25. April 2011 Joachim Bischoff, Hasko Hüning, Bernhard Müller, Björn Radke, Bernhard Sander

Wo wir stehen und wie es weitergehen kann

Zur Strategie der Partei DIE LINKE

DIE LINKE hat an politischem Terrain verloren. Die unbefriedigenden Ergebnisse der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ordnen sich in eine bundesweite Tendenz der Schwächung ein. Seit dem sehr guten Bundestagswahlergebnis von 11,9% in 2009 ist ein Rückgang der politischen Verankerung zu verzeichnen. In aktuellen Meinungsumfragen pendeln die Werte für DIE LINKE bundesweit um 7% und 8%. Besonders kritisch für die innerparteiliche Entwicklung ist, dass sie in den alten Bundesländern nur knapp um die 5% der Wählerinnen und Wähler erreicht. Der politische Höhenflug nach dem Zusammenschluss von PDS und WASG ist vorbei, die Verankerung im Westen bleibt fragil.

Hinzu kommt: Die Welt um DIE LINKE herum verändert sich in geradezu atemberaubendem Tempo. Während in Deutschland zumindest in der medialen Öffentlichkeit der Eindruck vorherrscht, als sei die Jahrhundertkrise durch einen kräftigen wirtschaftlichen Aufschwung überwunden, verdichten sich in anderen Teilen Europas ökonomische, arbeitsmarkt- und fiskalpolitische Krisenprozesse – verschärft durch ein rigides Austeritätsregime sowie das Anwachsen rechtspopulistischer Parteien. Die arabische Welt befindet sich in einem weitreichenden Umbruch – inklusive eines Angriffskrieges auf Libyen. In Japan hat der atomare GAU von Fukushima die Umwelt- und Energiepolitik noch eindringlicher auf die globale Tagesordnung gesetzt.

DIE LINKE steht vor der Herausforderung, sich der Verschiebungen in der politischen Tektonik national, europäisch und international bewusst zu werden. Im Rahmen einer selbstkritischen Analyse muss sie sich über Korrekturen und Weiterentwicklungen ihrer Strategie verständigen. Der langwierige Zerfall der Ideologie des Neoliberalismus, konzentriert im Niedergang der Freidemokraten, sowie der Aufstieg der Grünen zu einer neuen Partei der gesellschaftlichen Mitte und die vor allem in den europäischen Nachbarländern erfolgreiche Neuformierung rechtspopulistischer Parteien müssen für die bundesdeutsche Linkspartei hinreichender Anlass für eine Überprüfung ihres politischen Selbstverständnisses sein.[1]

Nach anfänglicher Zögerlichkeit und der Fokussierung der Medien auf eine einengende Personaldiskussion ist mittlerweile ein Diskussionsprozess in Gang gekommen: Es melden sich – auch aus den ostdeutschen Bundesländern – FunktionsträgerInnen zu Wort und fordern, »dass wir neue Akzente setzen müssen und eine offene, solidarische und kritische Strategiedebatte brauchen«. Zu Recht unterstreicht auch einer der Parteivorsitzenden, Klaus Ernst, die Aufgabe, den Platz der LINKEN neu zu bestimmen. Die Redaktion der Zeitschrift prager frühling spitzt eine verbreitete Stimmung auf die These zu: »Wir sind Zeugen einer im Werden begriffenen grünen Hegemonie… Gegen dieses Netzwerk wird keine andere gesellschaftspolitische Orientierung mehr durchsetzbar sein, jede Politik (selbst die konservative) wird zumindest auf die passive Duldung durch das grüne Milieu angewiesen sein.«[2]


»Grüne Hegemonie«?

Befinden wir uns in einem Prozess der Herausbildung einer Hegemonie der grünen Partei? Vom politischen Feld her gesehen scheint dies nahezuliegen. Die erhöhte Wahlbeteiligung zeigt, dass der Prozess der »Demokratieentleerung« Ende März zumindest regional und temporär aufgebrochen ist. Die breite Mobilisierung gegen Stuttgart 21 hat zu einer Repolitisierung geführt und die Entfremdung und Verselbständigung des politischen Systems partiell aufgebrochen. Hinzu kommt, dass die deutsche Innenpolitik aktuell stark unter dem Eindruck der atomaren Katastrophe in Japan steht. Allerdings weist selbst Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach zu Recht darauf hin, dass dies nicht der alleinige Grund für den Grünen-Hype ist: »Seit Fukushima ist die Unterstützung für die Grünen erneut auf über 20% angestiegen – aktuell liegen sie bei 23% –, die für die CDU auf knapp 32% abgesackt. Nur ein Teil dieser Entwicklung hat sich unmittelbar nach Fukushima vollzogen. Der Machtverlust der CDU in Baden-Württemberg und der spektakuläre Erfolg der Grünen verstellen teilweise den Blick darauf, dass sich die CDU in Baden-Württemberg bereits seit Herbst 2010 in der engen Bandbreite zwischen 38 und 41% bewegte, die Grünen zwischen 20 und 29%. Fukushima hat letztlich nur die allerdings wahlentscheidende Verschiebung von zwei bis drei Prozentpunkten beeinflusst.«[3]

