1. April 2005 Klaus Meschkat

Zu einer weiteren Variante der Entsorgung von '68

Ein fehlendes Komma in einem Buchtitel[1] kann etwas bedeuten. Wenn Rudi Dutschke und Andreas Baader demonstrativ in einem Atemzug genannt werden, so wird damit nichts weniger als ein Programm zur Neuinterpretation der Zeitgeschichte bekanntgegeben: Seite an Seite stehen nun, wenigstens auf einem Buchumschlag, die Symbolgestalt der 68er-Bewegung und der Mit-Namensgeber einer Gruppe, die mit Banküberfällen, Entführungen und Morden einen politisch begründeten bewaffneten Kampf in der Bundesrepublik beginnen und vorantreiben wollte.

Die RAF erscheint nicht mehr in scharfer Trennung von der großen Emanzipationsbewegung der 1960er Jahre, sondern als deren geradlinige Fortsetzung.

Mit sicherem Gespür für das richtige Timing wurde der schmale Band des Hamburger Instituts für Sozialforschung gerade zum zeitlichen Beginn der viel beachteten Berliner RAF-Ausstellung auf den Büchermarkt geworfen. Auf den ersten Blick haben die drei in ihm versammelten Beiträge wenig miteinander zu tun: Wolfgang Kraushaar beschäftigt sich mit Dutschkes Verhältnis zum bewaffneten Kampf, Karin Wieland zeichnet ein Porträt von Andreas Baader und der Institutschef Jan Philipp Reemtsma stellt schließlich die übergreifende Frage: Was heißt "die Geschichte der RAF verstehen?" Beginnen wir mit diesem letzten Beitrag.

Reemtsma weiß zunächst einmal genau, wie man sich dem Verständnis der Geschichte der RAF auf keinen Fall nähern sollte: nämlich, indem man überlebende RAF-Mitglieder als Gesprächspartner bemüht und sich so in ihre Gedanken- und Gefühlswelt hineinversetzt. Horst-Eberhard Richter wird für einen solchen Versuch des Dialogs mit der früheren RAF-Angehörigen Birgit Hogefeld mit beißender Polemik bestraft, auch mit der Unterstellung, er übernehme billigend die menschenverachtende Terminologie seiner Partnerin und lasse es gleich ihr an Mitgefühl für die Opfer fehlen. Reemtsma entdeckt gewiss Schwächen in der Argumentation Richters, aber sein anklagender Ton gegen einen, der sich um ein besseres Verstehen bemüht, weckt unangenehme Erinnerungen an das Jahr 1977. Damals wurden Hochschullehrer von staatlichen Machtträgern schon allein dafür bedroht, gedemütigt oder sanktioniert, dass sie der Öffentlichkeit einen umstrittenen Artikel in einer Studentenzeitschrift in vollem Wortlaut zugänglich machten. Wer gar in einer Analyse nachvollzog und erklärte, wie sich ein Student von der "klammheimlichen Freude" über ein tödliches Attentat zu einer klaren Absage an den Terror durchrang, der wurde damals von seiner Universität gejagt und musste jahrelang um seine Wiedereinsetzung als Hochschullehrer kämpfen: so das Schicksal des Sozialpsychologen Peter Brückner in Hannover.

Reemtsma muss nicht mehr nach Wegen suchen, das Phänomen RAF zu deuten, er hat bereits alle Antworten. Er weiß: Die RAF kann nur verstehen, wer sie vollständig aus ihren Zeitbezügen herauslöst. Sie ist eine Gruppe, die ganz unabhängig von ihrer historischen Umwelt die Bedingungen ihres Handelns selbst schafft. Die RAF ist eine "attraktive Lebensform" zum Ausleben von Machtgelüsten. Solche Gruppen hat es immer wieder in der Geschichte gegeben, schon bei Dostojewski finden wir sie als "böse Geister" verewigt.

