21. November 2014 Axel Troost

Wie politischen Stillstand und Stagnation überwinden?

Seit einem Jahr regieren Schwarz und Rot zusammen. Regierungschefin Angela Merkel sieht sich wachsenden Krisen in Europa, dem geopolitischen Umfeld und internen Brüchen ausgesetzt. Vor allem wächst der europäische Druck auf Deutschland, anders als bisher auf die seit der großen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 anhaltende Wirtschaftsflaute zu reagieren.

Die vorherrschende Auffassung: Deutschland sei gut durch die Krise gekommen und damit auch ein Modell für Europa. »Mehr Wettbewerb« war und bleibt die Zauberformel der Bundeskanzlerin. Europa müsse stärker aus der Krise herauskommen, als es hineingegangen sei. Diesen Satz wiederholt sie seit mehr als sechs Jahren.

Das Dilemma der bundesdeutschen Europapolitik besteht darin, dass die Strukturreformen und der Fiskalpakt die meisten Nachbarländer immer tiefer in eine sozioökonomische Abwärtsspirale geschickt haben. Jetzt ist Europa selbst zu einem Bleigewicht der Globalökonomie geworden. Das Argument, die Krise könne nicht durch einen Paukenschlag beendet werden, überzeugt angesichts enormer gesellschaftlicher Probleme und der politischen Erfolge rechtspopulistischer europakritischer Parteien immer weniger.[1]

Auch Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen) kritisiert diese Regierungspolitik als »Stillstand made in Germany«.[2] Das Veränderungs- und Transformationspotenzial der Großen Koalition sei sehr gering. Und der Stillstand droht angesichts des Aufschwungs der Rechtspopulisten von der »Alternative für Deutschland« (AfD) zum Dauerzustand auch für Deutschland zu werden. Die ökonomische und politische Stagnation könne in einer Rechtsverschiebung münden – verbunden gar mit einer strukturellen Unmöglichkeit, überhaupt noch Mehrheiten links der Mitte zu erreichen. Trittins Credo: »Wollen wir eine rechte Mehrheit verhindern, müssen wir den Stillstand der Großen Koalition überwinden. Dies ist kein grünes Problem – es ist eine Verantwortung aller Kräfte der linken Mitte.«

In der Tat sind die jüngsten Aufmärsche von Hooligans im Bündnis mit Rechtsextremisten gegen »Salafisten und Flüchtlingspolitik« ein Hinweis auf eine sich verändernde gesellschaftliche Stimmung. Der offenkundige Aufstieg der AfD ermutigt weitere Teile des rechten Spektrums, öffentlich an eine vorhandene Neigung zu autoritären Einstellungen anzuknüpfen, die gegen Minderheiten Stimmung machen. Wir sind am Beginn einer Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse, wie sie mit starken Wähleranteilen für rechte und rechtspopulistische Parteien in den europäischen Nachbarländern längst Normalität sind. Die Wahrnehmung der krassen sozialen Ungleichheit und das Scheitern der bisherigen Konzepte gegen Ungerechtigkeit führen zu der politischen Forderung, den Wohlfahrtsstaat gegen Ausnutzung zu verteidigen. Einwanderung ja, aber nur ohne Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen und Rechten. Die seit längerer Zeit zu beobachtende Islamophobie wird befeuert durch die Zunahme der Flüchtlinge aus dem irakisch-syrischen Krisengebiet. Das Auftreten radikalisierter Islamisten dient als geeignetes Projektionsfeld.