Die in den Monaten davor von der schwarz-gelben Bundesregierung mit massiver Unterstützung der rechtskonservativen CDU in Baden-Württemberg durchgekämpfte Verlängerung der Laufzeit der Atomkraftwerke – verbunden mit massiven Konkurrenzvorteilen der großen Energiekonzerne zulasten der vielen kommunalen Stadtwerke – hat sich für das bürgerliche Lager als formidable Fehlentscheidung erwiesen. Die schnellen Kurskorrekturen von Union und FDP werden von Teilen der Wählerschaft als politische Manöver gewertet, während die Grünen eine massive politische Stärkung erfahren.

Der Hegemoniezerfall des bürgerlichen Lagers drückt mehr aus als nur einen Schwenk in der Energiepolitik. Die FDP, die bei der Bundestagswahl noch ein Ergebnis von 14,6% erreichte, hat seither rund 80% ihrer WählerInnen verloren. Sie war der eigentliche Hort des organisierten Neoliberalismus in der Berliner Republik. Diese Partei der Besserverdienenden und Vermögenden hat sich unnachgiebig für die Bereicherung der besitzenden Klassen eingesetzt und mit diesem Kurs ihr politisches Schicksal verknüpft. Über Jahre wurde das Programm des Liberalismus auf die Steuerfrage geschrumpft. Es war nur eine Frage der Zeit, bis als Folge der großen Finanz- und Wirtschaftskrise die Zukunftslosigkeit dieses programmatisch-ideologischen Fundaments offenbar wurde.

Noch vor der FDP-Klientel weisen die WählerInnen der Grünen das höchste Haushaltseinkommen auf, grenzen sich aber von den zunehmend autoritären und einseitig auf Bereicherung bedachten Mentalitäten in den vermögenden Ständen des konservativ-neoliberalen Lagers ab. Das Zukunftsprojekt der Grünen ist der sozial-ökologische Umbau der Gesellschaft, wobei die soziale Komponente – etwa bei der Bekämpfung von sozialer Spaltung und gesellschaftlicher Ungleichheit – wesentlich zurückhaltender betont wird. Größeres Gewicht wird auf die Sanierung der öffentlichen Finanzen gelegt. Der aktuelle Aufstieg der ökologischen Partei hat neben den dramatischen Ereignissen in Japan allerdings auch etwas mit der relativen Entkrampfung in den realwirtschaftlichen Strukturen in Deutschland zu tun. Die Jahrhundertkrise scheint überwunden und im Alltagsbewusstsein großer Bevölkerungsteile in den Hintergrund gedrängt zu sein.

Die These, die grüne Partei und deren WählerInnen seien als »Erben der verschlissenen bürgerlichen Parteien«[4] zu betrachten, die wieder einmal die »letzte Hoffnung« des Kapitalismus verkörpern, trifft die gesellschaftliche Problematik nur sehr eingeschränkt. Die Entwicklung der Grünen ist eine besondere Ausdrucksform der Verschiebung der Tektonik des politischen Feldes: Zerfall der Hegemonie des bürgerlichen Lagers und anhaltende Krise der Sozialdemokratie. Im Unterschied zur SPD ist es dem grünen Leitungspersonal relativ leicht gefallen, den eigenen Anteil an der Deregulierungs- und Steuersenkungspolitik vergangener Jahre zu verwischen. Die Politik der rot-grünen Koalition war zudem entscheidend verantwortlich für den Übergang zu einer finanzgetriebenen Kapitalakkumulation.

