kulturellen und intellektuellen Neuanfang. Die sozialistisch-kommunistische Linke kann sich weiterhin in kleineren Gruppierungen zur mehr oder minder rituellen Traditionspflege des überlieferten Gedankengutes und roter Symbole organisieren oder in einem Prozess der Neuerfindung der Linken als Faktor in die politische Arena zurückkehren. Letzteres unterstellt aber auch – wie auf Seiten der Sozialdemokratie – die Arbeit an einer gesellschaftsstrategisch tragfähigen Zeitdiagnose. In Deutschland ist mit dem Projekt der "Linken" im Bundestag und der Schaffung eines parteipolitischen Unterbaus ein europaweit registrierter Aufbruch zustande gekommen. Dass es bei dem Ausbruch aus sektiererischen Schützengräben, die allesamt aus den Stellungskriegen im 20. Jahrhundert herrühren, zu Rückschlägen und Umwegen kommen würde, war zu erwarten. Der Neuerfindungsprozess wird aktuell blockiert durch einen Streit, was denn die wesentlichen Forderungen einer Alternative zum Neoliberalismus sind. Auf das von Eppler, Steinbrück und anderen abgesteckte Terrain eines "vorsorgenden Staates", der die neoliberale Konzeption vom Marktstaat ablösen soll, will sich auf Seiten der WASG/Linkspartei niemand einlassen. Dort beherrscht der frühere SPD-Vorsitzende Lafontaine die Szene. Er definiert in guter keynesianischer Tradition wichtige Essentials einer anti-neoliberalen Politik: keine Privatisierung öffentlicher Güter und Dienste; umfassende Re-Regulierung bis hin zur Kontrolle der verselbständigten Finanz- und Vermögensmärkte; konsequente Einhaltung des internationalen Völkerrechts und damit Friedenspolitik. Diese Punkte sind kaum strittig (auch wenn es etliche stört, dass ein langjähriger sozialdemokratischer Parteiintellektueller eine führende Rolle im Parteibildungsprozess einer Neuen Linken übernimmt). Strittig und bislang wenig erörtert, ist die strategische Grundlage dieser Alternative: die Neue Linke muss sich darauf konzentrieren, die enormen Vermögens- und Besitzstände in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften nicht einfach als zu hebende "Schätze" nach dem Motto "Geld ist genug da", zu verstehen und sich dann keine weiteren Gedanken über gesellschaftliche Reproduktionszusammenhänge und die Stärkung gesellschaftlicher Wertschöpfung zu machen. Die Linke muss eine eigenständige Konzeption vorschlagen, wie diese unsinnigen – und sobald sie in die Sphäre der Spekulation kommen auch gefährlichen – gesellschaftlichen Ersparnisse in soziale Investitionen umgesetzt werden können. In dieser strategischen Option treffen die alten Vorstellungen von der Enteignung des Kapitals, der Verstaatlichung und von der Transformation der kapitalistischen Form der Vergesellschaftung von Arbeit aufeinander. Dies impliziert nicht nur eine Debatte über eine nachkapitalistische Gesellschaftsordnung, sondern zugleich eine Bewertung der zurückliegenden "Sozialismus-Versuche" in all ihrer Widersprüchlich- und Menschenfeindlichkeit.

Es bleibt zu hoffen, dass die "Linke der Linken" ihre internen politisch-programmatischen Blockaden auflösen und sich – der Gesellschaft zuwendend – auch in die sozialdemokratische Erneuerungsdebatte einbringen kann und dadurch zur Stärkung einer Hegemoniefähigkeit der Linken insgesamt beiträgt. Die Linke hat es zwar immer wieder verstanden, die narzisstische Selbstbeschäftigung mit Organisation und Befindlichkeiten als unpolitische Form des Zeitvertreibs zu kultivieren. Aber vielleicht wird sie durch die weiteren Schritte des neoliberalen Gesellschaftsumbaus zum Realitätsbezug gezwungen.

[1] Wolfgang Clement: Durch innovative Politik zu gerechterer Teilhabe, Berlin 2000.
[2] SPD-Programmdebatte, Berlin 24.4.2006.

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