Trittin zweifelt mit guten Argumenten daran, dass die Situation 2017 schon für eine ökologisch-soziale Transformation reif sein wird. »Die Methode Merkel spricht dafür, auf die jetzige Große Koalition erneut eine Große Koalition des Stillstands folgen zu lassen. Was aber ist die Antwort der Kräfte der linken Mitte auf diese Herausforderung? Mit welcher Strategie wollen sie eine sozialökologische Transformation für mehr Gleichheit mehrheitsfähig machen?«

Mit Trittin an der Spitze hatten die Grünen versucht, den Dreiklang von Ökologie, Stabilität und Gerechtigkeit in ein Gesamtkonzept zu gießen. Nach der Wahl empfahlen viele Politiker der Grünen die »Rückbesinnung« auf grüne Kernwerte. Trittin hält in seinem Buch dagegen. Er verbindet eine schonungslose Analyse der tiefen Gräben im linken Lager mit dem Plädoyer, alle progressiven Kräfte mögen sich gemeinsam in den politischen Kampf stürzen – und dies dürfte darum alle interessieren, die die Zementierung der Großen Koalition beenden wollen. Seinen Gegenentwurf überschreibt Trittin mit »ökologischer Materialismus«. Damit weist er die gängige politologische Einordnung grüner Anliegen als »postmaterialistisch« zurück. Klimaschutz sei nicht, was man sich leiste, sobald alle anderen Bedürfnisse erfüllt sind. Vielmehr sei er rational, weil er wirtschaftliche Vorteile und Stabilität bringe. So nehme die Politik Klimaschutz erst ernst, seit Ökonomen die Billiardenschäden des Klimawandels errechneten. Zudem seien gerade die Ärmeren die Verlierer der Umweltzerstörung und Ressourcenplünderung, auch in Deutschland.

Dass der Umbau teuer wird, bestreitet Trittin nicht – vielmehr sei das eine weitere Verbindung zur sozialen Frage: Der ungleich verteilte Reichtum verursache Schulden- und Finanzkrisen, weil die Wohlhabenden ihr Geld in Schuldenstaaten und Finanzmärkten verbrennen. Würde es in Klimaschutz und Ökowirtschaft fließen, brächte das Stabilität – und Kapital, um Deutschland und EU zukunftsfest zu machen.

Ein Problem besteht aber darin, dass Jürgen Trittin, wie die GRÜNEN insgesamt, nicht überzeugend darlegt, wie er den sozial-ökologischen Umbau sozial gerecht finanzieren will. Noch im September lehnte Anja Hajduk, Mitglied der GRÜNEN im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages, den Vorschlag Finanzminister Schäubles ab, dass die teils mit erheblichen Defiziten kämpfenden Länder auch nach 2020 weiter Kredite aufnehmen dürfen. Dies sei ein falsches Signal. Die Folgen der mit den Stimmen der GRÜNEN ins Grundgesetz geschriebenen Schuldenbremse sind u.a. auch beim Zustand der Infrastruktur zu sehen.

Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass ein Verbot zur Aufnahme neuer Schulden die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte[3] begrenzt. Anstelle Impulse für die Zukunft zu generieren, sind sie zur Durchsetzung eines Kürzungsdiktates verdammt. Eine Begrenzung des Haushaltsdefizits und der Staatsverschuldung ist nur sinnvoll, wenn die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte erhalten bleibt und ausreichend Finanzmittel zur Erfüllung ihrer Aufgaben vorhanden sind. Die Sanierung der öffentlichen Finanzen kann also nicht allein durch Kürzungen der Ausgaben gelingen, sondern bedingt den Übergang zu einer sozial gerechteren Verteilungs- und Steuerpolitik. Einen Defizitabbau ausschließlich durch Kürzungen zu erzwingen, ist aus finanz- und haushaltspolitischen Überlegungen vollkommen falsch. Vor allem aber werden die zukünftigen Generationen hierdurch immer stärker belasten, weil zuallererst an den Ausgaben gespart wird, die sie am meisten beanspruchen oder die sie auch in Zukunft noch nutzen können – Soziales, Bildung, Infrastruktur, Gesundheit.

Ich betone das an dieser Stelle so ausdrücklich, weil sich die GRÜNEN mit diesem Argument bisher nicht ansatzweise auseinandergesetzt haben. Wenn aber von ihrer Seite an der Schuldenfrage nicht gerüttelt werden soll, bleibt nur die Möglichkeit von Steuererhöhungen. Zu diesen haben die GRÜNEN vor den Bundestagswahlen durchaus sinnvolle Vorschläge gemacht, um sie dann nach dem für sie schlechten Wahlergebnis zurückzunehmen. »Uns Grünen war klar, dass wir von Angela Merkel nicht den Bruch ihres einzigen konkreten Wahlversprechens verlangen konnten. Wir forderten daher keine Steuererhöhungen und konzentrierten uns stattdessen auf drei Ziele: den Erfolg der Energiewende, mehr Geld für Klimaschutz und Bildung, eine Politik für mehr Europa«, so Trittin.