Die tektonischen Verwerfungen im politischen Feld drücken auch Verschiebungen im ökonomischen Unterbau aus. Hinsichtlich der Einkommensverteilung wird die gesellschaftliche Mitte ausgedünnt und die Zahl der von Prekarisierung und Verarmung erfassten oder bedrohten BürgerInnen steigt. Anders als die neoliberalen Vordenker einer individualisierten, kapitalbasierten sozialen Vorsorge meinten, halten die Menschen an den Errungenschaften kollektiver Sicherheit durch sozialversicherungsrechtliche Umverteilungssysteme fest. Allerdings hinterlassen Sozialabbau und Deregulierung nachhaltige Spuren: Die Menschen wurden und werden in Verfahren hineingezwungen, in denen ihnen ihre eigenen sozialen Verhältnisse entgleiten. Der Verdruss darüber schlägt sich – wie wir in den europäischen Nachbarstaaten sehen – in zunehmend ausgrenzender Sozialstaatlichkeit und wachsenden Ressentiments gegenüber ethnischen, sozialen und kulturellen Minderheiten nieder. Die Stärkung rechtspopulistischer Strömungen ist die Folge. So kommt es zu dem auf den ersten Blick paradoxen Zusammentreffen einer Delegitimierung von Systemversprechen des Kapitalismus und einer Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse in Europa nach Rechts mit zunehmender Aufladung antizivilisatorischer Ressentiments.

Dagegen kann die sozialistisch-kommunistische Linke trotz immer offensichtlicher werdenden Mängeln und Krisen der kapitalistischen Gesellschaftsformation ihren politischen Einfluss nicht erweitern und ist in größeren Teilen Europas marginalisiert. Das hat zahlreiche Ursachen – von der Prekarisierung und Fragmentierung ihrer sozialen Basis über die Schwierigkeiten, gemeinsame Verständigungsprozesse über die Große Krise zu entwickeln, bis hin zum Unvermögen, programmatische Erneuerung zu organisieren.

Die Grünen haben die Chance erhalten, ihren enorm gewachsenen Einfluss in den nächsten Wahlen und bei Regierungsbildungen zu verteidigen. Zusammen mit der Sozialdemokratie haben sie für absehbare Zeit eine ausreichende gesellschaftlich-politische Mehrheitsperspektive, die Linkspartei wird für Mehrheiten jenseits des Bürgerblocks nicht mehr gefragt. Unbestritten ist auch: Ein Politikwechsel unter Beteiligung der Linkspartei würde anders aussehen als die Politik von Grün-Rot.

Gegenüber der wenig stichhaltigen These von einer Hegemonie der Grünen wollen wir unterstreichen:

1. Bei aller Stärkung der Grünen – zu einer Volkspartei, die alle gesellschaftlichen Schichten ansprechen und einbinden kann, werden sie nicht. Zur Erneuerung der Berliner Republik braucht auch eine starke grüne Partei einen Bündnispartner. Die Grünen könnten als treibende politische Kraft einer ökologischen Modernisierung der bürgerlichen Gesellschaftsformation sicherlich Geschichte schreiben, doch damit sind die tiefgreifende soziale Spaltung der Gesellschaft, die Entdemokratisierung und Gefährdung der europäischen Konstruktion sowie die krisenhaften Strukturverschiebungen in der Globalökonomie nicht aufgehoben.

2. Wir sehen die reelle Chance, dass die Grünen durch direkte Regierungsbeteiligung oder indirekten gesellschaftlichen Druck einen ökologischen Umbau der kapitalistischen Produktionsstrukturen voranbringen. Allerdings teilen wir nicht die Vorstellung, dass ein solches Innovations- und Reformprogramm einen vergleichbaren Charakter haben kann wie der New Deal der 1930er Jahre, aus dem eine langjährige Pros­peritätskonstellation samt Umwälzung der gesamten Lebensweise – und damit eine neue soziale und kulturelle Basis für Hegemonie – hervorging.


Green New Deal

Das »German miracle«, d.h. der massive Erholungsprozess vom Tiefpunkt der Jahrhundertkrise, wird an immanente Schranken stoßen, wenn sich die ungelösten Verteilungsprobleme wieder zuspitzen bzw. wenn sich die Widersprüche in den Konzepten des Green New Deal nicht bändigen lassen. Die Grünen stehen also vor großen Herausforderungen:

