1. Juni 2005 Horst Mathes

"Wer Anstöße geben will, muss auch Anstoß erregen können"

Unser Kollege Hans Preiss ist kurz vor seinem 78. Geburtstag am 30. April 2005 gestorben. Hans Preiss war Lehrer der IG Metall Bildungsstätte Lohr und enger Mitarbeiter von Otto Brenner. Von 1972 bis 1989 war er als geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall verantwortlich für gewerkschaftliche Bildungsarbeit, berufliche Aus- und Weiterbildung, für die arbeiterbildenden Akademien und die Zentralbibliothek.

Wer heute und morgen über gewerkschaftliche Bildungsarbeit redet, wer sie verbessern und/oder verändern will, wird immer mit Erfahrungen und Erkenntnissen aus 17 Jahren Bildungsarbeit mit Hans Preiss konfrontiert sein. Was das heißt, hat Hans Preiss in seiner Bilanz auf dem 16. ordtl. Gewerkschaftstag der IG Metall deutlich gemacht, in der er die "Wegweiser, die wir gesetzt haben", auflistete:

  "Die Thesen zur Bildungsarbeit,

  die Regionalisierung unserer Bildungsaktivitäten,

  die Einbeziehung ehrenamtlicher ReferentInnen und die Einrichtung von Referentenarbeitskreisen,

  die inhaltliche Ausgestaltung unseres Anspruches 'Aus der Geschichte lernen',

  Modell- und Projektseminare zur Weiterentwicklung unserer Arbeit,

  die Förderung kultureller Aktivitäten,

  den Kooperationsvertrag mit der Ruhr-Universität,

  die Gründung des Forschungsinstitutes für Arbeiterbildung,

  die Neuordnung der Metall, Elektro- und Handwerksberufe.

Meine Bitte an euch, verliert diese Markierungen nicht aus den Augen. Sie weisen den Weg." (mündl. Geschäftsbericht 1989: 94)

"Bildungsfragen sind Machtfragen, sind Klassenfragen...

... Das bestehende Bildungs- und Ausbildungssystem orientiert sich vorrangig an den Interessen des Kapitals. Auslesen statt fördern, ausgrenzen statt einbeziehen. Förderung von Eliten statt Bildung für alle." (mündl. Geschäftsbericht 1986: 88)

Mit dieser Grundorientierung ausgestattet, agierte Hans Preiss im Kampf um Reformen in der beruflichen Bildung und für die Neuordnung der Berufe in der Metallwirtschaft. Ziel und Aufgabe war, der Jugend eine Zukunft zu geben. Berufliche Qualifikation darf nicht den einzelbetrieblichen Interessen, d.h. kurzfristigen und kurzsichtigen Verwertungsanforderungen untergeordnet werden. Berufliche Bildung muss die Vermittlung langfristiger beruflicher Qualifikation sicherstellen.

Unter dem Motto "Wer nicht ausbildet muss zahlen" wurde der gesellschaftliche Skandal fehlender Ausbildungsplätze und die Sicherstellung qualifizierter Ausbildungsberufe zum wichtigen Reformziel gewerkschaftlicher Interessenvertretung.

"Gewerkschaftliche Bildungsarbeit ist Zweckbildung...

...für die sozialen Auseinandersetzungen. Sie bezieht den Betrieb, die Wirtschaft und die Gesellschaft ein."

Die 1972 beschlossenen "Thesen zur Bildungsarbeit", die konsequente Verortung der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit an den Zielen und Aufgaben der IG Metall – und in diesem Sinne Bildungsarbeit als Zweckbildung – war wohl die prägnanteste, bis heute nachhaltigste, programmatische Formulierung der gewerkschaftlichen Anforderungen an ihre Bildungsarbeit. Die 17 Thesen bildeten den Rahmen für 17 Jahre gewerkschaftliche Bildungsarbeit in der Zuständigkeit von Hans Preiss. Und sie begleiten bis heute jede Debatte, jedes Reformprojekt zur Weiterentwicklung der Bildungsarbeit der IG Metall.

"Gewerkschaftliche Bildungsarbeit ist Zweckbildung... (ist) organisationsgebundene Arbeit... ist Massenbildung... (Sie) soll zur selbständigen Kritik und Analyse ... befähigen. Sie ist Teil der Organisationsarbeit ... und muss die Organisation als Koordinierungs- und Kampfinstrument für die Durchsetzung gewerkschaftlicher und politischer Forderungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen stärken.

(So gesehen) ist gewerkschaftliche Bildungsarbeit permanente Auseinandersetzung mit der betrieblichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit. (Sie) muss Apathie und Resignation der Mitglieder verhindern bzw. überwinden.