Dass bei einem rot-rot-grünen Projekt belastbare Kompromisse unter den Beteiligten gefunden werden müssen, und dass dies auch funktionieren kann, zeigt gerade die Entwicklung in Thüringen. Der politische Ausweg aus Stagnation und Wirtschaftsflaute, struktureller Verschärfung in den ökologischen Problemlagen (Klima, Landwirtschaft, Vermüllung etc.) ist nur zu erreichen, wenn es gelingt, eine sozialökologische Transformation unter Rückgriff auf eine Veränderung der Verteilungsverhältnisse einzuleiten.

Auf Bundesebene funktioniert eine Verständigung auf ein Projekt der Transformation bisher nicht, da einseitig der LINKEN fundamentalistische Blockadehaltung in der Außenpolitik vorgehalten wird. Andererseits nehmen die GRÜNEN eine Verweigerungshaltung gegenüber den Vorschlägen ein, die ich schon seit Jahren für eine sozial gerechte Steuerreform und eine Umkehr in der Wirtschafts-, Finanz- und Europapolitik für die LINKE vorgelegt habe.[4]

Ich möchte Jürgen Trittin ausdrücklich dazu ermuntern, in seiner Partei für die Einsicht zu werben, die er so beschreibt: »Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich müsste nicht nur die Linkspartei in einer solchen Koalition Kröten schlucken. Zur Vorbereitung eines solchen Bündnisses müssten alle drei Parteien innerparteilich und in ihren Milieus viel arbeiten.« Oder mit den Worten von Steffen Lehndorff: »Es muss auf natio­naler Ebene massiven Druck für die Durchsetzung von alternativen Reformprojekten geben, damit die auf europäischer Ebene unvermeidlichen Konflikte vom Zaun gebrochen werden können, um die dort errichteten Blockaden für die Verwirklichung nationaler linker Reformprojekte zu überwinden.«[5] Ein wichtiger Zwischenschritt ist eine Debatte über die Gründe, weshalb die gegenwärtig handelnden politischen Akteure sich auf eine Logik der Stagnation und des Stillstandes einlassen.


Kritik der Großen Koalition

Mit dem Regierungswechsel zur Großen Koalition blieb es bei der schon unter Schwarz-Gelb getroffenen Richtungsentscheidung für ein »Weiter so«. Noch vor kurzem wurde die große Wirtschaftskrise von vielen als überwunden eingeschätzt. Dies hat sich nun geändert. Der Internationale Währungsfonds warnt vor einer neuen globalen Wirtschaftskrise. Mit Blick auf das globale Wachstum sagte die Direktorin des IWF, Christine Lagarde, notwendig sei eine »neue Dynamik« der Volkswirtschaften und verstärkte internationale Zusammenarbeit. Die globale Wirtschaft sei schwächer als vor sechs Monaten angenommen. Zwar gebe es derzeit Wachstum. »Doch das Wachstum ist nicht stark genug, um den weltweiten Herausforderungen zu begegnen.« Auch geopolitische Krisen wie in der Ukraine oder in Nahost könnten weit über die betroffenen Gebiete hinaus ökonomischen Schaden anrichten, etwa durch steigende Energiepreise.