  • Die Energiewende konfrontiert auch die Grünen mit der kapitalistischen Verfasstheit der Energiemärkte. Wie das Bundeskartellamt erst kürzlich feststellte, ist der dauerhafte Ausstieg aus der Atomindustrie zu begrüßen, da er das Oligopol lockern könne, in dem vier Konzerne über 80% der Erzeugungskapazität disponieren. In der Tat geht es auch um die Frage: »Ist ein ökologischer Umbau notwendig mit anderen, demokratischen Eigentumsverhältnissen verbunden oder im Gegenteil mit einer Konsolidierung eines ökologischen Mittelstandes?«[5] Es geht um Investitionen in weitere, an sich wenig profitable Überlandnetze und deren intelligente Steuerung sowie um Speicherungs- und Spitzenlast-Kapazitäten zur Bewältigung witterungsbedingter Erzeugungsschwankungen. Eine Energiewende wird sich nicht nur an der Frage der Re-Kommunalisierung und Dezentralisierung messen lassen, sondern auch daran, ob sie zu einer sozialen Frage wird (Energiepreise für die Haushalte, Umwälzung auf die Miethöhe usw.).
  • Die massive Außer-Wert-Setzung von Arbeitskräften und die Herabdrückung der Sozialeinkommen auf das Existenzminimum einer Grundsicherung zerrütteten die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften und förderten die schnelle Ausdehnung und Vertiefung eines Niedriglohnsektors. Die Grünen schufen die gesetzlichen Grundlagen hierfür ebenso mit wie für die Deregulierung der Finanzmärkte. Die besser verdienenden Schichten, vor allem in den Aufstiegsmilieus, die durch sozialdemokratische Bildungsreform und Ausweitung der sozialen Dienste entstanden sind, haben von den Realtransfers des Sozialstaates stark profitiert. Sie nutz(t)en sowohl die Realtransfers (Bildung, Gesundheitsdienste, Einkommenstransfers usw.), sind aber immer weniger bereit, die Umverteilungsbelastungen zugunsten der Nichterwerbstätigen zu tragen, die infolge der Massenarbeitslosigkeit, Stagnation der Reallöhne und Altersarmut auf sie zukommen. In diesem Milieu höherer Einkommen hat das Deutungsangebot, ein Schwenk zu kapitalbasierter privater Vorsorge sei dem lohnbasierten Umverteilungssystem der Sozialversicherung überlegen, seine eigentliche soziale Basis. Mit der Verankerung der so genannten Schuldenbremse und der Verhinderung von Steuererhöhungen für die bessergestellten sozialen Klassen und Schichten wird hingegen das Sozialstaatsprinzip faktisch außer Kraft gesetzt. Die Agenturen der unregulierten Finanzmärkte gieren weiterhin nach wachsender Teilhabe am Volkseinkommen. Es sollte zu denken geben, dass die Grünen gerade in einer Zeit zum Hoffnungsträger geworden sind, in der trotz des Niedergangs der FDP durchgesetzt werden konnte, einerseits den Hartz IV-Regelsatz um nur lächerliche Beträge zu erhöhen und andererseits bei der Arbeitsmarktförderung so massiv zu kürzen, dass es zu weiterer Verarmung kommt.
  • Die Hoffnungen auf einen Green New Deal bei Teilen der besser gestellten Lohnabhängigen richten sich auch auf die Schaffung attraktiver Arbeitsplätze. Mit dem New Deal der USA war vor 80 Jahren zu Beginn eine schrittweise Wiedereinbeziehung der arbeitslosen Massen in den Gesamtreproduktionsprozess durch öffentliche Arbeiten und große Infrastrukturprojekte gelungen. Hier bietet der Green New Deal vorläufig nichts als die Hoffnung auf die Selbstheilungskräfte des (Binnen-)Marktes, in dem vorwiegend mittelständische Unternehmer die Chancen des ökologischen Umbaus wahrnehmen und sich Exporterfolge durch technologischen Vorsprung einstellen. Die Hoffungen auf mehr Autonomie und Selbstorganisation, die an die Modernisierung der Energiewirtschaft geknüpft werden, können sich unter dem Diktat der Shareholder-Interessen nicht entfalten. Die mit dem historischen New Deal verknüpften Zwangsanleihen der vermögenden Klassen und die Stauchung der Einkommensschere von oben her, stehen nicht auf der Agenda der Grünen. Die Folge dürfte sein, dass das Volumen zum Anschub des Green New Deal relativ bescheiden ausfallen wird – dies vor dem Hintergrund des erforderlichen Ersatzes der bislang in AKWs gebundenen Investitionssummen.
  • Schließlich verbinden sich mit der Option für die Grünen große Erwartungen im Hinblick auf Demokratisierung. Doch bereits der Umgang mit einer Volksabstimmung zum Bahnhofsprojekt in Stuttgart deckt heftige Spannungen auf.

