1. November 2005 Sybille Stamm und Günter Busch

"Wer kämpft, kann gewinnen..."

Die Arbeitszeit steht seit geraumer Zeit im Mittelpunkt tarifpolitischer Auseinandersetzungen. Der Kapitalseite geht es um die absolute Verlängerung des Arbeitstages. Die Gewerkschaften agieren aus der Defensive und immer häufiger gelingt es der anderen Seite, vor dem Hintergrund von Massenarbeitslosigkeit und Angst um Arbeitsplätze, die Arbeitszeit – bezahlt oder unbezahlt – punktuell oder dauerhaft zu verlängern. Damit wird die alte Erkenntnis, dass Arbeitsumverteilung durch Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze sichert, praktisch in ihr Gegenteil verkehrt.

Die angestrebte Verlängerung der Arbeitszeit im öffentlichen Dienst in Baden-Württemberg von 38,5 auf 41 Wochenstunden würde nach Aussagen der Landesregierung 29.600 Arbeitsplätze kosten. Planstellen werden gestrichen und die Übernahme von Auszubildenden ist nicht mehr gesichert. Vor diesem Hintergrund führt ver.di in Baden-Württemberg im zweiten Jahr eine Arbeitszeitkampagne durch unter dem Motto "Länger arbeiten macht arbeitslos – Stoppt die Zeitdiebe! Der Jugend eine Chance." Ziel ist es, durch eine "offensive Defensive" bestehende tarifliche Wochenarbeitszeiten zu verteidigen und weiteren Lohnabbau zu verhindern.

Ein Erfolg mit Signalwirkung ist in einem zweiwöchigen Streik der vier Universitätskliniken in Baden-Württemberg gelungen. Erstmals in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte streikte ver.di im Krankenhaussektor ohne die Rückendeckung durch den öffentlichen Dienst. Die 25.000 Beschäftigten der vier Unikliniken (Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm) waren ab dem 5. Oktober 2005 zu einem unbefristeten Erzwingungsstreik aufgerufen worden, der nach zweiwöchigem Arbeitskampf mit einem erfolgreichen Tarifabschluss endete. Die Universitätskliniken sind Anstalten des öffentlichen Rechts und nicht Mitglied in einem Arbeitgeberverband. Die Ärztinnen und Ärzte an den Kliniken fallen als Landesbeschäftigte unter die Tarifregelungen der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL), waren deshalb unmittelbar am Arbeitskampf nicht beteiligt. Die Pflegekräfte, Beschäftigte in den Funktionsbereichen, in der Technik, im Service und Transportbereich, in der Verwaltung und die so genannten medizinischen Hilfskräfte waren also ganz auf sich allein gestellt und konnten nicht – wie früher – im Schlepptau von Müllwerkern, Bus- und StraßenbahnfahrerInnen und sonstigen streikerfahrenen Beschäftigtengruppen des öffentlichen Dienstes auf ein gutes Tarifergebnis hoffen.

1.

Dabei hatte die Tarifauseinandersetzung für die Beschäftigten alle Anzeichen einer klassischen Defensivsituation:

  Die finanziellen Rahmenbedingungen an den Universitätskliniken sind alles andere als rosig. Budgetdeckelungen, die Einführung der fallbezogenen Abrechnung im Krankenhaus (DRG) und die Senkung der Landeszuschüsse für Forschung und Lehre engen den finanziellen Spielraum ein.

  Die Auseinandersetzung um Arbeitszeit und Entgelt fanden statt in einer strategisch außerordentlich schwierigen Situation. Auf der einen Seite sind die vier Unikliniken die größten Betriebe in Landesbesitz, allerdings formalrechtlich selbständig. Ministerpräsident Oettinger hatte intern angekündigt, sich in der TdL für eine Wochenarbeitszeit von 39,5 Stunden stark machen zu wollen – bis heute gibt es in diesem bundesweiten Tarifbereich für die Länderbeschäftigten keinen Tarifabschluss, da die TdL im Juni 2004 aus der Tarifgemeinschaft der Arbeitgeberverbände im öffentlichen Dienst ausgetreten war. Auf der anderen Seite enthält der neue Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) eine "Meistbegünstigungsklausel", die lautet: Falls im Länderbereich längere Arbeitszeiten als 38,5 Wochenstunden vereinbart werden, gelten diese automatisch für die Kommunen. Damit waren die Chancen für eine eigenständige Tarifrunde sehr begrenzt.

  Bei relativ niedrigem gewerkschaftlichen Organisationsgrad gab es in Teilen der Belegschaften der Unikliniken die Vorstellung, dass man um eine Arbeitszeitverlängerung und eine Absenkung des Entgeltniveaus wohl nicht herumkommen werde.