In den letzten Wochen wurden in Deutschland die optimistischen Prognosen heruntergefahren. Die Kürzungspolitik hat auch hier deutliche Spuren in der öffentlichen Infrastruktur hinterlassen. Der Substanzverlust ist beträchtlich und könnte nur mit einem auf mehrere Jahre angelegten Investitionsprogramm behoben werden. »Wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand erfordern, dass der Kapitalstock einer Volkswirtschaft – also Maschinen, Infrastruktur und vor allem das Wissen und die Fähigkeiten der Menschen und Unternehmen – nicht nur qualitativ gut, sondern auch quantitativ erhalten und mit der Zeit erhöht werden muss.«[6] Die KfW sieht einen Investitionsrückstau der Gemeinden 2014 in Höhe von 113 Mrd. Euro.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stellt den Sparkurs der Bundesregierung infrage und fordert mehr Investitionen. »Die ›schwarze Null‹ ist ein fatales Signal für die deutschen Unternehmen und die europäischen Nachbarn«, kritisiert DIW-Präsident und Regierungsberater Marcel Fratzscher: »Wir produzieren weniger, als eigentlich möglich wäre, und wir haben eine Investitionslücke. Das ist genau die Situation, in der der Staat einspringen müsste.«

Ein Investitionsprogramm für die Infrastruktur in Höhe von 100 Mrd. Euro in zehn Jahren schlägt der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, Michael Hüther, vor. Damit könne der drohende Abschwung gebremst werden. Er plädierte dafür, diese Aufgaben notfalls auch mit Schulden zu bestreiten. »Der Bund hat die Möglichkeit, auch nach der Schuldenbremse Kredite in Höhe von 0,35% des Bruttoinlandprodukts aufzunehmen«, so Hüther. »Die sollte er auch nutzen. Die schwarze Null im Haushalt ist kein Selbstzweck.« Unternehmensvertreter verlangen von der Großen Koalition, auf einen wirtschaftsfreundlicheren Kurs einzuschwenken. »Die Bundesregierung sollte einen sofortigen Stopp für sämtliche weitere Belastungen setzen«, sagt Eric Schweitzer, der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK).

Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) gibt zu, dass Deutschland mehr für seine Wettbewerbsfähigkeit tun müsse – »und zwar bald und konkret. Da ist die Kritik an uns durchaus berechtigt«. Mehr investieren will er auch – etwa bei der Digitalunion, der Energieunion und in die Infrastruktur. Aber kosten darf es nicht viel. Schäuble weigert sich, mit Schulden die Konjunktur anzukurbeln. Die Überraschung ist groß: Auch Deutschland steht vor einem Berg unerledigter Aufgaben – daher die Notwendigkeit einer Transformationsperspektive.


Die Kernprobleme der Berliner Republik

Mit der Agenda 2010 der rot-grünen Regierung schien der Turn­around erzwungen. Sicher: Die Agenda-Politik ab 2004 auf den Arbeitsmärkten hat auch mit dazu beigetragen, dass die Zahl der Arbeitslosen abnahm, aber faktisch nicht mehr Arbeit geschaffen wurde. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit ist auf schrumpfende Arbeitskraftreserven, verlangsamte Produktivitätsentwicklung und die Verteilung des Arbeitsvolumens auf mehr Köpfe zurückzuführen. Stagnation der Löhne, zunehmende Lohn­ungleichheit, wachsender Niedriglohnsektor und die Zunahme atypischer Erwerbsformen liegen zwar durchaus in der Logik der so genannten Strukturreformen, begannen jedoch schon in den späten 1990er Jahren. Die Schwächung des Tarifvertragssystems ist für die Stagnation der Reallöhne, die zunehmende Lohnungleichheit und vor allem das Auseinanderdriften der Löhne zwischen Produktions- und Dienstleistungssektor viel bedeutsamer als die Arbeitsmarktreformen. Damit relativiert sich auch die These, die deutschen Exporterfolge seien auf eine politisch erzwungene Lohnzurückhaltung zurückzuführen.

Vor allem die stark rückläufige Tarifbindung und die Reform des Altersübergangs haben dazu beigetragen, dass die atypische Beschäftigung ausgeweitet und die Erwerbstätigenquote der Älteren in Deutschland stärker angestiegen sind als in jedem anderen EU-Mitgliedsland. Zwei von drei Arbeitnehmern haben heute weniger Realeinkommen als im Jahr 2000.

