25. März 2015 Hartmut Schulz: Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie 2015
»Wir für mehr ...?«
Der Tarifkonflikt in der Metall- und Elektroindustrie ist beendet. Vereinbart wurde eine Erhöhung der Tarifentgelte um 3,4% ab dem 1. April 2015 bei einer Laufzeit von 15 Monaten bis zum 31. März 2016. Als Ausgleich für die ersten drei Monate erhalten die 3,7 Millionen MetallerInnen eine Einmalzahlung in Höhe von 150 Euro (Auszubildende 55 Euro).
Darüber hinaus wurden die tariflichen Regelungen zur Altersteilzeit an die veränderte Gesetzeslage angepasst und die materiellen Zugangsvoraussetzungen insbesondere für Beschäftigte in den unteren Entgeltgruppen verbessert. Der flexible Übergang in die Altersrente mit 45 Beitragsjahren konnte für bis zu 3% (zuvor 2,5%) der Beschäftigten sichergestellt werden. Eine Erweiterung des Katalogs besonders belastender Tätigkeiten, die einen erzwingbaren Ausstieg in die Altersteilzeit ermöglichen, war nicht durchsetzbar.
Der Einstieg in eine Bildungsteilzeit ist dagegen eher zaghaft geraten. Die zur Übernahme empfohlene Regelung orientiert sich nicht an dem schon bisher geltenden, weitergehenden Tarifvertrag für Baden-Württemberg, sondern an dem zuletzt erreichten Verhandlungsstand in Nordrhein-Westfalen.
Verteilungspolitische Sicht
Wie nicht anders zu erwarten, wird das Ergebnis sehr unterschiedlich kommentiert. Jörg Hofmann, 2. Vorsitzender der IG Metall, ist zufrieden: »Wir haben sowohl beim Entgelt als auch bei der Altersteilzeit und der Bildungsteilzeit gute Verhandlungsergebnisse erzielt.« »Jammern ist des Kaufmanns Gruß«, sagt ein altes Sprichwort und so ist klar, dass für die Arbeitgeber der Abschluss wie gewohnt »hart an der Grenze des Erträglichen« liegt. Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger klagte im Deutschlandfunk, der materielle Abschluss sei für die Branche »gerade so eben noch zu stemmen«.
Dagegen bemängelt der Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck auf seiner Website, dass das Abschlussvolumen von 2,72% deutlich unter den Möglichkeiten der deutschen Metall- und Elektroindustrie bleibt und damit der erhoffte Impuls für die deutsche und insbesondere für die europäische Wirtschaft viel zu gering sei. Für seine Bewertung greift er auf die »Westrick-Formel« zurück, mit der Tarifmathematiker die Belastung eines Tarifergebnisses für die Unternehmen ausrechnen. Dabei wird die Entgelterhöhung von der vereinbarten Gesamtlaufzeit auf zwölf Monate umgerechnet, um so den werthaltigen Vergleich mit anderen Tarifabschlüssen zu ermöglichen. Während diese Rechnung aus der Sicht der Beschäftigten eher nachrangig ist, weil die Entgelte als Ausgangsbasis für die nächsten Tariferhöhungen ja tatsächlich um 3,4% erhöht werden, ist sie für die Verteilungsfrage durchaus von Bedeutung.
Unbestritten ist, dass es im vierten Jahr in Folge mit diesem Abschluss eine ordentliche Reallohnsteigerung gibt. Andererseits liegt die Lohnquote mit ca. 67% immer noch weit unter dem Wert von 73% Anfang der 1990er Jahre. Ob die Verteilungsverhältnisse durch dieses Ergebnis gleich geblieben sind, oder sich gar positiv verändert haben, wird erst in einer Gesamtschau aller Tarifergebnisse dieser »Lohnrunde« zu beantworten sein.
