1. September 2000 Joachim Bischoff / Hasko Hüning

Wo bleiben die Verlierer?

Wer sammelt die Verlierer der rot-grünen Koalitionspolitik ein, fragt Rudolf Hickel in seiner Halbzeitbilanz. Verlierer gibt es genug: In der Finanzpolitik sind die Ziele gesamtwirtschaftlicher Gestaltung längst aufgegeben und in der Steuerpolitik der Pfad sozialer Gerechtigkeit verlassen worden. »Die Berliner Politik der Kapitalentfesselung kulminiert im derzeit geplanten Systemwechsel bei der gesetzlichen Rentenversicherung... Die Orientierung an den Interessen derer, die von Arbeitsplätzen abhängig sind, hat sich auf Floskeln reduziert – aber nicht nur in der Rhetorik wird man noch einiges zulegen müssen, wenn die große Zahl der Verlierer dieser Politik in zwei Jahren eingesammelt werden soll.« [1]

Die Enttäuschung über den weitgehend ausgebliebenen Politikwechsel ist im linken politischen Spektrum groß. Die versprochenen Korrekturen in den Verteilungsverhältnissen sind vor allem für die einkommensschwachen sozialen Schichten zu gering ausgefallen – was nach wie vor eine Schwäche des privaten Verbrauchs und eine forcierte Geldvermögensbildung zur Folge hat. Die bundesdeutsche Konjunktur bewegt sich im Schlepptau des US-amerikanischen Booms und der beschäftigungsorientierten Nachfragepolitik in einigen westeuropäischen Nachbarländern.

Prominentester Kronzeuge für die gebrochenen Wahlversprechen ist Oskar Lafontaine. Nach seinem Rücktritt »hat die Bundesregierung das Wahlprogramm der SPD in drei wesentlichen Punkten verlassen: erstens bei den militärischen Einsätzen der Bundeswehr, zweitens bei der Rente, drittens bei der Steuerpolitik.« [2] Schröders Argument für die vorgesehene massive Absenkung des Rentenniveaus lautet: Man habe die Finanzkrise der gesetzlichen Altersversicherung unterschätzt und müsse daher zu härteren Sanierungsmaßnahmen greifen, als sie unter der Regierung Kohl vorgesehen waren. Die jüngste Diskussion über eine Absenkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bestätigt aber: Der rot-grünen Koalition geht es um die Senkung der Lohnnebenkosten als Mittel zur Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit des bundesdeutschen Kapitals, und nicht um eine Anhebung der sozialen Lage der unteren gesellschaftlichen Schichten (Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Kinder in Armut etc.).

Umschichtungen im Parteiensystem

Die soziale Asymmetrie der Politik der »neuen Mitte« und die große Zahl der »Verlierer« sind offenkundig. Gleichwohl erfreut sich die Regierungspolitik zur Halbzeit der Legislaturperiode wachsender Zustimmung in der Bevölkerung. [3] Lafontaine führt die positiven demoskopischen Werte auf eine geschickte Medienpolitik zurück, geht aber davon aus, dass längerfristig die Ignoranz gegenüber der Interessenvertretung der unteren sozialen Schichten der Sozialdemokratie – wie schon heute den BündnisGrünen – miserable Stimmenergebnisse bescheren wird. Diese Argumentation ist wenig überzeugend. Selbst einmal angenommen, die große Zahl der Verlierer würde der rot-grünen Koalition am Ende der Legislaturperiode die rote Karte zeigen: Was hieße das für die politischen Kräfteverhältnisse? Die Ergebnisse der Bundestagswahl 1998 und der Regional- und Kommunalwahlen in 1999 – Saarland, Brandenburg, Thüringen, Sachsen und NRW – haben bei Parteienforschern die Frage nach dem Beginn einer Umschichtung im bundesdeutschen Parteiensystem aufgeworfen. Die politische Stabilität der Republik wurde bis in die 80er Jahre hinein auf relativ klare Konturen des Parteiensystems zurückgeführt. »Diese Kontinuität wird allerdings 1983 und 1990 durch Ausdifferenzierungen des Parteiensystems entscheidend modifiziert« [4] – in den 80er Jahren konnten sich die Grünen als Anwalt ökologischer und friedenspolitischer Interessen durchsetzen und mit der deutschen Vereinigung wurde die PDS als Bundespartei importiert.