Die Armut ist gestiegen, eines von fünf Kindern lebt heute unter der Armutsgrenze. Auch die Einkommensungleichheit ist höher als noch in den 1990er Jahren. Heute arbeitet jeder vierte Beschäftigte in Deutschland für einen Niedriglohn und die junge Generation wird in prekäre Beschäftigungsverhältnisse abgedrängt. Damit rangiert Deutschland unter 17 europäischen Ländern auf Platz zwei der Niedriglohnquoten-Rangliste, hinter Litauen. Für Deutschland weist das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) einen Niedriglohn-Anteil von 24,1% an allen Beschäftigten aus. Trotz offensichtlicher Erholung des Patienten ist der deutsche Arbeitsmarkt durch die Reformen im Kern nicht »gesünder« geworden. Die Vermögensungleichheit ist ebenfalls gestiegen und eine der höchsten in Europa. Die Chancengleichheit ist gesunken: Etwa 70% der Akademikerkinder gehen zur Universität, jedoch nur 20% der Arbeiterkinder.

Die Arbeitsmarktreformen haben Deutschland nicht zukunftsfähiger gemacht. Gleiches gilt für die »Schuldenbremse«. Die Kürzungskur ging auch zulasten des Kapitalstocks und der öffentlichen Infrastruktur. Die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote ist zwischen 2000 und 2013 von 21 auf 17% des Bruttoinlandsprodukts und damit deutlich unter den Durchschnitt der Eurozone gesunken. Dass der Staat zu wenig investiert, zeigt sich unter anderem an maroden Schulgebäuden und defekten Autobahnen. Die schlechte Leistung dieser Volkswirtschaft ist zu einem großen Teil das Resultat einer schwachen Produktivitätsentwicklung. Die Ursache liegt in den geringen Investitionen, die zu den niedrigsten aller Industrieländer zählen.

 

  • Die Arbeitsmärkte vom größten Niedriglohnsektor Europas sind in einem ständig wachsenden Ausmaß von prekärer Beschäftigung geprägt.
  • Die öffentliche Infrastruktur verfällt – die Investitionen reichen nicht einmal für den Erhalt des öffentlichen Kapitalstocks.
  • Die Steuereinnahmen steigen in absoluten Zahlen zwar an – reichen aber nicht, um den Investitionsstau aufzulösen und den vorgeschriebenen Schuldenabbau voranzutreiben. Die Steuerquote ist vor dem Hintergrund der anstehenden Aufgaben (und damit Ausgaben) nach wie vor zu niedrig.
  • Das Wirtschaftswachstum in Deutschland hängt noch immer stark vom Exportüberschuss ab. Aufgrund der schwachen Lohnentwicklung ist die Binnennachfrage zu gering.
  • Die Energiewende als ein Kernprojekt der ökologischen Erneuerung droht unter die Räder zu kommen.
  • Der Pflegenotstand wird sich in einer alternden Gesellschaft noch verschärfen; ausreichende Finanzmittel für eine umfassende Lösung werden nicht bereitgestellt.
  • Defizite in der Bildung werden nicht konsequent angegangen.
  • Die Verteilung der Vermögen zeigt eine historisch bislang einmalige Schieflage.
  • Die Lohnquote stagniert auf niedrigem Niveau und die Armut im Land nimmt zu.

In den 1990er Jahren, vor der Einführung des Euro, lag Deutschlands Leistungsbilanz durchweg leicht im Defizit. Seit 2002 ist der Leistungsbilanzsaldo positiv, und abgesehen von einem kurzen Einbruch infolge der Wirtschaftskrise von 2008/09 steigt er stetig. Aktuell liegt er auf einem Rekordniveau. Im Kern ist der hohe Leistungsbilanzüberschuss Ausdruck eines Ungleichgewichts der inländischen Spar- und Investitionsquote: Die wirtschaftlichen Akteure sparen im Inland viel mehr, als sie investieren. Diese Überschussersparnisse werden wiederum ins Ausland exportiert. Der hohe Leistungsbilanzüberschuss zeigt zudem, dass Deutschland enorm vom Euro profitiert. Hätte das Land noch die D-Mark, hätte sie sich schon längst deutlich aufgewertet. Jede grundlegende Reform in Deutschland und der EU muss mit diesem Ungleichgewicht umgehen und für eine Logik der Kohärenz der Entwicklung sorgen.