Der »kostenneutrale Verteilungsspielraum« ist eine gesamtwirtschaftliche Kenngröße und dient in der IG Metall als Orientierung zur Aufstellung von Tarifforderungen – die Bewertung der Ergebnisse steht auf einem anderen Blatt. Die metallwirtschaftlichen Abschlüsse, so wichtig und bedeutend sie auch für die anderen Branchen sein mögen, gehen lediglich mit ihrem Anteil am volkswirtschaftlichen Geschehen in diese Kenngröße ein. Verteilungspolitisch gesehen bleibt es also eher ein Problem, wenn die Metallabschlüsse sich nicht an den Möglichkeiten der Metallwirtschaft orientieren, weil sie dann in der Regel oberhalb des gesamtwirtschaftlichen Durchschnitts liegen müssten.
Wer die Voten der Mitgliedschaft ignoriert, wird dem diesjährigen Abschluss in der Metall- und Elektroindustrie nicht gerecht. Die 870.000 Beteiligten an den Warnstreiks und öffentlichkeitswirksamen Aktionen aus 3.800 Betrieben zeigen die deutliche Zustimmung der Mitglieder zu den Forderungen und zum Durchsetzungskonzept der IG Metall. Dieser Druck war ein unmissverständliches Signal an Gesamtmetall, den Bogen mit Blockadepositionen und Gegenforderungen nicht zu überspannen. Das provokative »Magerkost«-Angebot von 2,2% – vor dem Hintergrund voller Auftragsbücher, steigender Exporte durch den niedrigen Eurokurs und gesunkener Energiekosten – sowie die Sorge vor Einschnitten bei der Altersteilzeit trieben die Beschäftigten auf die Straße und Plätze.
Die »Verbandsloyalität« im Arbeitgeberlager konnte mit Mühe über die Argumentation hergestellt werden, der materielle Teil der Vereinbarung sei nur zustimmungsfähig, weil man »im Gegenzug bei der Altersteilzeit und bei der Bildung die Kernanliegen der Arbeitgeber« durchgesetzt habe. Das Kalkül der Arbeitgeberverbände sei offenbar gewesen, dass »die Unternehmen mit einer höheren Lohnkostensteigerung eher klarkommen als mit Mehrbelastungen und neuer nerviger Mitbestimmungsbürokratie, wie sie die IG Metall mit den Stichworten Alters- und Bildungsteilzeit aufgerufen hatte«, schlussfolgerte die FAZ am 25.2.2015.
Das Dilemma mit den qualitativen Forderungen
Ungeachtet der insgesamt positiven Bewertung dieses Tarifergebnisses stellen sich aber auch Fragen.
Gewiss, der Bezirk Baden-Württemberg ist groß und kampfstark. Kein Wunder, dass die IG Metall im Interesse eines möglichst optimalen Ergebnisses immer wieder dort den Pilotabschluss sucht. Andererseits stellen sich immer mehr regionale Arbeitgeberverbände quer, wenn es um die Übernahme bestimmter Ergebnisbestandteile geht. So beispielsweise in dieser Tarifrunde beim Thema Bildungsteilzeit. Zugleich geht in den Bezirken, deren Arbeitgeberverbände sich als nicht abschlussfähig darstellen, das Know-how der strukturellen Arbeitskampffähigkeit verloren.
Was bedeutet es eigentlich für die IG Metall, wenn die sukzessive Abkoppelung von bestimmten Regelungsstandards weiter um sich greift? Schon nach der Entkopplung der meisten IG Metall- Bezirke von der leistungspolitischen Regulation (Lohnrahmen II) in den 1980er Jahren ging auch der Anschluss bei den Themen Langzeitkonten und Qualifizierung verloren. Mit der Folge, dass erreichte tarifpolitische Fortschritte nach und nach auch in den baden-württembergischen Betrieben unter Druck geraten.
