26. September 2024 Frederic Speidel: Zur aktuellen Krise bei Volkswagen aus gewerkschaftspolitischer Sicht

Zäsur im mitbestimmten Unternehmen?

Volkswagen im September 2024 ist die Geschichte einer doppelten Zäsur: Den Auftakt machte der Konzernvorsitzende Oliver Blume zu Beginn des Monats, als er öffentlich erwog, der Auslastungskrise bei Volkswagen mit der Schließung eines Fahrzeug- und eines Komponentenwerks in Deutschland beizukommen. Nur wenige Tage später reichte Volkswagen die Kündigung von sechs Tarifverträgen ein, darunter die Kündigung des weit über die Unternehmensgrenzen ausstrahlenden »Tarifvertrags zur nachhaltigen Zukunfts- und Beschäftigungssicherung«.


1. Das »Volkswagen-Modell« auf Messers Schneide


Betriebsbedingte Kündigungen, die es in der Geschichte von Volkswagen noch nie gegeben hat, würden somit nach Ablauf der sechsmonatigen Nachwirkung des Tarifvertrags ab dem 1. Juli 2025 möglich sein.

Dieser beispiellose Tabubruch und Angriff auf die sozialen und tarifpolitischen Errungenschaften des zweitgrößten Automobilkonzerns der Welt mit 114 Produktionsstätten und über 680.000 Beschäftigten übertrifft die dunkelsten Prognosen bei weitem und hat – wenig überraschend – bei den Beschäftigten und im Betriebsrat von Volkswagen sowie der IG Metall Empörung und heftige Reaktionen ausgelöst. Daniela Cavallo, die Gesamt- und Konzernbetriebsratsvorsitzende von Volkswagen, stellte umgehend klar, dass es Standortschließungen mit ihr nicht geben und sie »bis zum Letzten dagegen« ankämpfen werde. Der Verhandlungsführer der IG Metall bei Volkswagen, Thorsten Gröger, gleichzeitig Bezirksleiter der IG Metall in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, bezeichnet den Angriff auf das Tarifwerk als »größte Zerreißprobe« für die Mitbestimmung bei Volkswagen in der Unternehmensgeschichte.

Beide Aussagen sind vor dem Hintergrund der Historie und gelebten Praxis des Unternehmens zu lesen: Denn waren die konjunkturellen wie strukturellen Krisen in der Vergangenheit noch so schwerwiegend, konnten in der über 80-jährigen Unternehmensgeschichte des Autobauers Werkschließungen und betriebsbedingte Kündigungen stets abgewendet werden. Verantwortlich dafür ist die zu einem frühen Zeitpunkt entwickelte Fähigkeit strategiefähiger Arbeitnehmervertretungen, gemeinsam mit dem Management verantwortungsbewusste, vorausschauende und immer auch innovative Wege der Krisenüberwindung einzuschlagen.

Hierfür steht die Bezeichnung der »kooperativen Konfliktbewältigung«. Diese beschreibt eine Variante der industriellen Beziehungen, bei der das Bemühen um praktische, sachorientierte Problemlösungen im Interesse des Unternehmens und der Beschäftigten eine fest etablierte Handlungsmaxime bildet. Die jüngste Zuspitzung kennt nur eine Lesart: Der Vorstand von Volkswagen hat die kooperative Konfliktbewältigung und die handlungsleitende Konstante, dass Wirtschaftlichkeit und Beschäftigungssicherung als gleichrangige Unternehmensziele zu behandeln sind, einseitig aufgekündigt.

Dr. Frederic Speidel ist Bezirkssekretär für Wirtschafts- und Strukturpolitik der IG Metall in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt.

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