Bildungsarbeit darf nicht abstrakte, von der konkreten Wirklichkeit losgelöste Wissensvermittlung sein. Über Ziele, Inhalte und Methoden der Bildungsarbeit muss auf allen Ebenen unsere Organisation völlige Durchsichtigkeit bestehen.

Bildungsarbeit in einer demokratischen Organisation darf die Teilnehmer nicht als Objekt betrachten.

Die gewerkschaftliche Bildungsarbeit bedarf der Systematisierung, sie muss dezentralisiert im Betrieb und am Ort und im Bezirk beginnen ... (und) die Wirksamkeit der Bildungsarbeit bedarf der ständigen Prüfung."

Diese Thesen waren Orientierungen, geprägt vom vorherrschenden Organisationsverständnis und der gewerkschaftlichen Organisationskultur und ihrem Verständnis von Bildungsarbeit. Keine geschlossene Konzeption, sondern "ein Ansatz der der ständigen Weiterentwicklung bedarf." (Geschäftsbericht 1971-1973: 309ff.)

Eine ganze Generation von BildungsarbeiterInnen hat mit diesen Thesen als Orientierungsrahmen gearbeitet und mit diesen "Leitbildern" ihre jeweils aktuellen Selbstverständnisdebatten organisiert. Sie hätte ihre programmatische und praktische Wirkung nicht entfalten können und sie hätte nicht zum Fixpunkt bzw. zur Folie so vieler Kontroversen werden können, wenn sie nicht durch weitere "Markierungen", durch konkrete strukturelle und konzeptionelle Maßnahmen in der Ära Preiss mit Leben erfüllt worden wären.

"Bildungsarbeit ist Organisationsaufgabe"

Die Schaffung von Bildungsregionen in den Bezirken (der Zusammenschluss mehrerer Verwaltungsstellen, die ihre Bildungsarbeit gemeinsam organisierten) war die Voraussetzung für den Auf- und Ausbau der regionalen Bildungsebene. Von 1972 bis 1989 konnte die Teilnehmerzahl der regionalen Bildungsebene von 2.980 auf 21.306 gesteigert werden. Dies war möglich, weil flächendeckend ein System ehrenamtlicher Referententeams und Referentenarbeitskreise für die (regionale) Bildungsarbeit aufgebaut wurde.

Die Steigerung der Bildungskapazitäten war nötig, weil das novellierte Betriebsverfassungsgesetz den Bildungsanspruch und die Bildungsmöglichkeiten der Betriebratsmitglieder erweiterte. Gleichzeitig konnten – gegen den massiven Widerstand der Unternehmer-(Verbände) – Bildungsurlaubsgesetze durchgesetzt und die Teilnahme der Arbeitnehmer an Seminaren ihrer Gewerkschaft realisiert werden.

"Theorie ist der Kompass für die Praxis"

Als unmittelbare Konsequenz aus dem strukturellen Ausbau der Bildungsarbeit wurde das Bildungsangebot systematisiert und der Bildungsweg für Mitglieder und Funktionäre gegliedert. Für die örtliche, regionale Ebene waren die Einführungsseminare vorgesehen. Die zentralen Bildungsstätten hatten die Aufgabe, die Grundlagenbildung und die Aufbauseminare zu organisieren.

Möglichst viele Bildungsangebote wurden für gemeinsame Seminare und Lernprozesse für Vertrauensleute und Betriebsratsmitglieder zur Verfügung gestellt. Grundlagenbildung hatte die Funktion, über die Alltagserfahrung hinaus wirkende theoriegeleitete Bildungsprozesse zu ermöglichen.

"Gewerkschaftliche Bildungsarbeit kann niemals Organisationsarbeit ersetzen. Sie leistet aber einen wichtigen Beitrag, das Fundament für gewerkschaftliche Arbeit zu festigen und weiter auszubauen. Das ist nicht einfach. Denn unsere Teilnehmer kommen nicht mit leeren Köpfen in unsere Seminare. Sie verfügen über Kenntnisse und Fähigkeiten. Aber ihr Bewusstsein ist auch geprägt von den gängigen Vorurteilen bis hin zu einer skeptischen Distanz zu den Gewerkschaften... Der Kampf gegen Vorurteile verlangt aber auch die theoretische Durchdringung der Wirklichkeit. Theorie und Praxis sind in unserem Selbstverständnis eine Einheit. Theorie ist der Kompass für die Praxis. Es ist unsere Aufgabe, die Trennung zwischen Theorie und Praxis aufzuheben, denn in letzter Konsequenz würden wir sonst anerkennen, dass für die Praxis nur die Arbeitnehmer und für die Theorie nur die so genannten Gebildeten zuständig sind. Das hätte aber zur Folge: Herrschaftsstrukturen würden auf alle Ewigkeit festgeschrieben. Die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderung wäre nicht mehr einsichtig und die Absagen an jedweden gesellschaftlichen Fortschritt perfekt." (mündl. Geschäftsbericht 1980: 109f.)