Erste Ansätze einer Repolitisierung anlässlich dieser sozialen Konfliktherde signalisieren noch keine generelle Umkehr von Demokratieentleerung und politischer Passivierung, aber sie kommen zunächst einmal den Grünen zugute. Ihnen gelingt es in der Opposition im Bund am besten, »den klassischen Politikbetrieb und den Protest dagegen zu verbinden – und auf diese Weise sowohl vom Parteienstaat als auch vom Zorn auf diesen Staat zu profitieren«.[6] Seit über einem Jahrzehnt ist die soziale Basis der Grünen geprägt von hohen Bildungsabschlüssen und Einkommenspositionen. »Heute liegt der Anteil grüner Unterstützer unter den Beamten bei 20% und bei Selbständigen und Angestellten bei immerhin 18%. Bei Rentnern, sonstigen Nichterwerbstätigen und Arbeitern fanden die Grünen dagegen zu keinem Zeitpunkt besondere Unterstützung. Bei Arbeitslosen ist der Anteil grüner Parteibindungen sogar in den letzten Jahrzehnten rückläufig.«[7] Die Grünen sind die Partei der »umweltbewussten, gut gebildeten, gut verdienenden Beamten und Selbständigen mittleren Alters in Großstädten«.[8]

Für DIE LINKE kann es nicht darum gehen, den Grünen die politische Ökologie als Thema abnehmen zu wollen. DIE LINKE sollte sich dafür engagieren, ein dialogorientiertes Verhältnis zu den sozialen Bewegungen und Aktivisten aufzubauen, die sich jetzt wieder verstärkt auf die Grünen beziehen. Aber nicht in dem Sinne, neben die linkspopulistische Mobilisierung des »Unmuts der Exkludierten und Enttäuschten gegen die da oben«[9] nun auch noch auf die Mobilisierung einer weiteren Klientelgruppe zu setzen. Es geht auch nicht darum, »dieses Massenbewusstsein in eine wirkliche und rebellische Abkehr von kapitalistischen Illusionen (in die Zukunftsfähigkeit und Modernisierungsmöglichkeit des Kapitalismus) zu verwandeln«,[10] sondern um die Formierung von Politik als Trägerin sozialer Synthesis.

Der in vielen und auch kontroversen Positionen, die in der entfachten Strategiedebatte der LINKEN zu vernehmen sind, unterstellte Aufschwung des Kapitalismus über eine mittelfristige Periode und damit eine längerfristige Stabilität der grünen Formation ist weder empirisch noch theoretisch begründet. DIE LINKE sollte ihre Aufmerksamkeit weiterhin auf die Unsicherheitsfaktoren richten, die vor allem aus den fehlenden Regulierungen der Finanzmärkte und den überbordenden Vermögensansprüchen resultieren. Die Linkspartei kann selbstbewusst den sozial-ökologischen Umbau – auch durch eigene Vorschläge und Projekte – unterstützen; ihr eigentliches Terrain bleibt die Ausweitung des grundlegenden Politikwechsels auf die Aufhebung der gesellschaftlichen Verwerfungen im Innern der Gesellschaft wie in der europäischen Konstruktion.

DIE LINKE und die Umwälzungen in der Energiepolitik

Das Energiekonzept der Bundesregierung basierte auf massiver Umverteilung zugunsten der Atomwirtschaft. Unter dieser Prämisse sollte auch der Bereich der erneuerbaren Energien strukturiert werden. Kompliziert wird das nun durch die tragischen Ereignisse der Kernschmelze in Japan. Die BürgerInnen in diesem Land erwarten mit Mehrheit (55%) eine Politik des sofortigen Ausstiegs aus der Atomtechnologie, immerhin 35% befürworten die Rückkehr zum rot-grünen Atom-Ausstiegskompromiss.

DIE LINKE muss dagegen deutlich machen, dass nach dem Willen von Schwarz-Gelb der bestimmende Einfluss der Stromkonzerne verlängert wird. Das »Grüne« an einem New Deal ist für sich noch kein Garant einer Zurückdrängung von Kapitaldominanz, denn bei allen Neuinvestitionen soll die Atomwirtschaft mit im Boot sitzen. Das ist nicht akzeptabel. DIE LINKE muss darüber aufklären, dass eine energiepolitische Wende nur zu haben ist, wenn