Ein wesentlicher Grund für die langfristige Stabilität des deutschen Parteiensystems wird in seiner Einbindung in unterschiedliche Sozialmilieus gesehen. Doch mit Beginn der 80er Jahre zeigten sich deutliche Wandlungsprozesse; die Auflockerung und »Pluralisierung« des Parteiensystems [5] setzte ein und die Parteien wurden gezwungen, Problemlösungen zu erarbeiten und politisch durchzufechten, die über die engeren Interessen ihrer Kernklientel hinausgingen. Die Zeit des neokonservativen Projekts der Flexibilisierung von Arbeit und der Deregulierung der Sozialverhältnisse hat tiefe Spuren im Sozialgefüge hinterlassen (Ausdifferenzierung der Sozialstruktur, Verfestigung sozialer Ungleichheit) und der Prozess der deutschen Einheit hat die Vielfalt der sozialen und politischen Interessen- und Konfliktlinien erhöht. Die Folge ist: »Durch die Erosion der Sozialmilieus haben einerseits die das Parteiensystem stabilisierenden Faktoren an Bedeutung verloren, andererseits haben die Parteien dadurch aber auch einen größeren Spielraum für strategisches Handeln erlangt, der ihnen einen höheren Grad an inhaltlicher Flexibilität bei der programmatischen Bearbeitung von Problemlagen gestattet. Die gestiegene Bedeutung der Politik verändert aber auch die Wettbewerbsbedingungen«. [6]

An dieser Stelle gerät die PDS in das Blickfeld. Wird die linkssozialistische Partei von einer Enttäuschung über die Politik der sozialdemokratisch geführten Regierungskoalition profitieren? Die PDS war 1998 in den Wahlkampf mit der Orientierung gezogen, dass dieses Land eine »neue Politik« brauche. In dem Entwurf eines Leitantrages für den Parteitag im Oktober 2000 in Cottbus stellt das designierte Führungstrio Gabi Zimmer (Parteivorsitzende), Roland Claus (Fraktionsvorsitz im Bundestag) und Dietmar Bartsch (Bundesgeschäftsführer) fest: »Zwei Jahre sozialdemokratisch-grüner Bundespolitik haben den politischen Platz links von der SPD dramatisch vergrößert. Für uns ist das keine Genugtuung, aber eine Verantwortung, die wir wahrnehmen werden.« [7] Dennoch bleiben die Ziele für die Bundestagswahl 2002 ausgesprochen bescheiden: Die PDS will drei Direktmandate erobern, mehr als sechs Prozent der Zweitstimmen holen (25% in Ostdeutschland, 2% in Westdeutschland). Der Grund für diese Bescheidenheit wird zu Beginn des Leitantrages benannt: »Die PDS ist gegenwärtig mit ernsten Problemen konfrontiert. Wir sind dabei, sie zu lösen. Mit dem Gesicht zu den Menschen heißt für uns auch, ehrlich, offen und öffentlich mit den eigenen Fehlern und Defiziten umzugehen.« Worin die ernsten Probleme bestehen und wie sie gelöst werden sollen, wird allerdings nicht deutlich gesagt. Interpretiert man die versteckten Andeutungen in dem umfangreichen Leitantrag, lassen sich drei Problemkreise fixieren.

Das Personal- und Führungsproblem

Die PDS hat das erste Jahrzehnt ihrer Existenz mit einem beachtenswerten Erneuerungsprozess abgeschlossen und muss/will in das nächste Jahrzehnt mit einer neuen und jüngeren Führungscrew gehen. Doch auch für die PDS gilt: Wahlkampf und Politik sind zu einem Medienspektakel geworden. Insbesondere das Fernsehen hat einen spezifischen Typus des Berufspolitikers hervorgebracht: den professionellen Polit-Entertainer und Showman. Gregor Gysi verkörpert wie kein anderer diesen Trend zur Personifizierung der Politik. In der spätkapitalistischen Welt, die im öffentlichen Diskurs keine Zeit mehr für Worte hat, repräsentiert Gysi eine moderne linkssozialistische Partei. Auch Lothar Bisky kann – wenn auch eher für Ostdeutschland – auf eine erfolgreiche Medieninszenierung verweisen. Sowohl der Fraktions- als auch der Parteivorsitzende treten im Herbst aus der ersten Reihe zurück, womit für die PDS ein Problem markiert ist.