Soweit nun Jan Philipp Reemtsma die innere Logik der Entwicklung einer Gruppe aufdeckt, die selbstherrlich ein Recht zum Töten für sich in Anspruch nimmt, kann er tatsächlich einiges erklären. Der Weg zu Morden und Selbstmorden scheint vorgezeichnet. Und nicht nur die eskalierenden Gewalttaten, sondern auch die erschreckenden Zitate aus den Gefängniskassibern, die Reemtsma zusammenstellt, stellen eine abstoßende Brutalität zur Schau. Aber ist das wirklich alles? Wie ist denn zu erklären, dass sich bestimmte Menschen in einem bestimmten Moment der westdeutschen Nachkriegsgeschichte zu einer Terrorgruppe dieser Art zusammengeschlossen haben? Unter ihnen eine Frau, deren journalistische Arbeiten in den 1960er Jahren den Gedanken und Gefühlen vieler Menschen eine Sprache verliehen hatten, auch dem Mitleiden mit den Unterdrückten und Geschundenen? Könnte nicht irgendein Zusammenhang bestehen zwischen vorgängigen Exzessen staatlicher Gewaltausübung und der Gewaltbereitschaft der RAF-Gründer? Sehr konsequent vermeidet es Reemtsma, über die Zeit zu schreiben, in der die RAF in Erscheinung trat. Es geht ihm eher um das Verkünden überzeitlicher Weisheiten und Warnungen: "Manche Menschen sind gern gewalttätig, manche sind es nicht" oder: "Man versteht nichts von der Geschichte der RAF, wenn man nicht insbesondere die Gewaltlockung erkennt, die in der Idee eines nichtentfremdeten, authentischen Lebens liegt." Heißt das, jeder Wunsch nach einer anderen, besseren Ordnung, jede Vorstellung von der möglichen Abschaffung entfremdeter Arbeit ist schon verdächtig, weil Ambitionen auf tiefgehende Gesellschaftsveränderung zwangsläufig zur Gewalt führen? Gegen Ende seines Artikels lässt Reemtsma keinen Zweifel daran aufkommen, dass eben dies seine Überzeugung ist. Die tieferen Wurzeln der RAF sind in der Geisteshaltung von Individuen zu suchen, die "das bürgerliche Leben nicht aushalten, weil es sie überfordert." Der Druck der Differenziertheit und der Druck der Vereinzelung werden zu groß, deshalb suchen sie die solidarische Gemeinschaft – und finden sie am besten in einer Gruppe von der Art der RAF.

Aber eine solche Argumentation, die immer zur Standardausstattung konservativer Abwehr von "Systemveränderern" gehört hat, trifft augenscheinlich nicht nur Terrorgruppen. Implizit richtet sie sich auch gegen die große unbewaffnete Bewegung der 1960er Jahre, die in erster Linie gegen die imperialistische Gewaltausübung in Vietnam aufstand, dann aber auch gegen eine gesellschaftliche Ordnung, die solche Gewalt hervorbringt. Rudi Dutschke war eine Schlüsselfigur dieses Protests, und mit ihm beschäftigt sich der erste Beitrag von Wolfgang Kraushaar.

Die von Reemtsma als gewaltfördernd angeprangerte Denkweise verkörperte Rudi Dutschke auf geradezu exemplarische Weise. Solidarität war für ihn der bestimmende Grundwert, die Aufhebung von Entfremdung eine Zielvorstellung, an der sich auch die Realität des als real firmierenden Sozialismus zu messen hatte. Michaela Karl hat den Zusammenhang der politischen Ideen und strategischen Vorstellungen von Rudi Dutschke in einer großen Monographie (2003)[2] mustergültig dargestellt. Kraushaar greift aber Rudi Dutschke nicht wegen seines utopischen Denkens an. Vielmehr macht er Anstrengungen, das Opfer eines Mordanschlags direkt in die Nähe des aktiven Terrorismus zu rücken: einmal als dessen Vordenker, dann aber auch, weil Dutschke selbst schon in terroristische Aktivitäten verwickelt gewesen sei oder sie heimlich geplant habe.

Mit der Beweisführung ist es nicht weit her. Der angebliche Vordenker soll mit dem bloßen Erstgebrauch von Wörtern überführt werden: Dutschke habe schon 1966 von Stadtguerilla gesprochen, d.h. noch vor dem berühmt-berüchtigten Handbuch der Stadtguerilla des Carlos Marighela! Nur schade, dass Kraushaar selbst bereits 1987 in einer lesenswerten Studie zeigte, dass "Stadtguerilla" im Organisationskonzept von Rudi Dutschke etwas vollkommen anderes hieß als die Anleitung zum Waffengebrauch im städtischen Kampf gegen die blutige Militärdiktatur in Brasilien. Zitat Kraushaar: "Dennoch wäre es verfehlt, hier im nachhinein von einer intellektuellen Vorwegnahme der Roten Armee Fraktion (RAF) zu sprechen. Nicht nur, weil es in einem konkret historischen Sinn falsch wäre, sondern auch, weil es zwischen dem Aufruf vom Herbst 1967 und der Praxis der RAF eine unübersehbare qualitative Differenz gibt. Stadtguerilla wird von Dutschke und Krahl noch als Element einer Bewusstseinsstrategie definiert. Der Stellenwert der Militanz ergibt sich aus ihrer propagandistischen Funktion, nicht umgekehrt."[3]

Wenn Kraushaar detailliert berichtet, wie Rudi Dutschke einmal Sprengstoff transportierte, so stammen seine "Enthüllungen" aus längst veröffentlichten Büchern von Dutschkes Witwe Gretchen und dessen alten Freundes Bahman Nirumand. Der Sprengstoff ist nicht zum Einsatz gekommen – vermutlich deshalb, weil die Gefahr nicht ausgeschlossen werden konnte, die Grenze zwischen der Gewalt gegen Sachen und der Gewalt gegen Menschen zu überschreiten. Leichtfertig hat Rudi Dutschke damals gewiss gehandelt, aber das vor allem im Hinblick auf die Herkunft des Sprengstoffs: Dieser stammte nämlich von einem eingeschleusten Spitzel des Verfassungsschutzes namens Peter Urbach. Der Staat selbst hatte Waffen geliefert, um Teile der außerparlamentarischen Opposition auf neue Bahnen zu lenken und sie dann im Anschluss zu kriminalisieren. Die hierfür verantwortlichen Beamten sind nie zur Rechenschaft gezogen worden.