Europa in der Krise

Die Länder der südlichen Peripherie (Griechenland, Spanien, Portugal) haben Mühe, nach Jahren der Schrumpfung das Niveau der gesellschaftlichen Reproduktion zu halten. Aus eigener Kraft ist eine Rückkehr zur wirtschaftlichen Dynamik und zur Rekonstruktion eines früher gewohnten Wohlstandes nicht zu schaffen. Insofern drängen die Regierungen auf einen konzentrierten Einsatz der Mittel aus dem europäischen Kohäsionsfonds und zusätzlichen Ressourcen aus einem europäischen Investitionsfonds.

Nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch hat sich die Spaltung zwischen den Mitgliedsländern vertieft. Dabei geht es nicht nur um die Interessengegensätze zwischen den Ländern, die die Finanzhilfen garantieren, und denjenigen, denen diese zur Verfügung gestellt werden. An die Stelle eines eigentlich notwendigen stärkeren Maßes an Kooperation und Integration ist die Zunahme politischer Spannungen zwischen und innerhalb der Euro-Staaten getreten. Der drastische Sozialabbau in den Krisenstaaten treibt die Menschen in die Verzweiflung und hat ihr Vertrauen nicht nur in die europäische Integration, sondern auch in die Demokratie unterminiert. Aus der ökonomischen Krise der EU wird zunehmend auch eine gefährliche Krise der Demokratie. Sie droht die gesamte europäische Integration zu sprengen.

Schon jetzt leidet die Integration unter großen Demokratiedefiziten. Die Arbeit der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und IWF wird in den betroffenen Ländern als Diktat jenseits jeder demokratischen Legitimation wahrgenommen. Nationale Spielräume der gewählten Parlamente sind in den Ländern, die unter der Aufsicht der Troika stehen, kaum vorhanden. Auch ein Untersuchungsbericht des Europäischen Parlaments kommt zu einem verheerenden Urteil: Danach wurden die Wirkungen der Sparmaßnahmen oft falsch eingeschätzt und eine faire Verteilung der Reform- und Sparbelastungen wurde nicht durchgesetzt. Ohne Erfolg ist bisher auch Merkels Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Es sei »unzufriedenstellend, dass nur ein ganz kleiner Teil der sechs Milliarden Euro, die zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zu Verfügung stehen, bis jetzt abgerufen wurde«, erklärte die Bundeskanzlerin mutlos.

Mehr als sechs Jahre nach der Rezession sind die politischen Eliten der entwickelten kapitalistischen Länder vor die Kernfrage nach einer Fortführung der Stabilitätspolitik gestellt. Die führenden Zentralbanken, die schon mehrfach interveniert haben, um Entwertungsprozesse zu verhindern und die Märkte zu beleben, geraten an die Grenzen ihrer Macht. Viele Volkswirtschaften haben bisher keine Fahrt aufgenommen und die politischen Eliten tun sich schwer damit, einen harten Entwertungsprozess der Vermögenswerte freizugeben. Politiker haben heute weniger Instrumente zur Verfügung als in früheren wirtschaftlichen Härtezeiten. Große Volkswirtschaften, die nach der Rezession massiv fiskalische Anreize setzten, stehen nun vor einem Schuldenberg, der weitere Staatsausgaben politisch scheinbar schwer vertretbar macht. Zudem ist nach Jahren langsamen Wachstums und geringer Fortschritte am Arbeitsmarkt bei der Mehrheit der Öffentlichkeit der Wille gesunken, einen Normalisierungsprozess mit hohen Verwerfungen zu fordern.