Zur konzeptionellen Weiterentwicklung zählen weitere "Markierungen", wie "Aus der Geschichte lernen" und die Aufgabe, für die Bildungsarbeit zeitgemäße Medien und geeignete Materialien zur Verfügung zu stellen.

Im Mittelpunkt der konzeptionellen Aufgaben sah Hans Preiss die permanente Weiterbildung der ehren- und hauptamtlichen ReferentInnen und die Entwicklung von Leitfäden für die Seminare. Sie dienten als Rahmenkonzepte für die Seminararbeit und hatten für die innergewerkschaftliche Diskussion eine wichtige Legitimationsfunktion.

Die Weiterbildungsangebote für ReferentInnen hatten zur Folge, neben der Verbesserung der Standardangebote eine Vielzahl von betriebsnahen und örtlichen Bildungsangeboten zu Alltagsaufgaben und aktuellen Themen zu ermöglichen.

Die Weiterbildung der ehrenamtlichen Referententeams und die Unterstützung der regionalen Bildungsarbeit waren als zusätzliche Aufgabe den zentralen Bildungsstätten zugeordnet. So konnte der Trennung von regionaler und zentraler Bildungsarbeit entgegengewirkt werden.

Für die Kooperation mit der Wissenschaft gab es drei herausragende "Markierungen":

  Das mit Wissenschaftlern gemeinsam erarbeitete Modellseminar, mit dem erstmalig (und bisher einmalig) lerntheoretische Grundlagen weiterentwickelt und ein davon abgeleitetes didaktischen Modell gewerkschaftlicher Bildungsarbeit zur Verfügung stand.

  Der Kooperationsvertrag mit der Ruhr-Universität in Bochum.

  Die Gründung des Forschungsinstituts für Arbeitsbildung (FIAB) in Recklinghausen.

"Dank und Anerkennung...

...sind in der Emigration." Das war eine Redewendung von Hans Preiss, mit der er hin und wieder die Aufmerksamkeit der "Gesamtorganisation" auf die Leistungen der Bildungsarbeit zu lenken versuchte.

"Gewerkschaftliche Bildungsarbeit unterliegt einem ständigen Begründungszwang. Einem Begründungszwang gegenüber den Arbeitgebern, den Ministerien und den Arbeitsgerichten. Sie muss sich aber auch der kritischen Diskussion in der eigenen Organisation stellen. Dazu gehört auch die Frage nach der Wirksamkeit gewerkschaftlicher Bildungsarbeit. Zugegeben: Diese Frage ist im Einzelnen schwer zu beantworten. Einigkeit sollte aber darin bestehen, dass diese Wirksamkeit nicht nur unter Kostengesichtspunkten gesehen werden kann, sondern auch unter der Notwendigkeit der langfristigen Entfaltung gewerkschaftlicher Gegenmacht... Dieser hohe Anspruch sollte uns jedoch nicht dazu verleiten, gewerkschaftliche Bildungsarbeit in ihren Möglichkeiten zu überschätzen. Gewerkschaftliche Bildungsarbeit kann niemals Organisationsarbeit ersetzen." (mündl. Geschäftsbericht 1980: 109)

Hans Preiss hat oft das Gespräch mit jenen gesucht und gefunden, die Bildungsarbeit machen. Aus den Gesprächen mit Lehrenden und Lernenden hat er sich Bestätigung, Anregung und Kraft geholt. Sicher, er hat es uns nicht immer leicht gemacht. Aber, wenn wir ehrlich sind, gilt das auch umgekehrt.

1989, in seinem letzten Rechenschaftsbericht, resümierte er 17 Jahre erfolgreiche, aber eben auch mit vielen Auseinandersetzungen verbundene Bildungsarbeit: "Wer Anstöße geben will, muss auch Anstoß erregen können". Und das Protokoll vermerkt lebhaften Beifall, als er an die Delegierten gerichtet auf die gemeinsame Arbeit zurückblickte:

"Wenn ich die Kolleginnen und Kollegen so vor mir sehe, die aus unserer Bildungsarbeit kommen, dann kann diese Arbeit so schlecht nicht gewesen sein."

Horst Mathes ist Leiter des IG Metall Bildungszentrums Sprockhövel.

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