Damit kommen wir zu dem Gewalt-Klima im damaligen Westberlin, das Kraushaar ebenso vernachlässigt wie den internationalen Zusammenhang: Rudi Dutschke und seine Freunde hatten diese Frontstadt des Kalten Krieges tatsächlich zu einem Zentrum europäischer Proteste gegen den barbarischen Vietnamkrieg der USA gemacht. Auf den großen Vietnam-Kongress im Februar 1968 folgte eine von der Stadtobrigkeit geförderte Kundgebung der "wohlmeinenden Berliner" gegen die protestierenden Studenten. Ein junger Mann wurde dort um ein Haar gelyncht, weil er Rudi Dutschke ähnelte. An einen Schutz der bedrohten APO-Führer durch staatliche Instanzen war damals nicht zu denken. Ist es da verwunderlich, dass Rudi in seinen Aufzeichnungen Gedanken über eine parallele illegale Organisation zu Papier brachte? Wenn solche Dokumente aus dem unveröffentlichten Nachlass zum ersten Mal veröffentlicht werden: Wäre es nicht die Pflicht eines gewissenhaften Zeithistorikers, dem Leser zu erklären, in welchem Kontext sie entstanden sind? Unangenehm ist in dem ganzen Beitrag von Kraushaar der Gestus der Enthüllung, des überfälligen Sturzes eines Säulenheiligen, mit Andeutungen, da sei bei weiterem Stöbern im Archiv womöglich noch mehr zu erwarten. Der Bedeutungswandel von Wörtern wird vernachlässigt: Nennt Kraushaar Dutschke plakativ den "Begründer der Stadtguerilla in Deutschland", so denkt natürlich jeder an die Stadtguerilla der RAF und ihre mörderische Praxis, und wenn er gezeigt haben will, wie nahe Dutschke dem Projekt des bewaffneten Kampfes bereits vor 1968 gekommen war, dann heißt das "Projekt" natürlich die RAF. Und dieser Effekt ist mit dem Bändchen wohl in erster Linie beabsichtigt – es hilft dann nicht viel, dass Kraushaar wahrheitsgemäß mitteilt, Dutschke sei später ein politischer Gegner der RAF und des Terrorismus gewesen.

Bleibt noch der mittlere Beitrag in dem schmalen Band nachzutragen: Hinter einem kleinen Buchstaben "a." im Aufsatztitel verbirgt sich die Unterschrift Andreas Baaders unter seine Gefängnistexte. Wie man Baader als "deutschen Dandy" sehen kann, hatte Karin Wieland schon in einem "Kursbuch"-Artikel vor acht Jahren vorgeführt, damals in einer ziemlich provozierenden Reihung mit Walter Rathenau und Alfred Herrhausen, die als zwei andere Spielarten des Dandys in Deutschland vorgestellt wurden. Was ihr damals an süffisanten Formulierungen gelungen war, übernimmt sie nun absatzweise wörtlich. Leider aber geht sie über diese bloße Abschrift noch hinaus und wagt sich an eine wertende Beschreibung der Westberliner Studentenrebellion der 1960er Jahre, von der sich Baader angezogen gefühlt habe. Da sie hartnäckig alle politischen Konflikte ausklammert, die Ursache der Protestbewegung waren und in ihr zum Ausdruck kamen, erscheinen die Studenten als frivole Unruhestifter, denen der Sinn nach Sensation und Revolution stand – ein psychologisches, nicht ein politisches Problem für eine Stadt und ein Land, mit deren Zustand man recht zufrieden sein konnte, zumal die Große Koalition gerade dabei war, die ökonomische Krise erfolgreich zu überwinden. Das gerät in die Nähe des Studenten-Bildes der zeitgenössischen Springer-Presse und ist an Oberflächlichkeit kaum zu überbieten. Seltsam, denn der überheblich zur Schau gestellten Ignoranz wäre doch leicht abzuhelfen gewesen, wenn Frau Wieland einmal einen Blick in die Protestchroniken des gewiss unverdächtigen Kollegen Wolfgang Kraushaar geworfen hätte. Denen kann der Nicht-Zeitgenosse immerhin entnehmen, worum damals eigentlich gestritten wurde. Von Karin Wieland wird er es nicht erfahren.

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