Zugleich wird immer deutlicher, dass Notenbanken an die Grenzen ihrer Macht stoßen. Auch der EZB-Präsident Mario Draghi unterstreicht, dass die Anreizmaßnahmen der EZB – darunter der jetzt eingeleitete Ankauf von Wertpapieren – nur dann eine Kreditexpansion auslösen könnte, wenn die europäischen Politiker in ihren Volkswirtschaften Strukturreformen umsetzen würden. Es bleibt aber dabei: Die Geldpolitik alleine kann die Wirtschaftsschwäche nicht überwinden. Um die Wachstumsmöglichkeiten zu verbessern, sind neue öffentliche Investitionen notwendig und finanziert werden könnten sie auch. Die EZB kann die Probleme des Euroraums nicht allein lösen. Und die EU-Kommission verfolgt eine unzureichende Konzeption der Gestaltung des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Strukturwandels und damit der industriellen Wertschöpfung.

Betrachtet man die aktuellen Entwicklungstrends, so ist eindeutig, dass die Länder der Eurozone in ihrem Lebensstandard auseinanderstreben: In Griechenland, Portugal und Spanien setzt sich die Divergenz in raschem Tempo fort, die massive Verschlechterung des Wohlstands der Bevölkerung konnte bis in die Gegenwart nicht aufgehalten werden. Beunruhigend ist auch die anhaltende Verschlechterung in Italien und Frankreich. Soweit nicht mit einem Politikwechsel das Ruder herumgerissen wird, was aktuell wenig wahrscheinlich ist, kann im überschaubaren Zeitraum mit keiner grundlegenden Änderung des Konvergenzprozesses gerechnet werden. Somit wird man sich, ohne politische Veränderungen, auf ein Fortbestehen oder auch eine Verstärkung der Unterschiede zwischen den nationalen Ökonomien in den nächsten Jahren einstellen müssen. Damit erhöht sich die Gefahr von politischen Brüchen.


Ein Politikwechsel ist nötig und möglich – auch für Europa

Mit dem Fiskalpakt haben sich die europäischen Mitgliedstaaten zu einer rigorosen Sparpolitik und nahezu ausgeglichenen öffentlichen Haushalten verpflichtet. Weitere Kürzungen in den nationalen sozialen Sicherungssystemen und bei den Einrichtungen und Leistungen der Daseinsvorsorge sind programmiert. Dabei steht fest, dass rigorose Kürzungen in wesentlichen Wirtschafts- und Sozialbereichen die weiteren Entwicklungsperspektiven der Mitgliedsländer bremsen und damit die Zukunft der Menschen sowie die Integration in Europa gefährden. Erforderlich sind vielmehr öffentliche Ausgaben für einen umfassenden »Marshallplan« für wirtschaftliche Entwicklung, Beschäftigung, Bildung und Ausbildung (wie etwa den, den der DGB vorgeschlagen hat). Dabei ist auch eine Kreditfinanzierung unumgänglich und angesichts niedriger Zinsen sinnvoll.

Die bitteren Folgen einer weiteren rigorosen und einseitigen Kürzungspolitik sind sinkende Steuereinnahmen, sinkende Einnahmen aus Erwerbseinkommen, ein geringeres Beitragsaufkommen bei den Sozialversicherungen und damit das Verspielen der Zukunft für uns und die nachkommenden Generationen.

Die Linke sollte sich für einen Politik-Mix einsetzen:

  • sofortige Beendigung der Austeritätspolitik;
  • eine umfassende Strategie mit den Handlungsachsen Geldpolitik (EZB) und Regulierung der Banken;
  • expansive – auch durch Steuererhöhungen finanzierte – Haushaltspolitik der EU und der Mitgliedsländer sowie strukturpolitische Maßnahmen: im Zentrum ein europäischer Investitionsfonds.

Denn wir stärken den sozialen Zusammenhalt. Wir betreiben eine nachhaltige, sozial gerechte Haushaltspolitik und sorgen für eine leistungsfähige öffentliche Daseinsvorsorge. Wir richten die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik auf soziale Gerechtigkeit, Effizienz und Ökologie aus. Wir sorgen für bezahlbaren Wohnraum und flächendeckende Mobilität. Und wir setzen uns für mehr Demokratie, Transparenz und Bürgernähe und eine humanitäre Wende in der Flüchtlingspolitik ein.