  Das Fehlen von Erfahrungen kollektiven Handelns beförderte eine naturgesetzliche Auffassung ökonomischer Prozesse: Man könne durch Demonstrationen und Streiks ja sowieso nichts erreichen und sei mehr oder weniger hilflos den ablaufenden Prozessen ausgesetzt – eine Haltung, die auch aus den Reihen von ver.di-FunktionärInnen Nahrung erhielt, die prognostizieren, dass der Branche Gesundheitswesen eine Senkung des Entgeltniveaus um etwa 10% in den nächsten Jahren bevorstehe (Michael Wendl in: Sozialismus 10/2005: 41).

2.

Als die Universitätskliniken im Juni 2004 den Ausstieg aus der TdL beschlossen und zum 1. Februar 2005 realisierten, war klar, dass damit eine Absenkung über das Ausmaß der im TdL-Bereich durchgesetzten Erhöhung auf 41 Stunden, der Wegfall des Urlaubsgelds und die Kürzung des Weihnachtsgelds für Neueingestellte und für Beschäftigte mit neuen Arbeitsverträgen hinaus angestrebt war. Und es war klar, dass dies nur mit Arbeitskampf verhindert werden konnte. Mit der Bildung der eigenständigen Tarifkommission Universitätsklinika Baden-Württemberg im Oktober 2004 begann der Tarifkonflikt.

Der Abschluss des TVöD im Februar 2005 für den kommunalen Bereich veränderte die Lage: In den kommunalen Krankenhäusern gab es keine Verlängerungen der Wochenarbeitszeit, keine Absenkungen beim Weihnachtsgeld, keine Abschaffung des Urlaubsgelds und es wurden 300 Euro als Einmalzahlung gezahlt. In den Akutkrankenhäusern der Regelversorgung wurde nun für alle erfahrbar besser bezahlt und weniger gearbeitet als in den Krankenhäusern der Spitzenversorgung.

Als die Arbeitgeber der Universitätskliniken das Angebot ablehnten, den TVöD 1:1 zu übernehmen, musste ver.di handeln. Die Arbeitgeber wollten offensichtlich bei Lohn und Arbeitszeit keine tarifvertragliche Lösung, sondern durch Aussitzen die Spaltung der Belegschaften mit abgesicherten "Altbeschäftigten" und abgesenkten "NeuverträglerInnen" zementieren und zu ihren Gunsten weiter ausbauen. Für ver.di hätte sich die Position weiter verschlechtert, je mehr Beschäftigte unter den neuen Bedingungen arbeiteten und je mehr die Absenkungen als Normalzustand angesehen würden.

3.

Im Mai 2005 forderte ver.di eine von den laufenden Verhandlungen zu einem neuen Tarifrecht im öffentlichen Dienst abgekoppelte eigenständige Lohn-/Gehalts- und Arbeitszeitrunde 2005. Mit den Eckpunkten Wiederherstellung der 38,5-Stunden-Woche für alle, Wiederherstellung des nachwirkenden Urlaubs- und Weihnachtsgelds für alle und eine moderate Festbetragsforderung von 50 Euro/Monat ging ver.di in die Verhandlungen.

ver.di verfolgte damit drei Ziele:

  Aufstellung von in der Gesamtkonstellation ehrgeizigen, aber durchsetzbaren Forderungen, um nicht in einer vorhersehbaren Niederlage zu enden.

  Aufhebung der Spaltung der sich in der Nachwirkung befindlichen "Altbeschäftigten" (etwa 80% der Beschäftigten) gegenüber den deutlich verschlechterten Bedingungen der "NeuverträglerInnen" (etwa 20%).

  Aufstellung einer eigenständigen und deutlich über dem Ergebnis des öffentlichen Dienstes (300 Euro Einmalzahlung für 2005 bis 2007) liegenden Lohnkomponente. Ohne eine solche Komponente wäre eine Tarifauseinandersetzung mit dem Kernpaket allein bei der Wochenarbeitszeit kaum erfolgreich zu führen gewesen.

Die Forderungen zielten zunächst auf die Herstellung einer "inneren Hegemonie" in Bezug auf eine sich immer weiter spaltende Belegschaft, waren aber gleichzeitig Voraussetzung zur Herstellung einer Hegemonie nach außen, in die Bevölkerung hinein und gegenüber den PatientInnen. Es war die ganze Zeit über vermittelbar, dass die Beschäftigten keine Privilegien beanspruchen, sondern ihr gutes Recht einfordern.

Die Arbeitgeber verlangten bis zuletzt eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und eine deutliche Senkung des Entgelts für alle.