Was der PDS zu ihrer seit zehn Jahren andauernden relativen Attraktivität verhilft, ist die Desillusionierung über die Potenziale und die Verlässlichkeit der Institutionen einer »sozialen Marktwirtschaft« und ihres politischen Überbaus. Mit einem gewissen »cultural lag« wird das politische System der alten Bundesrepublik von den unterliegenden Problemlagen des gesellschaftlichen Strukturwandels berührt. Nach der Vereinigung 1990 haben es die »alten« Parteien versäumt, neue Wählergruppen zu integrieren. Dies nicht allein aus Unvermögen, sondern als Resultat, als (nichtintendierte) Folge einer schon über lange Jahre betriebenen, sehr differenziert angelegten Politik sozialer Polarisierung in den alten Bundesländern. Eine deregulierte Gesellschaft gibt sich denn auch einen ihr entsprechenden politischen Ausdruck: Die Deregulierung des traditionellen Parteiensystems.

Die Binnenintegration der Ostdeutschen ging nicht ohne politische Strukturveränderung ab; so ist »die soziale und politische Integrationsleistung der PDS« (K. Hartung) nicht zu übersehen. Das Kunststück, als Oppositionspartei zugleich auch ein integratives und stabilisierendes Element im Parteiengefüge zu sein, kommt für die PDS einer ständigen Gratwanderung gleich. Die Einbindung in kommunale, regionale und landespolitische Verantwortung und Entscheidungsprozesse (Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern etc.) ist nur schwer mit grundsätzlich gesellschaftsverändernden Zielsetzungen zu vermitteln. So hat die PDS inzwischen zwar gute Übung darin entwickelt, von der SPD geräumte Politikfelder zu besetzen und sich so als konstruktive und berechenbare Opposition darzustellen, aber sie hat noch wenig Übung, durch die Vermittlung gegenläufiger Interessenlagen in der Bevölkerung ein eigenständiges Terrain als reformsozialistische Partei in Deutschland auszuweisen.

Für diese – im Übrigen absehbare – politische Ambivalenz hat die Partei im zurückliegenden Jahrzehnt kein breiteres Personaltableau aufgebaut. Das neue Führungstrio muss nun Hals über Kopf sein bundespolitisches Talent erst noch erproben. Während die Personifizierung sozialistischer Politik durch Gysi und Bisky voranschritt, hat die Parteiorganisation ihr schlechtes Image kaum abstreifen können. Von einer modernen Organisation – lernfähig, kommunikativ, effizient und kampagnenfähig – ist die PDS weit entfernt. Im Leitantrag zum Cottbuser Parteitag heißt es: »Die Menschen in der Bundesrepublik brauchen keine Partei, die sich in ideologischen Nischen, sektiererischer Selbstgefälligkeit oder Schlachten der Vergangenheit verliert, sie benötigen keine Partei, die unfähig ist, gescheiter aus gescheiterter Geschichte hervorzugehen, sie fragen nicht nach einer Partei, die mit sich selbst beschäftigt ist.« Das sind Versicherungen ohne Überzeugungskraft, die Wirklichkeit sieht anders aus. Für eine linkssozialistische Partei ist es keine ausreichende Handlungsanweisung, die Nöte, Hoffnungen, realen Interessen und Erfahrungen der Menschen ernst nehmen zu wollen. Es gibt bekanntlich in einer kapitalistischen Gesellschaft unterschiedliche soziale Schichten und mehr oder minder bedrückende Widersprüche. Linkssozialistische Politik kann sich nicht mit dem Aufgreifen von und dem Anpassen an gesellschaftliche Entwicklungstrends zufriedengeben. Alternativen erfordern Analyse, Aufklärung, Kommunikation – mit einem Wort: organisiertes politisches Arbeiten. Wie die jüngste Programm- und Strategiedebatte der PDS enthüllt, ist die Partei keine lernende und aufklärerische Organisation. In kaum zu übertreffender Arroganz hat der sog. Vordenker der Partei, André Brie, der PDS ihre intellektuelle Kleingeistigkeit und kulturelle Provinzialität immer wieder vorgehalten. Man muss sich diese Attitüde des Avantgarde-Intellektuellen nicht zu eigen machen, aber dass die PDS organisatorisch, intellektuell und politisch-kulturell nicht auf der Höhe der Zeit – sprich der anderen Parteien – ist, hat den Status des Alltagswissens.