  • die Bürgerinnen und Bürger ihre demokratische Gestaltungsmacht wiedergewinnen und die Energieversorgung als öffentliches Gut erneut zum Bestandteil öffentlicher Daseinsvorsorge wird;
  • die Stromübertragungsnetze an die öffentliche Hand überführt, Konzessionsverträge mit privaten Netzbetreibern für Verteilnetze beendet werden;
  • durch eine Reform der Kommunalfinanzierung Städte und Gemeinden in die Lage versetzt werden, Beteiligungen von Stadtwerken an den Energiekonzernen zurückkaufen zu können;
  • das Gemeindewirtschaftsrecht von bestehenden Beschränkungen befreit wird, damit die Kommunen endlich wieder am Gemeinwohl – und nicht am Profit – orientiert wirtschaftlich gestalten können;
  • neue Formen öffentlichen Eigentums und der demokratischen Partizipation geschaffen werden, damit Stadtwerke transparent und im Sinne sozialer und ökologischer Ziele handeln; dabei sollte die Energieversorgung mit anderen Bereichen der Daseinsvorsorge, wie etwa Verkehr und Wohnungswirtschaft, im Interesse der Bürgerschaft gekoppelt werden;
  • als Lernprozess aus Stuttgart 21 Infrastrukturprojekte und ihre »Legitimation durch Planfeststellungsverfahren« in Zukunft nicht mehr im Rahmen eines bloßen Verwaltungsverfahrens verbleiben; Fachplanungsverfahren sind als politische Gestaltungsentscheidungen zu organisieren; die Kernfragen solcher Projekte müssen in einem demokratischen Willensbildungsprozess entschieden werden können, der die BürgerInnen nicht nur als Betroffene, sondern als Entscheider einbezieht.

Wer die stärkere Heranziehung der Besserverdienenden und Vermögenden zur Finanzierung des Gemeinwesens und damit auch eines Umstiegs der Energieversorgung verweigert, muss angesichts der desolaten öffentlichen Haushaltslage für einen harten Kürzungskurs votieren. Das war schon im Zeitalter der Kapitalknappheit unsozial, und ist in einer Krise des Überflusses völlig unangemessen. Oder wie John Maynard Keynes es ausdrückt: Die Weltwirtschaftskrise ist keine Armutskrise, sondern eine Krise des Überflusses. »Die Stimmen, die uns in einer solchen Situation sagen, dass der Ausweg in strengem Haushalten zu finden sei und dass man, wann immer möglich, darauf verzichten solle, die potenzielle Produktion der Welt zu nutzen, sind Stimmen von Dummköpfen und Verrückten.«[11]

In den letzten Jahren wurden gerade in Deutschland die finanziellen Ressourcen des Staates massiv abgebaut und damit seine Möglichkeiten, die Zukunft aktiv zu gestalten. Unverzichtbare öffentliche Aufgaben können ohne beständige und dauerhafte Schuldenaufnahme finanziert werden, wenn die Besserverdienenden und Vermögenden ihrer Leistungsfähigkeit entsprechend zu ihrer Finanzierung herangezogen werden.


Wirtschaftsdemokratie gegen die Illusion des »gemeinsamen Kuchens«

Die neoliberale Politik der radikalen Stärkung des Privateigentums als Antwort auf Wachstums- und Strukturprobleme der modernen kapitalistischen Staaten ist gescheitert. Statt einer neuen Dynamik in der Realakkumulation hat das nur zu einer beschleunigten Schuldenakkumulation geführt. Der Protest gegen die neoliberale Deformation des regulierten Kapitalismus kann in einem umfassenden Projekt der Demokratisierung der Wirtschaft gebündelt werden.

In einem solchen Projekt wären Akteure aus den Orten gesellschaftlicher Wertschöpfung (Stichwort Gewerkschaften), aus verschiedenen Bereichen der Zivilgesellschaft (soziale Bewegungen) und aus dem politischen Feld selbst einbezogen und können gegenseitige politische Lernprozesse gestärkt werden. Denn nach wie vor sind die hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften, wie Keynes nach dem Ersten Weltkrieg betonte, mit ihrer »reifen Ökonomie« durch eine doppelte Illusion beherrscht: »Einerseits begnügten sich die arbeitenden Klassen aus Unwissenheit oder Machtlosigkeit mit einer Lage, in der sie nur ein ganz kleines Stück des Kuchens ihr eigen nennen konnten, den sie, die Natur und die Kapitalisten zusammen herstellten. Oder sie ließen sich durch Gewohnheit, Übereinkunft, Autorität und die alt überlieferte Gesellschaftsordnung dazu bestimmen, überreden oder verlocken, sich damit zu begnügen. Auf der andern Seite durfte die Kapitalistenklasse den besten Teil des Kuchens ihr eigen nennen. Sie hatte theoretisch die Freiheit, ihn zu verzehren, unter der stillschweigenden Bedingung, dass sie in Wirklichkeit sehr wenig davon aufaß. Die Pflicht zu ›sparen‹ machte neun Zehntel aller Tugenden aus, und das Wachsen des Kuchens wurde der Gegenstand wahrer Religiosität.«[12]