Diese Vorschläge eines notwendigen Politikwechsels könnten die Ausgangsbasis für den Versuch sein, einen Verständigungsprozess unter LINKEN, SPD und GRÜNEN einzuleiten. Meine Bereitschaft dazu ist gegeben, auch innerhalb meiner Partei für eine entsprechende Öffnung zu werben. Ich wünsche mir, dass auch Jürgen Trittin sich innerhalb seiner Partei mit diesen Vorschlägen auseinandersetzt. Dass dies nicht einfach sein wird, ist klar: Eine Mehrheit der GRÜNEN setzt sich für finanzielle Konsolidierung durch Schuldenbremse und europäischen Fiskalpakt ein. Die zentrale Forderung »für eine finanzpolitische Zeitenwende« lautet: Der Staat soll künftig nicht nur keine neuen Schulden mehr aufnehmen, sondern sogar Kredite zurückzahlen – im Umfang von einem Prozent des Sozialprodukts pro Jahr. Die grüne Bundestagsfraktion lehnt eine Neuverschuldung angesichts der schwächeren Konjunktur ab. Für mehr Investitionen oder eine Bekämpfung der Auseinanderentwicklung der europäischen Länder sei eine höhere Nettokreditaufnahme für den Bundeshaushalt nicht nötig. Notwendige Investitionen müssen durch den Abbau von Subventionen, die Umschichtung von Ausgaben und gerechte Einnahmen verbessert werden. Eine solche Festlegung wirft Grundsatzprobleme der Gestaltung der zukünftigen Entwicklung auf, die über die Differenzen auf dem Gebiet der Außenpolitik weit hinausgehen.

Mit dem Festhalten an der Schuldenbremse bei gleichzeitigem Verzicht auf eine umfassende Steuerreform in Richtung auf sozial gerechtere Verteilungsverhältnisse kann es keine zukunftsorientierte Politik in Deutschland und Europa geben. Ohne die Erarbeitung einer gemeinsamen Position wird jede Debatte um ein rot-rot-grünes Bündnis auf der wahlarithmetischen Ebene beschränkt bleiben und keine Strahlkraft in die Gesellschaft entwickeln. Ohne Zustimmung aus der Zivilgesellschaft wird ein R2G-Projekt keinen ernsthaften Politikwechsel in Angriff nehmen können. Ein weiterer Stillstand in der politischen Arena wird lediglich den Zulauf zu rechtspopulistischen bis rechtsextremen Angeboten erhöhen.

Axel Troost ist stellvertretender Vorsitzender der Partei DIE LINKE, finanzpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Deutschen Bundestag und einer der fünf SprecherInnen des Instituts Solidarische Moderne.

[1] Siehe hierzu auch Cansel Kiziltepe/Lisa Paus/Axel Troost, Die ungelöste Eurokrise. Zwischenfazit und Ausblick anlässlich der Europawahl, in: Stephan Lessenich/Mario Neumann/Thomas Seibert/Andrea Ypsilanti (Redaktion), Anders regieren? Von einem Umbruch, der ansteht, aber nicht eintritt, Herausgegeben vom Institut Solidarische Moderne, Hamburg 2014, S. 21ff.
[2] Jürgen Trittin, Stillstand made in Germany: Ein anderes Land ist möglich!, Gütersloh 2014; derselbe, Die Koalition der Transformation und was ihr im Wege steht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2014.
[3] Eine Auswahl von Texten und Aufsätzen von mir zur Staatsverschuldung und Schuldenbremse findet sich unter www.axel-troost.de/article/8126.texte-zur-staatsverschuldung.html
[4] www.die-linke.de/nc/politik/themen/euro-krise-millionaersteuer-jetzt/axel-troost-die-kolumne/
[5] Steffen Lehndorff, Der Polit-Ökonom in der Euro-Krise, in: Wilfried Kurtzke/Gunter Quaißer (Hrsg.), Alternative Wirtschaftspolitik – Tro(o)st in Theorie und Praxis, Marburg 2014, S. 18.
[6] Marcel Fratzscher am 25.10.2014 in der Wirtschaftswoche.

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