Für eine antikapitalistische, antimilitaristische und antifaschistische Partei ist die PDS im Übergang zum 21. Jahrhundert im Hinblick auf gesellschaftliches Wissen und organisatorische Strukturen schlecht ausgestattet. Dieses Defizit ist auch zum Teil das Resultat des charismatischen Gregor Gysi, der über seine erfolgreichen Medieninszenierungen hinaus wenig Energie und Aufmerksamkeit für die Entwicklung der Parteiorganisation hatte. Gysi konstatiert zurecht, dass die Zeit des charismatischen Überfliegers abgelaufen ist und es daher politisch klug sei, sich aus der ersten Reihe zurückzuziehen. Ob in diesem Fall der narzistische Charakter seine Selbsteinsicht in praktische Wirklichkeit umsetzt, bleibt abzuwarten.

Fakt ist: Die Parteiorganisation ist in einem bejammernswerten Zustand. Es ist allerdings kein Versprechen auf eine gute Zukunft, wenn der langjährige Bundesgeschäftsführer, der für die Verfestigung dieses Zustandes neben anderen nicht ohne Verantwortung ist, nun die Chance zur Fortführung dieser schlechten Praxis bekommt.

Ostdeutsche Milieu- und Bundespartei?

Die meisten Meinungsforschungsinstitute weisen für die PDS einen Stimmanteil von fünf Prozent oder mehr aus. Nur Forsa will während des NRW-Wahlkampfes im Mai einen dramatischen Absturz von 3 auf 1% festgestellt haben. Das Institut geht – trotz der bekannten Fehleinschätzung aller Institute und Experten im zurückliegenden Jahrzehnt – von einem bevorstehenden Ausscheiden der Linkssozialisten auf Bundesebene aus. [8]

Demgegenüber betont das künftige Führungstrio: »Die PDS hat begonnen, auch in Westdeutschland die politische Isolation zu verlassen.« Tatsache ist, dass die PDS in einige Kommunalparlamente in Westdeutschland eingezogen ist. Aber die Aussage, dass sie eine wichtige und akzeptierte Partnerin der alten und neuen sozialen Bewegungen, der Gewerkschaften, vieler politischer und kultureller Initiativen sei, ist geschönt. Die PDS ist die authentische linke ostdeutsche Volkspartei, aber in Westdeutschland ist sie nach wie vor eine linkssozialistische Splittergruppe, die sich in etlichen Landesorganisationen (Baden-Württemberg, NRW, Bremen, Hamburg) blockierende Richtungskämpfe erlaubt. Wie erwartet, hat der von der Sozialdemokratie zur PDS gewechselte und seit 1999 als Vize-Vorsitzender für die westlichen Bundesländer zuständige Diether Dehm den Parteiaufbau im Westen kaum beflügeln können.

Das Bekenntnis zu offenen Listen und zur Zusammenarbeit mit anderen linken Kräften findet sich erneut als Beschlussvorlage. Sektierertum soll ein Ende haben; auf fachliche, politische und soziale Kompetenz sowie öffentliche Wirksamkeit der Bewerberinnen und Bewerber auf PDS-Listen wird Wert gelegt. Wie das durchgesetzt werden soll, bleibt das Geheimnis der designierten Parteiführung. Zum einen hat sich schon in den zurückliegenden Wahlen gezeigt, dass auch in der PDS eine selbstkritische Überprüfung von Personalentscheidungen eher die Ausnahme war. Häufig wurden mit viel Wirbel parteilose Persönlichkeiten auf vordere Listenplätze gesetzt – man denke an die Gewerkschaftsfunktionäre Henn und Müller, den Bismarck-Enkel Graf Einsiedel oder an den versuchten Einstieg des einstigen Bundeswehroffiziers Schmähling. Eine parteiöffentliche Auswertung, ob und in welchem Umfang die mit diesen parteilosen Persönlichkeiten verbundenen Ziele – kritische Kontrolle durch Parlamentsarbeit, Öffnung der PDS in die Gesellschaft, Modernisierung der Sozialismuskonzeption – erreicht worden sind, ist weitgehend unterblieben. Zum anderen ist es nur bei starker bundespolitischer Ausrichtung möglich, die regionalspezifischen Gesichtspunkte und Zufälligkeiten bei der Auswahl von Kandidaten zurückzudrängen. Wenn auf dem Cottbuser Parteitag die Nominierungsgremien aufgefordert werden, sich an den neu-alten Maßstab zu halten, dann dürfte das Ergebnis kaum überzeugender ausfallen als in der Vergangenheit. Gleichwohl ist die designierte Parteiführung – gestützt auf eine Untersuchung von André Brie – sicher, bei der Bundestagswahl 2002 wieder die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen, sofern sie ihre aktuellen Schwierigkeiten überwindet. Die PDS – so Brie – sei nur ungenügend politisch erkennbar; allerdings gefährde der Rückzug von Gysi aus der ersten Reihe ein Viertel bis ein Drittel des Wählerpotenzials. [9]