Aber diese illusionären Strukturen des Kapitalismus sind in ihrer Wirksamkeit gerade für das Alltagsbewusstein von Lohnabhängigen von der Linken ernst zu nehmen und für einen Politikwechsel in Rechnung zu stellen. Nach wie vor produziert der Kapitalismus Individualität und Subjektivität, die – wenn auch sozial und geschlechtsspezifisch differenziert
–, den Lohnabhängigen persönliche Freiräume und Entwicklungsperspektiven ermöglichen und somit in Spannung zur Artikulation von Systemkritik und mehr sozialer Gerechtigkeit stehen. Insofern ist eine »Beschreibung des Kapitalismus« in der Tat »stark vereinfacht«, die nur darauf abhebt, dass »Lohnarbeit im Kapitalismus ein Enteignungsprozess ist« (Klaus Ernst).[13] Die Dynamik und Veränderung des Kapitalismus beruht auf dem Verkauf der Ware Arbeitskraft. Einerseits gestaltet sich dieser Verkauf nur dann sozial gerecht, wenn es starke Gewerkschaften gibt. Andererseits hängt an ihm aber auch eine ganze Welt von Illusionen.

Die kapitalistische Wirtschaftsordnung tendiert zur zunehmenden Konzentration des Vermögens in den Händen einer Minderheit und dazu, dass sich die Abwärtsspirale der Ökonomie schneller dreht. Demgegenüber würde eine Demokratisierung der Wirtschaft zu einem entschiedenen Politikwechsel, d.h. zu einer wesentlichen Verminderung der Massenarbeitslosigkeit und der Umweltgefährdung führen, bei gleichzeitiger Veränderung der Verteilungsverhältnisse und der Kontrolle der Finanzmärkte.

Der Vorschlag zur Demokratisierung der Wirtschaft und zur Ausdehnung des Feldes demokratischer Kämpfe auf die Zivilgesellschaft und den Staat ist sicherlich im herkömmlichen Sinn reformistisch, was aber nicht mehr mit den geborgten Kostümen und Symbolen linker Grabenkämpfe vergangener Zeiten stigmatisiert werden kann. Denn angesichts eines finanzmarktkapitalistisch deformierten Kapitalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts markiert eine wirksame gesellschaftliche Reformpolitik selbst schon einen radikalen Kurswechsel. Anders als bei den bisher praktizierten Ansätzen zur gesamtwirtschaftlichen Globalsteuerung muss Reformpolitik sowohl bei der Besteuerung wie auch bei der Ausweitung von öffentlichen Investitionen und des Massenkonsums mit einer langfristig angelegten Strukturpolitik, also mit einer Transformationsperspektive verknüpft sein. Es geht nicht um mehr Wirtschaftswachstum innerhalb der überlieferten Einkommens- und Konsumstrukturen, sondern um die Herausbildung einer sozial und ökologisch verträglicheren Arbeits- und Lebensweise.


Anforderungen an einen politischen Paradigmenwechsel

Mit diesem programmatischen Selbstverständnis ist ein strategisches Handlungskonzept verbunden, dem trotz der anhaltenden Großen Krise, eines massiven energiepolitischen Umbruchs, eines erneuten völkerrechtswidrigen Krieges und einer konflikthaften Zuspitzung um die Gestaltung der Europäischen Union im politischen Alltag erst noch Akzeptanz verschafft werden muss. Dazu ist erforderlich, dass sich unterhalb des professionellen politischen Feldes eine möglichst breite Sensibilität gegen die massive und sich verfestigende soziale Asymmetrie und Ausschließung quer durch alle unterschiedlich betroffenen Gruppen herausbildet. Nur dies befördert die Handlungsfähigkeit der betroffenen sozialen Akteure selbst und ihre Kompetenz, Übergangsforderungen zu einem Politikwechsel hin zu einer solidarischen Ökonomie zu bündeln und zunächst unabhängig von den parteipolitischen Positionierungen einzufordern. Angesichts möglicher politischer Rochaden von Schwarz-Grün oder Rot-Grün wird sich die Zukunftsfähigkeit der LINKEN mit daran entscheiden, ob und wie es ihr gelingt, gegenüber einer kurzfristigen ökonomischen Erholung sensibel für die tieferliegenden sozialen Ungerechtigkeiten zu bleiben, sich von diesem Protestpotenzial für die eigene politische Arbeit inspirieren zu lassen und so die politische Repräsentanz von Lohnarbeit, Prekarisierung und Ausgrenzung zugleich – unabdingbarer Bestandteil einer zivilgesellschaftlich verankerten und zugleich politikfähigen Mosaik-Linken – zu befördern. Und dies mit dem Ziel, dass die Subjekte den lebens­praktischen Anspruch auf Kontrolle ihrer Reproduktionsbedingungen und auf die Gestaltung ihrer persönlichen Lebensverhältnisse nicht nur artikulieren, sondern auch Schritt für Schritt durchsetzen können.