Das gilt nicht nur für so genannte qualitative Elemente. Mit der ERA-Einführung kam es in den verschiedenen Tarifgebieten auch zu unterschiedlichen Entgeltlinien, die mangels eines vergleichbaren gemeinsamen Eckentgelts nun mit jeder Tariferhöhung auch das Auseinanderdriften der Entgelthöhen beschleunigen.
Gewiss, die Forderung nach bezahlten Qualifizierungszeiten ist seit vielen Jahren absolut populär. Schon Anfang der 1990er Jahre kam im IG Metall Bezirk Küste die Forderung nach einem »QualifizierungsTV« auf. Und noch in den Forderungen zu einem gemeinsamen »EntgeltrahmenTV« waren Regelungen zur arbeitgeberseitigen Förderung und Finanzierung von Qualifizierungsansprüchen enthalten.
Beschäftigtenbefragungen mögen ein geeignetes Mittel zur Beteiligung der Mitglieder an der Vorbereitung von tarif- und/oder betriebspolitischen Aktivitäten sein. Aber sind sympathische, populäre Wunschvorstellungen schon deshalb auch mobilisierungs- und durchsetzungsfähige Forderungen? Mitnichten. Die IG Metall als Organisation steht in der Verantwortung, mit entsprechendem Aufwand die dazu erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen.
Der Kampf um die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden in den 1980er Jahren hat gezeigt, dass die Gewerkschaft sehr wohl in der Lage ist, volkswirtschaftlich und gesellschaftlich notwendige und sinnvolle Forderungen, die darüber hinaus auch einen hohen individuellen Nutzen haben, mobilisierungs- und durchsetzungsfähig zu machen. Voraussetzung dafür ist allerdings eine Strategie, die die Forderungen im Diskurs mit den Mitgliedern verankert und zugleich die Argumentationsfestigkeit der Funktionäre herstellt sowie die Forderungselemente in der Öffentlichkeit verankert.
Andererseits lassen sich wirksame qualitative Ansprüche in der Regel nicht per Warnstreikszenario durchsetzen. Deshalb wäre es notwendig, deren Durchsetzung auch per Arbeitskampf vorzubereiten. Dazu ist auch eine klare Ansage an die Arbeitgeber vonnöten, dass das ernst gemeint ist. Alle anderen Szenarien lassen eher den Eindruck entstehen, dass am Ende die qualitativen Elemente mit Kompromissformeln »taktisch« abgehängt werden, um ein materiell günstiges Ergebnis zu erzielen.
Schon in den nächsten Tarifrunden steht die IG Metall erneut vor der Herausforderung, mit qualitativen Forderungselementen aufzuwarten. Ansprüche an Arbeitszeitsouveränität im Sinne der Vereinbarkeit von Beruf und Familie erfordern neue, weitergehende Arbeitszeitregelungen. Aber mehr noch die vorhersehbaren negativen Beschäftigungswirkungen der »4. Industriellen Revolution«, die gerade durch die Telekom mit dem Titel »Wirtschaftswunder 4.0« beworben wird, bringen neue tarifpolitische Herausforderungen mit sich.
Weitere Schritte der Arbeitszeitverkürzung sind das eine. Auf der anderen Seite braucht es dringend mehr individuelle Ansprüche und Beteiligungsrechte für die Beschäftigten und darüber hinaus die Ausweitung der kollektiven Mitbestimmungsrechte bei der Gestaltung der Arbeitsorganisation und Arbeitsinhalte, um die Grundlagen gewerkschaftlicher Interessenvertretung im Betrieb abzusichern.
Die IG Metall wäre schlecht beraten, darauf zu warten, dass Industrie und Wirtschaft mit »Revolution und Wirtschaftswunder« auch ohne die qualifizierte Beteiligung der ArbeitnehmerInnen und ihrer Gewerkschaften Fakten schaffen, die letztlich zu deren Lasten gehen.
Hartmut Schulz war langjähriger Tarifsekretär in der Bezirksleitung der IG Metall Küste.