Strategische Defizite

Den größten Raum unter den »ernsten Problemen« im Leitantrag für den Cottbuser Parteitag nimmt die Auseinandersetzung mit den strategischen Defiziten ein. »Selbstkritisch müssen wir wie vor vier Jahren feststellen, dass die dem Neoliberalismus gegenüberstehenden Kräfte ›Gefahr laufen, sich selbst durch politische Innovationslosigkeit zu blockieren‹. Gesellschaftliche Konfliktlinien werden in weiten Teilen der Bevölkerung, auch unserer eigenen Wählerinnen und Wähler, weniger klar als vor der Bundestagswahl 1998 wahrgenommen. Umso wichtiger wird es für uns sein, über soziale Ursachen, Machtverhältnisse und wirtschaftliche Interessen aufzuklären.«

Damit sind wir beim Schlüsselproblem. Seit langem wird in Untersuchungen darauf hingewiesen, dass in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften das Vertrauen in die politischen Führungsschichten und die politischen Parteien schwindet. Speziell für junge Erwachsene gibt es das Phänomen der »unzufriedenen Demokraten«. Es ist eine wichtige Aufgabe für eine sozialistische Partei, dazu beizutragen, dass sich Stimmungen wie Politikverdrossenheit, Fremdenfeindlichkeit u.a. nicht noch weiter ausbreiten. Aufklärung über Entwicklungstendenzen und gesellschaftliche Widersprüche ist ein wichtiger Ansatzpunkt. Es gilt, möglichst vielen WählerInnen nahe zu bringen, dass die rot-grüne Bundesregierung die Koordinaten fast aller Politikfelder weiter nach rechts verschoben hat. Die PDS stellt zurecht fest, dass sie bundespolitisch noch unzureichend fähig ist, die SPD wirksam, politisch kompetent und sozial konkret unter »linken« Druck zu setzen.

Zweifellos hat die PDS manifeste programmatische Defizite – nicht umsonst setzt sie sich dem zähen Geschäft einer Programmdebatte aus. Falsch ist jedoch die These, dass die Partei über gar keine tragfähigen Positionen verfüge, wie einige (auch politikwissenschaftliche) Kommentatoren wiederholen; es wird versucht, ihr das Etikett eines prinzipienlosen Populismus anzuheften. Aber auch der Gegenbeweis ist schnell erbracht: Nachdem die SPD sich nach 1998 als regierungsfähige »neue Mitte« eingerichtet hatte, reagierte die PDS darauf mit erheblichen Anstrengungen, in Fragen der Massenarbeitslosigkeit, der Globalisierung, Ökologie, Energie, Sozialstaat, soziale Gerechtigkeit usw. linkssozialistische Positionen zu beziehen (vgl. z.B. Positionen der PDS zur Wirtschaftspolitik – Beiträge zur Wirtschaftspolitik 5-6/1999; G. Gysi, 12 Thesen zur Sozialen Gerechtigkeit, August 1999). Dass diese Positionsbestimmungen in der politischen Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen werden, hat u.a. auch viel mit den medialen Kommunikationsstrukturen zu tun. Und es ist eine offene Frage, ob sich die programmatische Ignoranz von Seiten der Sozialdemokratie und von linken Bündnisgrünen gegenüber den PDS-Positionen durchhalten lässt.