4.

Bei dieser Ausgangskonstellation war ein Scheitern der Verhandlungen zwingend. Es begann eine intensive Vorbereitung auf einen langen Arbeitskampf.

Die Streikplanung erstreckte sich zunächst auf vier Wochen mit einer Verlängerungsoption für weitere sechs Wochen. Der Streik war nicht als eine aufeinander folgende Reihe von längeren Warnstreiks als Verhandlungsbegleitung und auch nicht als "Nadelstichstreik" konzipiert. Von vornherein war ein unbefristeter Erzwingungsstreik geplant, der in einem Wechsel von Vollstreiks an allen Unikliniken, Vollstreiks jeweils nur an einem Standort und Schwerpunktstreiks in sensiblen Bereichen vorgesehen war. Das Streikkonzept war maßgeschneidert, auf die einzelnen Standorte bezogen und von den Arbeitskampfleitungen selber konzipiert. Es gab jedoch eine landesweite Abstimmung und symbolisch wurde, wenn ein einzelnes Klinikum in den Vollstreik trat, die "Streikstaffel" von Tübingen nach Freiburg, von dort nach Ulm und weiter nach Heidelberg getragen.

Nach der Urabstimmung mit 92,8% Zustimmung begann der Streik am 5. Oktober. Er sollte öffentlichen Druck machen, da streikbedingte Defizite bei der Gesundheitsversorgung vor allem im ambulanten Bereich und bei verschiebbaren Operationen und Eingriffen auftraten. Und er sollte Einnahmeausfälle durch nicht behandelte PatientInnen und zusätzliche Kosten vor allem im Service- und Transportbereich verursachen. Notfälle wurden aber weiterhin behandelt und Notdienste aufrechterhalten. Es handelte sich also um einen Streik bei laufendem Betrieb. Das neue DRG-System kommt dieser Streiktaktik entgegen, da jeder OP-Ausfall unmittelbar auf die Einnahmen durchschlägt und nicht durch eine längere Verweildauer kompensiert werden kann.

5.

Nach zwei erfolgreichen Streikwochen mit zunehmendem Streikdruck wurde ein überraschend gutes Tarifergebnis erreicht. Es wurde eine gegenüber dem öffentlichen Dienst verbesserte Einmalzahlung in Höhe von 390 Euro durchgesetzt. Die Jahressonderzahlung tritt wieder in Kraft und liegt ab 2007 oberhalb des öffentlichen Dienstes. Bei der Arbeitszeit wurde ein demografisch gestuftes Modell vereinbart, das im Krankenhausbereich auftretende hohe Belastungen über das Lebensalter abmildert: Unter 40-Jährige arbeiten 39 Stunden, 40- bis 55-Jährige 38,5 Stunden und über 55-Jährige 38 Stunden. Auszubildende und Pflegeschülerinnen arbeiten 38,5 Stunden. Damit wird eine alte Forderung der Gewerkschaften nach belastungsabhängigen Arbeitszeiten aufgegriffen.

Verhandlungsoptionen mit festgelegten Eckpunkten wurden zu den Gegenständen Arbeitszeitgestaltung, Entgelttabelle und Manteltarifregelungen vereinbart, wobei die niedrigste Entgeltgruppe 1.500 Euro nicht unterschreiten darf (Mindestlohn) und eine neue Entgelttabelle um 0,85% teurer sein darf als das Volumen der bisherigen (leicht besser als öffentlicher Dienst).

Besondere Berücksichtigung fanden die Auszubildenden und die SchülerInnen in den Pflegeberufen: Sie werden alle von 41 auf 38,5 Stunden zurückgeführt, erhalten 2005 eine Einmalzahlung von 195 Euro sowie 2006 und 2007 von jeweils 300 Euro (deutlich besser als öffentlicher Dienst). Außerdem gibt es eine Verhandlungsoption für eine befristete Übernahme nach der Ausbildung.

6.

Arbeitskämpfe in Krankenhäusern unterliegen besonderen Bedingungen. Universitätskliniken sind hochkomplexe, vernetzte Einrichtungen mit hohen Spezialisierungen, einem überdurchschnittlichen Qualifikationsniveau und einem hohen Maß an Erfahrungswissen als Voraussetzung für die Tätigkeit. Ein Streik in einem Teilbereich hat unmittelbare Auswirkungen auf eine ganze Reihe anderer Teilbereiche. Die Nachwirkung eines Arbeitskampfes ist enorm hoch und der Einsatz von Streikbrechern oder ein Unterlaufen des Streiks bei streikbedingtem Ausfall von Kräften ist extrem schwierig.