Die kapitalistische Gesellschaftsformation hat – in den Hauptländern – die materiellen Bedingungen einer entwickelteren Produktionsform geschaffen. Entweder dominiert in der nächsten Zeit eine wachsende Verstrickung in die Widersprüche der chronischen Überakkumulation oder es wird ein Entwicklungspfad in Richtung einer gesellschaftlich gesteuerten und kontrollierten Ökonomie eröffnet. Die kritischen Potenziale der Zivilgesellschaft und die politische Linke müssen angesichts der nach wie vor dominierenden Vorherrschaft der Finanzmärkte Vorschläge zur Reorganisation sozialer Sicherheit und eines Übergangs zur Überflussgesellschaft entwickeln. Da wir in einer Phase der irrationalen Verwendung des Surplus stecken – leistungslose Ansprüche an das Wertprodukt zur Verwertung des eingesetzten Kapitals – gilt es, einen rationellen Umgang mit dem Surplus einzuleiten, d.h. einen nicht zerstörerischen Umgang mit den natürlichen Ressourcen und mit den kreativen subjektiven Potenzialen der arbeitenden Frauen und Männer.

Die Alternative zum finanzmarktgetriebenen Kapitalismus läuft also nicht einfach nur auf die gesellschaftliche Kontrolle des Banken- und Finanzsystems hinaus, sondern unterstellt einen weitreichenden Prozess gesellschaftlicher Reformen von der sozialen Sicherheit bis hin zur Steuer- und Vermögenspolitik. Mit einer solchen Positionierung könnte es gelingen, die Grünen und die Sozialdemokratie zu stellen, der Forderung nach einem Politikwechsel eine eigenständige Kontur zu geben und den Bürgerinnen und Bürgern die Notwendigkeit eines Korrektivs von Seiten der Partei DIE LINKE plausibel zu machen. Darin besteht die strategische Herausforderung nicht nur der nächsten Zeit.

Die Autoren sind innerhalb verschiedener Landesverbände der Partei DIE LINKE aktiv.

[1] Dass diese Herausforderung für die sozialistische Linke in ganz Europa gilt, soll hier nur angemerkt werden.
[2] prager-frühling-Redaktion: Die grüne Herausforderung: Für eine öko-soziale Paradoxie. Überlegungen zur Strategiedebatte in der LINKEN
(www.prager-fruehling-magazin.de/article/659.die-gruene-herausforderung-fuer-eine-oeko-soziale-paradoxie.html), siehe auch die erweiterte Fassung in diesem Heft, Seite 11-15.
[3] Renate Köcher, Eine atemberaubende Wende, in: FAZ vom 20.4.2011, S. 5.
[4] Antikapitalistische Linke NRW: Nach den Wahlen von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, www.antikapitalistische-linke.de/article/355.html
[5] prager-frühling-Redaktion, a.a.O.
[6] Heribert Prantl, Die Grünen sind die neue CDU, in: Süddeutsche Zeitung vom 26.11.2010.
[7] Martin Kroh/Jürgen Schupp, Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei, in: DIW-Wochenbericht 12/2011, S. 8.
[8] Ebd.
[9] prager-frühling-Redaktion, a.a.O.
[10] Antikapitalistische Linke NRW, a.a.O.
[11] Zitiert nach Robert Skidelsky, Die Rückkehr des Meisters. Keynes für das 21. Jahrhundert, München 2010, S. 127.
[12] John Maynard Keynes, Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles (1919), Berlin 2006, S. 52.
[13] Klaus Ernst, Für einen neuen sozial-ökologischen Gesellschaftsvertrag. Rede auf dem Hamburger Landesparteitag der Partei DIE LINKE am 16.4.2011 (http://www.klaus-ernst-mdb.de/fileadmin/klausernst/Downloads/Materialien_Die_Linke/20110414_RedeKlsErnLPTHH16042011%20ManuskVer%C3%B6ff.pdf).

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