Dass die Linkssozialisten sich schwer tun, die Sozialdemokratie unter Druck zu setzen, führt G. Neugebauer auf ein »strategisches Dilemma« der PDS zurück. »Einerseits sucht sie die Akzeptanz der SPD, andererseits will sie von links Druck auf die SPD machen. Druck setzt Kraft voraus. Doch bislang blieb die Hoffnung unerfüllt, Sprachrohr der deutschen Linken zu werden, vom Gang der SPD in die Mitte zu profitieren und neue Wählerschichten im dadurch entstandenen Vakuum zu gewinnen.« [10] Ein Schritt zur Auflösung des strategischen Dilemmas könnte die Ausarbeitung einer kritischen Einschätzung der westeuropäischen Sozialdemokratie sein. Es geht um die Frage, weshalb die SPD von einer sozialorientierten oder arbeitnehmerzentrierten Reformpolitik abrückt. Warum verzichtet die modernisierte Sozialdemokratie (Blair, Schröder, Persson) auf traditionelle sozialdemokratische Werte und Ziele? Eben nicht – wie der Leitantrag behauptet – wegen einer über dem gesellschaftlichen Grund schwebenden Ideologie namens »Neoliberalismus«.

Die PDS war in die Wahl 1998 mit der Botschaft gezogen, sich der neoliberalen Sachzwang-Logik des Marktes zu widersetzen. Es gelte, eine praktikable linke Alternative zum Neoliberalismus zu entwickeln, um so zu einer »Wende von der immer ausgedehnteren Herrschaft der Wirtschaft über Politik und Gesellschaft zur Gewinnung demokratischer Gestaltungsfähigkeit beizutragen« (Wahlprogramm 1998). Die grundlegende Hypothese des Neoliberalismus lautet: Die Wachstums- und Akkumulationsschwäche in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern entstehen aus einer verteilungspolitischen Überforderung und einer Blockierung durch den stark angewachsenen Staatseinfluss auf die privatkapitalistische Ökonomie. Diese politische Philosophie ist im Laufe der 90er Jahre abgewählt worden. Soweit die bürgerlichen Parteien im Zuge dieser Transformation nicht ihren Charakter als Massen- und Volksparteien verloren und sich am rechten Rand des politischen Spektrums isolierten, sind sie zu einer Philosophie des »compassionate conservatism« oder des »Konservatismus mit Herz« übergegangen, die es ermöglicht, soziale Gesinnung zu demonstrieren, ohne eine Ausweitung der staatlichen Wohlfahrtsbürokratie in Kauf zu nehmen. »Es hieße allerdings, das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn man auf den Sozialstaat europäischer Prägung ganz verzichten und auf ›Marktwirtschaft pur‹ setzen würde. Er wird auch weiterhin gebraucht, wenn auch in einer abgespeckten Form. Ein solcher Kernsozialstaat hat nach wie vor komparative Vorteile, wenn es darum geht, die Individuen gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit abzusichern. Das gilt auch für den Kampf gegen die Armut.« [11]

Auch die modernisierte Sozialdemokratie hat sich dieser Konzeption des Empowerments oder der Subsidiarität – Fördern und Fordern – angeschlossen. Die neue Sozialdemokratie vertritt die Auffassung, dass der Sozialversicherungsstaat, wie er aus den Schutzbedürfnissen des Industriezeitalters im 19. und 20. Jahrhundert entstanden ist, strukturell umgebaut werden müsse. Die Durchsetzung einer auf soziale Gleichheit in der Ökonomie, den anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit oder in der urbanen Entwicklung gerichteten Politik scheitere zum einen an einer globalisierten Ökonomie. Möglichst maximale Gleichheit sei kein sinnvolles Ziel mehr, weil es utopisch sei, klassische sozialdemokratische Gleichheitsvorstellungen gegen die deutlichen wirtschaftlich-technischen Trends zu setzen. Zum anderen würden durch Umverteilung neue Ungerechtigkeiten erzeugt. Gefördert wird Selbsthilfe, zumal sie über den Ausbau privater Organisationen die zivilgesellschaftliche Schicht der modernen kapitalistischen Verhältnisse stärke.

Die Sozialdemokratie meint auf die strukturellen Veränderungen der letzten zwei Jahrzehnte eine adäquate Antwort gefunden zu haben: den »aktivierenden Staat«. Einen Anspruch auf Bekämpfung von sozialer Ungleichheit gibt es nur noch eingeschränkt; der Apathie vieler benachteiligter und sozial ausgegrenzter BürgerInnen wird entgegengewirkt, wenn sie selbst Engagement erkennen lassen. Es wird letztlich nur gefördert, wer entsprechenden Einsatz und Leistungsbereitschaft erkennen lässt. Das ist etwas anderes als Neoliberalismus. Die »modernisierte« Sozialdemokratie wird man nicht mit den »Gefechten« von gestern unter Druck setzen können.