Die Notdienste sichern die notwendige Versorgung, definieren aber gleichzeitig die Grenze des Ausmaßes des materiellen Schadens für den Arbeitgeber. Die Versuche der Arbeitgeber, durch einseitige Festlegungen für sich Vorteile herauszuholen, scheiterten an der Weigerung von KollegInnen, statt zu streiken den Notdienstanordnungen des Arbeitgebers zu folgen. Zum Schluss klappten die Notdienste nach Aushandlung mit ver.di problemlos. Die KlinikärztInnen waren nicht unmittelbar vom Streik betroffen (anderer Tarifbereich). Da sie in der Regel Vorgesetzte des Pflegepersonals sind, spielen sie dennoch eine wichtige Rolle. ver.di hatte ein Abkommen mit dem Marburger Bund getroffen, dass die Ärztinnen den Streik wohlwollend und teilweise unterstützend begleiteten. Eine Spaltung der Belegschaften in ÄrztInnen und sonstiges nicht wissenschaftliches Personal hätte den Erfolg des Streiks infrage gestellt.

Voraussetzung für einen Streik im Klinikbereich ist die Unterstützung der Öffentlichkeit und insbesondere der PatientInnen. Ein offensives internes (Klinikbereich) und externes Konzept von Medien- und Öffentlichkeitsarbeit war im Uniklinikstreik in Baden-Württemberg erfolgreich. Bei den PatienInnen, in den Städten und in der medialen Öffentlichkeit fand der Streik überwiegend Verständnis und Anerkennung.

Eine weitere wichtige Voraussetzung für den Streikerfolg war die Selbstorganisation des Arbeitskampfes an den einzelnen Standorten, die Streikschwerpunkte, Streikformen und Zeiträume betreffend. Die Arbeitskampfleitungen hatten eine hohe Autonomie in der Anlage ihres Streiks und konnten deshalb "maßgeschneidert" agieren.

Ein Arbeitskampf kann in Krankenhäusern wegen der hochkomplexen Zusammenhänge auch bei geringen Organisationsgraden geführt werden. ver.di ist es aber im Verlauf des Arbeitskampfes gelungen, die Mitgliederzahl um mehr als 30% zu steigern und in vielen Bereichen aus Isolation und Gettoisierung auszubrechen. Die Streikbeteiligung ging weit über die ver.di-Mitgliedschaft hinaus; etwa ein Drittel der Streikenden waren keine Gewerkschaftsmitglieder.

7.

Der Arbeitskampf hat gezeigt, dass es möglich ist, aus einer Defensive heraus in die Offensive zu kommen. Der Erfolg kollektiven Handelns hat sich in den Erfahrungen der Beteiligten verankert. Arbeitszeiten und Entgeltniveaus konnten durch eigenes Handeln gesichert werden. Damit ist klar, dass die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen nicht einfach angekoppelt sind an die Bedingungen der Branchenökonomie. Das Handeln der Menschen wirkt auf die ökonomischen Bedingungen zurück.

Die positiven Widerstandserfahrungen stärken das Selbstbewusstsein. Das Ende der Spaltung entlang dem Kriterium Alt- und Neubeschäftigte verbessert die Voraussetzung für aktives und offensives gemeinsames Vorgehen in der Zukunft. Damit ist die Vorherrschaft neoliberalen Denkens in den Köpfen noch nicht beendet, aber in Frage gestellt. Resignation ist nicht die einzige Alternative.

8.

Das Tarifergebnis ist ein bundesweit wirkendes Signal. Die umgehende kritische Reaktion des Arbeitgeberverbandes TdL auf den Abschluss ist der Beweis. Der Streikerfolg in Baden-Württemberg wird ein Signal sein, um bundesweit die Universitätskliniken in den Streik für die Verteidigung ihrer Arbeitsbedingungen und gegen Lohnsenkungen zu führen. Das wird die Linie von ver.di sein. Damit können womöglich die festgefahrenen Tarifverhandlungen mit der TdL wieder in Bewegung kommen.

Nach der Kündigung der 38,5-Stundenwoche durch den baden-württembergischen kommunalen Arbeitgeberverband am 5. Oktober – vier Tage nach Inkrafttreten des neuen TVöD – ist durch den Abschluss bei den Unikliniken das Signal gegeben, die Auseinandersetzung um den Erhalt der Wochenarbeitszeit zu beginnen. Es kann einen heißen Herbst und einen kalten Winter geben.

Sybille Stamm ist Vorsitzende des ver.di-Landesbezirks Baden-Württemberg, Günter Busch ist Landesfachbereichsleiter des Fachbereichs Gesundheitswesen bei ver.di Baden-Württemberg.

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