Wer gewinnt die Verlierer?

Fassen wir zusammen: Ohne Zweifel hat die Enttäuschung über die Regierungspolitik seit der Wahl 1998 Raum für die PDS freigegeben. Das aktuelle Potenzial der PDS erreichte im Herbst 1999 erstmals eine zweistellige Größenordnung von 13% der gesamten Bevölkerung. Die bisher verfolgten Wege einer Westausdehnung der PDS sind gescheitert, die westdeutschen Landesverbände führen ein bezogen auf die Gesamtpartei randständiges politisches Dasein und ein z.T. sehr ausgeprägtes, von der PDS im Osten abgekoppeltes Eigenleben, worin sich u.a. ein massiver gegenseitiger Vertrauensverlust ausdrückt. Ein ernsthafter Dialog zwischen den westlichen und östlichen Landesverbänden darüber, was »sozialistische Identität im Westen unter Globalisierungsbedingungen« heißen könnte, ist nur zaghaft und vereinzelt von Landesverbänden organisiert worden, aber als übergreifender Dialog auf Bundesebene nie zustande gekommen. Die fortbestehenden ost-westlichen Differenzen und Ressentiments werden sich offenbar nicht rasch auflösen.

Die Linke ist nach wie vor marginalisiert. Die diversen »Dritten Wege« in Europa scheinen der Sozialdemokratie das ehemals produktive Spannungsverhältnis von sozialistischem Ziel und Alltagspraxis auszutreiben. »Die regierenden Sozialdemokraten zerstören damit den inneren Kern der sozialistischen Idee: den Anspruch, durch kollektives und organisiertes Handeln die Grundlagen des von der Herrschaft der Ökonomie bedrohten sozialen Zusammenhalts der Menschen zu bewahren«. [12] Für die PDS als der – der Möglichkeit nach – »pluralen Partei der Linken« scheint bei aller Ambivalenz ihrer streitigen Positionen daher kaum ein Weg zu existieren, in Annäherung an die SPD einen tragfähigen Minimalkonsens zu finden. Sie ist damit nach wie vor »auch Bestandteil des Problems der Erneuerung der Linken und noch nicht bereits Teil seiner Lösung«. [13]

Die PDS jagt noch immer die Schimäre des Neoliberalismus. Sie versteht nicht, weshalb es im sozialdemokratisch-grünen Lager eine soziale Basis für die Fortsetzung der Umverteilung von unten nach oben gibt. Die Empörung über die »Deradikalisierung der Sozialdemokratie« (A. Merkel) ist verständlich, aber für die politische Strategie und Taktik einer linkssozialistischen Partei keine ausreichende Grundlage. Die Verlierer einer rot-grünen Koalitionspolitik kann nur eine linke Partei gewinnen, die den Prozess der Kultur der Selbständigkeit versteht, der unter den Lohnabhängigen zur radikalen Auflösung der bisherigen Formen von Solidarität führt. Politische Apathie und unzufriedene Demokraten können leicht in das politische Fahrwasser von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus gezogen werden. Es gilt z.B. zu verstehen, weshalb Teile der Lohnabhängigen (als Teile der »neuen Mitte«) die Senkung der Lohnnebenkosten und die Entsolidarisierung als Vorteil für die materielle Lage ansehen. Die Formel vom Klassenverrat war immer eine Selbsttäuschung und eine miserable Grundlage für politische Operationen. In der Tat ist die PDS vor ihrem Cottbuser Parteitag mit ernsten Problemen konfrontiert. Ihre Formel – »wir sind dabei, sie zu lösen« – ist ohne nähere Bestimmung. Bislang hatte der Wähler der linkssozialistischen Partei immer die Zeit eingeräumt, sich aus den Schwierigkeiten herauszuarbeiten. Andere sehen schon das zwangsläufige Ende der PDS. Für Sozialisten stellt sich das Problem aber anders: Werden die genannten Probleme nicht in der PDS gelöst, dann tauchen sie als Schlüsselfragen an jedem anderen Punkt der gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzung wieder auf. Die Frage, wer die Verlierer gewinnt, ist noch nicht entschieden.

Die PDS ist dafür nach wie vor eine Chance – was ja doch auch schon etwas ist.

Joachim Bischoff ist Redakteur von Sozialismus;
Hasko Hüning ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin.

Zurück